Was bleibt von der 65. Berlinale? Bei mir zuletzt ein Haufen Papier. Er stammt aus dem Keller des Berlinale-Palastes. Hier warteten Informationen über die gezeigten Filme, Filmzeitschriften, aber auch nützliche Informationen über diverse Kinematografien wie das »Hungarian Film Magazine«, »The Chinese Film Market« oder »The Arab Cinema« auf Interessenten, außerdem Tageszeitungen, von denen die taz, das neue deutschland und der Berliner Kurier immer am längsten auslagen. Auf der Titelseite des Boulevardblattes am 10. Februar die Frage »Wie versaut ist ›Fifty Shades‹?« Was auf die vor dem allgemeinen Kinostart programmierte Berlinale-Premiere der Verfilmung des skandalisierten Bestsellers zielte. Der wiederum Rekordbesuch von 144 Festivalfilmen bewies allerdings größeres Interesse an alternativer Kinokost jenseits von Hollywood. Der unvermeidliche Star-Rummel rund um den roten Teppich gehört trotzdem zur Berlinale, und manch schwacher Film kommt nur deshalb in den Wettbewerb, weil dazu eine Leinwandprominenz verfügbar ist.
Jubiläen wie 65 Jahre wecken oft auch Erinnerungen. Bei mir an meinen ersten Berlinale-Bericht, den ich vor 65 Jahren für die erste Ausgabe des SDS-Organs Unser Standpunkt schrieb.
Seitdem rühmt sich die Berlinale gegenüber ihren Konkurrenten Cannes und Venedig als »politischstes Festival«. Ein Markenzeichen, das man sich diesmal neben der Filmauswahl hätte verdienen können, indem vielleicht Flüchtlingen freier Eintritt gewährt worden wäre. Das filmische Überangebot zwingt jedesmal zur Konzentration auf eine Sektion. Hier deshalb der Verzicht auf eine Bilanz von Panorama und Forum. Starke Frauen sollten den Wettbewerb dominieren, und eine führte gleich der Eröffnungsfilm vor. 1908 in Grönland will die Frau des Arktisforschers Robert Peary ihren Mann treffen, der eine Route zum Nordpol sucht. Dabei präsentiert sie sich wie aus dem Ei gepellt in modischem Chic, der eher zu ihrer Wohnung in Washington paßt als in die Schnee- und Eiswüsten der Arktis. Damit es ihr darin nicht zu langweilig wird, führt sie auch ein Grammophon mit sich, das den Film der spanischen Regisseurin Isabel Coixet »Nadie Quiere La Noche« gelegentlich mit der Stimme Carusos auflockert. Glaubhafter wirkt Juliette Binoche als Josephine, wenn sie sich vor einem Schneesturm in den Iglu der Inuitfrau Allaka flüchtet, in dem diese auch noch ein Kind zur Welt bringt, dessen Vater Josephines Mann ist. Womit das Grönland-Drama die Berlinale-Tradition schwacher Eröffnungsfilme fortsetzt.
Daß die Frauen wenigstens in diesen beiden Fällen nicht die Leinwand erobern konnten, lag auch an starker Konkurrenz. Dazu gehörten zwei Filme aus Chile. Provokativ für die katholische Kirche mußte Pablo Larrains »El Club« wirken. Abgeschoben in einem Haus an der Küste lebt eine Gruppe von Priestern in einer Art Wohngemeinschaft. Es stellt sich heraus, daß sie alle wegen Kindesmißbrauchs mit der Kurie in Konflikt geraten sind. Patrizio Guzmán, ein Klassiker der Kinematografie Lateinamerikas, der nach dem Sturz Allendes zu den Gefangenen im Stadion von Santiago de Chile gehörte, schlägt in seinem poetischen Dokumentarfilm »El botón de nácar« (Der Perlmuttknopf) einen Bogen von der Ausrottung der indianischen Ureinwohner Patagoniens zu den Verbrechen der Pinochet-Diktatur, die Gegner im Meer ertränkte.
Von den deutschen Wettbewerbsbeiträgen erinnerte Oliver Hirschbiegels »Elser« verdient, aber allzu schlicht fernsehgerecht an den zu unrecht vergessenen Hitler-Attentäter, während Sebastian Schippers »Victoria« formal ambitionierter mit einer durchgängigen Kamerafahrt (Sturla Brandth Grøvlen) in 140 Minuten die Geschichte einer Berliner Nacht erzählt. Dabei bleibt für mich allerdings die Glaubwürdigkeit auf der Strecke. Eine noch kaum in Berlin heimische junge Spanierin lernt vor einem Club vier Kumpels kennen und wird durch sie in einen Bankraub verwickelt, bei dem sie allein einen kühlen Kopf bewahrt.
Enttäuschend leider auch Andreas Dresens Verfilmung von Clemens Meyers Erfolgsroman »Als wir träumten«, ein Buch das sich eigentlich einer Verfilmung entzieht (auch ein so versierter Drehbuchschreiber wie Wolfgang Kohlhaase scheiterte daran) bei dem Versuch, das Porträt einer Jugend zu zeichnen, die in Leipzig nach dem Zusammenbruch der DDR mit der neuen »Freiheit« noch nicht zurechtkommt. Ich erinnere mich immer noch gern daran, daß ich 1992 dem frisch von der Babelsberger Filmhochschule gekommenen Sproß einer Künstlerfamilie, Andreas Dresen, seinen ersten Preis (des Kritikerverbandes) überreichen konnte, für seinen langen Debutfilm »Stilles Land«, für mich damals der überzeugendste »Wendefilm«. Seitdem verfolge ich alle sich stets durch eine sensible Menschengestaltung auszeichnenden Arbeiten des in der DEFA-Tradition stehenden Regisseurs und wurde nie enttäuscht. Dazu wollte nun die laute Atmosphäre des Berlinale-Beitrags mit Neonazi-Glatzen, Verfolgungsjagden und Boxkämpfen so gar nicht passen. Darauf einen »Whisky mit Wodka« – um mit dem Titel eines gelungenen früheren Dresen-Films zu sprechen.
Bei der Preisvergabe zum Schluß bestätigte die Berlinale noch einmal ihren Nimbus als politisches Festival. Den Goldenen Bären verlieh die Jury dem iranischen Regisseur Jafar Panahi. Der wurde 2010 in seiner Heimat zu 20 Jahren Berufs- und Ausreiseverbot verurteilt, drehte aber unerschrocken weiter, und es gelang immer wieder, seine Filme außer Landes zu schmuggeln. War 2013 »Closed Curtain« in seinem Haus am Meer eine eher melancholische Reflexion seiner Situation, so glänzt sein jetzt in Berlin ausgezeichneter Film »Taxi« mit heiterer Ironie. Der Regisseur selbst sitzt am Steuer seines Autos, und bei der Fahrt durch die Straßen Teherans steigen die verschiedensten Fahrgäste ein und gewähren Einblicke in die iranische Gesellschaft. Ein Kabinettstück, wie die kleine Nichte des Regisseurs dem Onkel von einem Schulprojekt erzählt, bei dem die Kinder selbst einen Film drehen sollen, die Lehrerin aber dazu strenge Regeln diktiert. Auf der Bühne des Berlinale-Palasts nimmt das Mädchen für ihren Onkel den Goldenen Bären entgegen, anfangs unter Tränen – eine bewegende Szene.
Ende gut, alles gut? Nicht für mich. Ich wollte am Berlinale-Publikumstag noch etwas vom bisher Versäumten nachholen. Dazu fehlte es mir freilich an Eintrittskarten, hatte doch der Ticket-Counter schon endgültig geschlossen. Immerhin konnte ich mich mit meinem Akkreditierten-Badge legitimieren, was den freundlichen Ordnungskräften im Haus der Berliner Festspiele dann auch genügte.
Gleiches hoffte ich im Friedrichstadtpalast bei Peter Greenaways Wettbewerbsbeitrag »Eisenstein in Guanajuato«. Der war von Kritikerkollegen zwar nicht gerade freundlich aufgenommen worden, behandelte aber eine wenig bekannte Episode im Leben und Schaffen des Meisters: seinen Aufenthalt in Mexiko, wo er 1931 den Film »Que viva México« drehen wollte. Leider mußte er das Projekt abbrechen, da der Finanzier, der Schriftsteller Sinclair, den Geldhahn zudrehte. Immerhin sind einige Fragmente von den Dreharbeiten übriggeblieben, aber weniger darum geht es bei Greenaway als um die Begegnung des Künstlers mit einem fremden Land und dessen sinnenfroher Kultur.
All das wollte ich am letzten Berlinale-Tag nachholen. Für mich als Kenner und Liebhaber aller Eisenstein-Filme jedenfalls ein Muß. Die Hüterin der 3000 Plätze des Friedrichstadtpalastes, eine junge Dame mit dem an Tschechow erinnernden schönen Namen Mascha, zeigte für mein cineastisches Interesse aber keinerlei Verständnis. Den Hinweis auf mein Akkreditierten-Badge ignorierte sie ebenso wie den auf das weit kulantere Verhalten ihrer Kollegen vom Haus der Berliner Festspiele. Ungerührt ließ Mascha auch meine Beschwerde, sie behindere meine journalistische Arbeit.
Das Wortgeplänkel gipfelte schließlich in einem Hausverweis, was wiederum mich ungerührt ließ. Allerdings wuchs meine Fassungslosigkeit über soviel Sturheit. Aber wahrscheinlich wollte Mascha an ihrem letzten Abend als Herrin des Friedrichstadtpalastes noch einmal ihre Macht genießen. Inzwischen war wohl auf der Leinwand schon Meister Eisenstein erschienen, während das kleine Drama am Palasteingang seinem Höhepunkt zustrebte. Um ihr Hausrecht durchzusetzen, alarmierte Mascha doch tatsächlich die Polizei. Was mir die Bekanntschaft mit Polizeiwachtmeisterin Nr. 24038153 (oder war das ihre Telefonnummer?) vermittelte. Mit ihr schied ich in Frieden und hatte zuletzt die politische Seite der Berlinale noch auf ganz besondere Weise kennengelernt.