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Titel516

Fiat justitia? Irrtum!  (Conrad Taler)

Bei allem Verständnis für den guten Willen der Beteiligten: Mit einem Sieg der Gerechtigkeit hat das Detmolder Gerichtsverfahren gegen den ehemaligen Auschwitzer SS-Wachmann Reinhold Hanning ebenso wenig zu tun, wie die vorausgegangenen Prozesse gegen die Helfer beim Massenmord John Demjanjuk und Oskar Gröning. Der Prozess wirkt vor dem historischen Hintergrund eher wie eine weitere Alibiveranstaltung zur Beruhigung des deutschen Gewissens, die das empörende Bild vom lässigen Umgang unserer Justiz mit den Verbrechen der Nazis aufhellen und der Welt den Eindruck von deutscher Gründlichkeit und Selbstreinigung vermitteln soll, von den kleinen Pannen wie etwa dem Freispruch für die deutsche Blutjustiz mal abgesehen. Was Auschwitz selbst betrifft, gibt es in der Sache nichts mehr aufzuklären. Eine Beweisaufnahme darüber erübrige sich, meinte die Vorsitzende Richterin zu Beginn der Verhandlung gegen Reinhold Hanning. Der Prozess diene der Feststellung der individuellen Schuld des Angeklagten. Das Gericht kenne das Anliegen der Opfer, die Geschichte ihres Leidens vor einem deutschen Gericht dazustellen, »und dem wollen wir nachkommen«.

Um beim Letzten zu bleiben. Natürlich ist es für Überlebende des Holocaust und die Hinterbliebenen der Opfer wichtig, dass die Öffentlichkeit Kenntnis nimmt von dem Grauenvollen, das ihnen widerfahren ist. Sie mussten ja über Jahrzehnte hinweg damit leben, dass die Verantwortlichen für dieses Grauenvolle entweder unbehelligt blieben, reihenweise freigesprochen wurden oder mit geringen Strafen davonkamen. Wenn jetzt Randfiguren der Prozess gemacht wird, dann müssen sich Überlebende und Hinterbliebene eigentlich zum zweiten Mal verhöhnt fühlen. Wie schäbig sich die deutsche Justiz mitunter gegenüber dem hehren »Fiat justitia, et pereat mundus« verhält, dämmerte irgendwann selbst den Richtern des Bundesgerichtshofes. Im Urteil gegen einen ehemaligen DDR-Richter räumten sie ein, es liege nicht fern, dass ihm eine grundlegend veränderte Haltung der Rechtsprechung, ohne die seine Verurteilung nicht möglich gewesen wäre, kaum als gerecht zu vermitteln sein dürfte (AZ5 StR 747/94).


Es ist ein Irrglaube, zu meinen, die deutsche Gerichtsbarkeit habe mit der Verurteilung des KZ-Wachmanns John Demjanjuk ihre Rechtsprechung zugunsten der Opfer grundlegend geändert. Für das Münchner Gericht, das Demjanjuk für schuldig befand, mag das teilweise zutreffen. Rechtskräftig geworden ist das Urteil nicht, weil der Angeklagte verstarb, noch ehe der Bundesgerichtshof über die dagegen eingelegte Revision entschieden hatte. Mit dem Urteil gegen den ehemaligen SS-Unterscharführer Oskar Gröning, der in Auschwitz Buch über das den Opfern geraubte Geld geführt hat, verhält es sich ähnlich, es ist noch nicht rechtskräftig geworden. Die Entscheidung über die Revision steht noch aus. Ich bezweifle, dass der Bundesgerichtshof hier dieselbe Kehrtwende macht wie im Fall des DDR-Richters.


Diese Ungewissheit hatte die Vorsitzende Richterin im Verfahren gegen den ehemaligen SS-Wachmann Hanning wohl im Hinterkopf, als sie sagte, der Prozess diene der Feststellung der individuellen Schuld des Angeklagten, der selbst niemanden getötet hat. Er war eines der kleinen Rädchen der Maschinerie, ohne die der Massenmord in den Todesfabriken nicht möglich gewesen wäre. Der frühere hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer war der Ansicht, dass die Zugehörigkeit zu dieser Todesmaschinerie genüge, um jemanden als Täter oder Mittäter zu bestrafen. Er wollte dieser Rechtsauffassung im ersten großen Auschwitz-Prozess Geltung verschaffen, ist damit aber gescheitert. Einen Teil davon haben sich die Richter in den Verfahren gegen John Demjanjuk und Oskar Gröning zu eigen gemacht, sie erkannten immerhin auf Beihilfe zum Mord.


Mehr wird in dem Verfahren gegen den SS-Wachmann Reinhold Hanning wohl auch nicht herauskommen. Den Prozess als eine längst überfällige Korrektur jahrzehntelangen Justizversagens zu betrachten, wie Auschwitz-Überlebende und ihre Nachfahren sich Pressemeldungen zufolge geäußert haben sollen, geht an der Wirklichkeit vorbei. Er hat weder mit einer Korrektur des Justizversagens noch mit einem Sieg der Gerechtigkeit etwas zu tun. Er ist das, was Militärs als Nachhutgefecht bezeichnen, ein Ereignis also, das am Gesamtgeschehen nichts mehr ändert und – wie hier – allenfalls dessen ganze Trostlosigkeit offenbart.