In allernächster geographischer Nähe zur Berlinale, aber völlig unabhängig vom Festival zeigten die Berliner Philharmoniker im Hermann-Wolff-Saal die Dokumentation »Orchestra of Exiles« von Josh Aronson (USA 2013). Die deutsche Fassung heißt »Orchester im Exil«, doch Helge Grünewald als Macher der Filmreihe meint, richtig wäre: »Orchester der Exilierten«. Es ist die Geschichte der Gründung des Palestine Symphony Orchestra (heute Israel Philharmonic Orchestra), das der weltberühmte Geiger Bronisław Huberman 1936 in Tel Aviv aufgebaut hat. Ihm war klar, daß die Nazis ernst machen würden mit der Vernichtung der Juden, mit der Hitler bereits 1922 gedroht hatte. Huberman, ein politischer Kopf vom Format eines Carl von Ossietzky und eines Kurt Tucholsky, handelte. Er stellte seine Karriere als Virtuose zurück und arbeitete unermüdlich an seinem Projekt. Jüdischen Musikern bot er eine neue Existenz in einem Sinfonieorchester in Palästina. Er organisierte Probespiele in Warschau und Budapest und traf eine strenge Auswahl nach höchsten künstlerischen Ansprüchen. Lange mußte er zum Beispiel um den Hornisten des Orchesters des Jüdischen Kulturbunds, Horst Salomon, werben, bis dieser begriffen hatte, daß er in Deutschland gefährlich lebte. Als Jude wurde er, ein ausgezeichneter Gewichtheber, von der Olympiade ausgeschlossen. Huberman half auch Familienangehörigen seiner Musiker, dem Naziregime zu entkommen.
Schließlich konnte Huberman 75 Musiker aus Polen, Deutschland, Österreich und anderen Ländern um sich versammeln und 1936 mit den Proben beginnen. Einen Verbündeten fand er in Arturo Toscanini. Auch er ein Nazigegner. 1933 hatte Toscanini die persönliche Einladung Hitlers abgelehnt, in Bayreuth zu dirigieren. Huberman aber bot er an, das Eröffnungskonzert des neuen Orchesters zu dirigieren, was diesem zu großem internationalem Prestige verhalf.
Der Film berichtet von vielen Einzelschicksalen, von den Schwierigkeiten des Aufbaus eines Klangkörpers, der aus Dutzenden Konzertmeistern bestand, die nun die Disziplin einfacher Orchestermusiker lernen mußten. Bei der Grundfinanzierung half Albert Einstein. Ein weiteres Problem: Das Orchester konnte nur bei dauerhaften Aufenthaltsgenehmigungen der britischen Behörden existieren. Das aber lehnte der zionistisch-sozialistische Politiker Ben Gurion ab, weil ihm wichtiger war, Arbeiter und Ingenieure für den Aufbau der Wirtschaft des künftigen Staates anzusiedeln. Fast scheiterte das Projekt, doch Hubermans Hartnäckigkeit setzte sich durch.
Hört und liest man Hubermans Briefe, Artikel und Statements, seine klare antinazistische Sprache, wird desto unbegreiflicher, daß sich andere große Künstler nicht vom Nazistaat trennten, zum Beispiel Wilhelm Furtwängler. War es die besondere Gabe der Juden, weise zu sein? Oder glaubte man, als Nichtjude davonzukommen? Das penetrante Einerseits und Andererseits entschied Huberman mit einem Satz: »Furtwängler behauptete, gegen die Nazis zu sein, aber dirigierte bis zum Ende weiter für Hitler.« Den deutschen intellektuellen Nichtnazis warf er vor, für die Naziverbrechen verantwortlich zu sein. Huberman verwarf auch das Engagement jüdischer Künstler im Kulturbund Deutscher Juden als Irrweg. Für ihn war der Kulturbund doch eine Form der Zusammenarbeit mit den Nazis. Seine Prophezeiung, der Kulturbund könne die Juden nicht schützen, trat ein.
»Orchestra of Exiles« ist eine Dokumentation, die wie gängige Fernsehdokumentationen Szenen nachspielt. Sie sind jedoch eingebettet in den sachlichen Bericht vom Aufbau des Orchesters. Grundtenor ist Hubermans Kampf gegen den Nazismus. Hier ist nichts weißzuwaschen wie bei Historien von Rommel und Co. Der Film hat alle Eigenschaften, die ihn als Berlinale-Film qualifiziert hätten: Fakten, Spannung, sensationelle Filmdokumente, Neuheitswert und Wahrhaftigkeit. Der größte Vorzug: Er macht keine Kompromisse gegenüber »den Deutschen«. »Die Deutschen sind Tiere geworden«, urteilte Huberman. Bei Aronson werden die Nazis Nazis genannt. Er adelt sie nicht zu »Nationalsozialisten«, wie das in Deutschland bis in das neue deutschland hinein gang und gäbe ist.
Merkwürdig ist eine Lücke. In der Berliner Philharmonie lief der Film als Begleitprogramm zur Ausstellung »Violinen der Hoffnung«. Darunter waren Geigen aus der Sammlung des Geigenbauers Aron Weinstein in Tel Aviv, die einst Musikern des Palestine Orchestra gehört hatten. Als den Musikern der Massenmord an den Juden bekannt wurde, verstörte und empörte es sie dermaßen, daß sie keine deutsche Musik mehr spielen, ja nicht mal mehr auf Geigen spielen wollten, die in Deutschland hergestellt waren. Sie verkauften ihre Geigen an Weinstein, der sie aufbewahrte und restaurierte. Davon wird nicht berichtet. Vielleicht eine Platzfrage.
Der Film erinnert mich an eine Begebenheit. 1997 zeigte der Verein »Die ersten 100 Jahre Kino in Berlin« zum 91. Geburtstag von Camilla Spira den DEFA-Film »Die Buntkarierten«. Nach der Vorführung meinte Richard von Weizsäcker, dieser Film müsse in allen Schulen gezeigt werden. Auch »Orchester im Exil« ist dafür bestens geeignet. Zum 50. Jahrestag der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen der Bundesrepublik und Israel könnte sich das die Bundeszentrale für Politische Bildung zu eigen machen. In den USA lief der Film in den Kinos und im Fernsehen. Er ist für einen Oscar nominiert. Vor einigen Tagen erhielt er den Preis der deutschen Schallplattenkritik, jedoch hatte er in Deutschland bisher nur »kleine Einsätze«, sagt Wolfgang Schmidt-Dahlberg vom Rekord-Filmvertrieb. Beim deutschen Fernsehen besteht kein Interesse. Ist die Vergangenheit »bewältigt«? Interessenten können bei der Polyband Medien GmbH in München eine DVD erwerben.