Flüchtlinge sind in Deutschland und in ganz Europa willkommen – als Sündenböcke. In der Gesellschaft hat ein Klimawandel stattgefunden. Nicht nur ökonomisch ist die neue Hegemonialmacht der EU tief gespalten, sondern auch in der Beurteilung der »Flüchtlingskrise«, in ihrer sozio-emotionalen Tiefenstruktur. Während Mitmenschlichkeit und Hilfsbereitschaft eines Teils der Deutschen Flüchtlingen das Gefühl geben können, willkommen zu sein, herrscht bei anderen eine entgegengesetzte Haltung: Ressentiments gegen alle, die nicht »zu uns« gehören (sollen), Rassismus und eine Menschenfeindlichkeit, die sich zunehmend gewalttätig entlädt. Die beängstigende Zunahme von Brandanschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte und anderer Gewalttaten zeigt: Die Täter meinen, die Lizenz zum Lynchen bekommen zu haben.
Diese national gesinnten rechtsextremen Bürger (zum Großteil Männer), die Empathie und Humanität abgeschworen haben, organisieren sich regional und landesweit in Parteien und Gruppierungen. Politiker beeilen sich, ihren aggressiven Forderungen die Spitze zu nehmen, indem sie sie umsetzen: Ein Asylpaket nach dem anderen wird verabschiedet, Hunderte Kilometer Stacheldrahtzäune zur Abwehr der »Globalisierungs«-Verlierer errichtet, eine inhumane, entwürdigende Behandlung zur Abschreckung praktiziert. Viele Politiker gebrauchen eine hetzerische, verächtliche Sprache, die bislang Rechtsradikalen vorbehalten war, und sie mobilisieren die ganze militärische Gewalt von NATO, Frontex und nationalen Streitkräften gegen Fliehende. Deren Tod wird billigend in Kauf genommen. Die EU handelt wie eine Gemeinschaft zur Abschaffung der in der Grundrechte-Präambel der EU beschworenen Ziele: »... die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität … Sie stellt den Menschen in den Mittelpunkt ihres Handelns, indem sie die Unionsbürgerschaft und einen Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts begründet.« Auch die Menschenrechte, die als Folgerung aus Rassismus, Krieg und Menschenfeindlichkeit 1948 proklamiert wurden, scheinen suspendiert, als wären sie verstaubte Absichtserklärungen ohne jede Verbindlichkeit. Offensichtlich hat die rassistische, rechtsextreme Aggressivität Erfolge zu verzeichnen, machen sich Hetze und Gewalt bezahlt.
Sind also die Menschen, die ihre Heimat massenweise verlassen müssen, um eine Überlebenschance zu haben, die Ursache für Rechtsentwicklung und radikalisierte Menschenverachtung? Mitnichten: Menschenfeindlichkeit und Rassismus bedürfen keiner Begründung – sie können gar keine haben. Sie suchen sich vielmehr Opfer: Juden, Muslime, Fremde oder fremd Erscheinende. Seit Jahren schon konnte in Deutschland ein Anwachsen dieser aggressiven Feindseligkeit beobachtet werden (vgl. Deutsche Zustände, 2012). Der Studienleiter dieser jährlich veröffentlichten Zustandsbeschreibung, Professor Wilhelm Heitmeyer, hatte vor Konsequenzen der wachsenden Verrohung und der sozialen Kälte gewarnt, die zeige, dass »eine gewaltförmige Desintegration auch in dieser Gesellschaft nicht unwahrscheinlich ist« (S. 35). Die sozialpsychologische Grundlage dieser Menschenfeindlichkeit sei eine rohe Bürgerlichkeit, »die sich bei der Beurteilung sozialer Gruppen an den Maßstäben der kapitalistischen Nützlichkeit, der Verwertbarkeit und Effizienz orientiert und somit die Gleichwertigkeit von Menschen sowie ihre psychische wie physische Integrität antastbar macht ...« (S. 34f.) Also die neoliberalen Politik, die Menschen als Humankapital bewertet.
Der neoliberal radikalisierte Kapitalismus hat das Ziel, Wirtschaft und Politik, Gesellschaft und Menschen nach seinem Bild zu prägen und den »Erfolg« – nämlich die krasse Ungleichheit und den dominierenden Sozialdarwinismus – als Naturgesetz und als allgemeine Norm zu verankern: »Ungleichheit ist nicht bedauerlich, sondern höchst erfreulich. Sie ist einfach nötig«, sagte Friedrich August von Hayek, einer der Vordenker des Neoliberalismus, 1981 in einem Interview in der Wirtschaftswoche. Er tat auch die Überzeugung kund, dass sich nur die Völker erhalten und vermehren dürften, die sich selbst ernähren können. Der globale Siegeszug dieser Ideologie, in der der Markt zum Naturgesetz erklärt wird, wurde bekanntlich von den politischen Führern Ronald Reagan, Margaret Thatcher und Gerhard Schröder ermöglicht. Denn die wirtschaftlich-politische Elite hatte die Chance erkannt, sich für die Durchsetzung der eigenen Interessen eine scheinwissenschaftliche Legitimation zu verschaffen: Der Starke hat quasi naturgesetzlich das Recht auf Dominanz, Mitleid mit den Schwachen ist nicht nur unsinnig, sondern schädlich. Es ist kein Zufall, dass der erste »Freilandversuch« eines reinen neoliberalen Umsturzes im damals faschistischen Chile unter General Pinochet stattgefunden hat.
Neoliberalismus schafft ungerechte Verhältnisse, in denen zwischen Menschen wie zwischen Staaten sozialdarwinistische Regeln herrschen; er mobilisiert in seinem radikalen Wettbewerbssystem die destruktiven Energien von Menschen. Die »Leistung« der neoliberal orientierten Politik besteht auch in der Verankerung des Sozialdarwinismus in den Köpfen. Denn große Teile der Bevölkerung identifizieren sich inzwischen mit den Grundsätzen von Konkurrenz und Selbstoptimierung. Die Folge: Es herrscht nicht nur krasse Ungleichheit, es gibt nicht nur ein Heer von »Verlierern«, vielmehr sind Empathie und Solidarität als Kitt einer humanen Gesellschaft entwertet und aus dem gesellschaftlichen Leben verbannt. Die daraus resultierende Unsicherheit einerseits, politische Ohnmacht andererseits erzeugen uneingestandene Angst und ein Bedürfnis nach Stärke. Auf die scheinbare Allmacht der Reichen und Mächtigen folgt deshalb als innerer Reflex eine Identifikation mit deren offensichtlichem Erfolg und Einfluss – und eine aggressive Abgrenzung gegen Schwache und Fremde. Bereitwillig wird die von Neoliberalen behauptete Ungleichwertigkeit der Menschen – immer auch Grundlage des Rassismus – propagiert und gegen die Menschen gekehrt, die nichts haben, nicht einmal eine Heimat.
Als Vorkämpfer der Rassisten und Hetzer tun sich Intellektuelle hervor, denen Cicero, FAZ und andere Medien bereitwillig ein Forum bieten: Peter Sloterdijk, Gunnar Heinsohn, Botho Strauß, Rüdiger Safranski überbieten sich an Radikalität und Phantasie in Sachen Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit. Gunnar Heinsohn, der Kriegsdemographie an der Berliner Bundesakademie für Sicherheitspolitik und am NATO Defense College in Rom lehrt, empfiehlt in Cicero (29.1.14): »Jede Regierung aus der Spitzengruppe von rund 50 Staaten muss also ihr Humankapital aktiv managen. Sie muss die Zahl dauerhaft Leistungsfähiger maximieren und den Anteil der lebenslang Hilflosen am Gesamtmix im Auge behalten ... Längst führt dies zu einer globalen Konkurrenz um anwerbeoptimale Grenzsicherungen einerseits sowie zum Abschmelzen der Mittel für bildungsferne Großfamilien.«
Die Flüchtlingskrise schafft soziale Spannungen und Probleme für Regierungen, aber sie kann als Schocktherapie (Naomi Klein) von der Elite genutzt werden, um von der Bevölkerung abgelehnte Projekte wie Freihandelsverträge oder Überwachung und Militarisierung durchzusetzen und die Spaltung der Masse der Verlierer – Arme gegen Flüchtlinge – voranzutreiben. Und es gelingt ihr vortrefflich, von den eigentlichen Fluchtursachen, nämlich Krieg und Ausbeutung, abzulenken.
Die Entscheidung steht noch aus: Entwickeln sich Deutschland und die EU in Richtung Mitmenschlichkeit oder Menschenfeindlichkeit? Wird den Menschenrechten zur Geltung verholfen oder dominieren Verrohung und Gewalt? Eine menschliche, gerechte Gesellschaft wird nur dann Realität, wenn die Fluchtursachen bekämpft werden und die Demokratie nicht nur auf ein formales Verfahren beschränkt bleibt; wenn also Neoliberalismus und Militarismus überwunden werden. Es ist notwendig, daran zu erinnern, welche Grundideen den Menschenrechten zugrunde liegen: Die Anerkennung der angeborenen Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der Gemeinschaft der Menschen als Grundlage von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden in der Welt.