Wenn Historiker dereinst über das Jahr 2016 zu befinden haben, könnte die Aussage, es habe eine Zeitenwende gegeben, die zentrale Einschätzung sein. Und zwar nicht nur hinsichtlich der Ereignisse in ferneren Regionen wie vor allem im Bereich der Wiege der menschlichen Zivilisation. Die noch vom EU-Vertrag von Lissabon zusammengehaltene Europäische Union wird im Laufe der kommenden Monate auf eine harte Probe gestellt werden und voraussichtlich an ihren inneren Widersprüchen scheitern. Die aus der ehemaligen Europäischen Gemeinschaft (EG) samt Binnenmarkt hervorgegangene EU wird aller Wahrscheinlichkeit nach als Rohrkrepierer in die Geschichte eingehen. Die zunehmend schlagkräftigeren neoliberalen Politgestalter der einflussreichen Mitgliedstaaten gelüstet es nach einer Wiederauferstehung der rein auf globalisierungsfähige Handelsabkommen ausgerichteten europäischen Gemeinschaft ohne soziales »Gedöns«. Sie steht – einschließlich TTIP – ante portas, und worauf das im Einzelnen hinausläuft, wird die laufende Berichterstattung in Ossietzky erhellen. Die Beantwortung der Frage, »Brexit« ja oder nein, gehört auch dazu.
Ein Baustein zur Wiederrichtung einer rein wirtschafts-, sprich konzernfreundlichen EG wird gerade im Vereinigten Königreich produziert – er ist zwar noch nicht ganz fertig und ausgehärtet, verspricht dem Kapital und auch dem Staat in seiner Eigenschaft als Arbeitgeber aber ungemein viel. Die Rede ist von der trade union bill. Der Gesetzentwurf wurde im Sommer 2015 ins Parlament eingebracht und hat gerade die dritte Lesung im Unterhaus absolviert; inzwischen liegt er den Lords im Oberhaus vor. Zwar bin ich in Ossietzky 25/2015 bereits auf dieses gewiefte Anti-Gewerkschaftsgesetz eingegangen, aber einige wesentliche Inhalte möchte ich noch einmal etwas ausführlicher in Erinnerung bringen. Und zwar schon deshalb, weil in den deutschen Medien so gut wie keine Informationen über das in jeder Hinsicht bemerkenswerte Geschehen vermittelt werden.
So sollen Streiks künftig nur dann legal sein, wenn in einer Briefwahl mindestens die Hälfte der Gewerkschaftsmitglieder dafür stimmt, unabhängig davon, wie viele sich an der Abstimmung beteiligen. In »wichtigen öffentlichen Betrieben« sollen sogar mindestens vierzig Prozent aller Beschäftigten dafür stimmen müssen. Auch sollen die Gewerkschaften den Arbeitgeber vierzehn Tage vor Streikbeginn zwingend informieren und zudem die Polizei über geplante Sozialnetzwerk-Kampagnen in Kenntnis setzten. Darüber hinaus sollen Leiharbeiter als Streikbrecher eingesetzt werden dürfen, Streikposten bei einem spontanen Streik unter Strafrecht gestellt werden und Kommunalräte Maßnahmen zum »Schutz der Gemeinde« gegen die Gewerkschaften verhängen dürfen, um »Einschüchterung« zu verhindern. Nicht zuletzt sollen Gewerkschaften den Streikführer namentlich der Polizei melden, soll die Zeit, die ein Beschäftigter im öffentlichen Dienst mit Gewerkschaftsaktivitäten verbringen kann, begrenzt werden, sollen die seit Thatchers Zeiten eingesetzten Certification Officers (Staatsbeamte) auf eigene Initiative die Namen und Adressen der Mitglieder einer Gewerkschaft ermitteln dürfen und so weiter.
Für die Labour Party, die sich traditionell zu fast neunzig Prozent aus Gewerkschaftsgeldern finanziert, werden harte Zeiten anbrechen, sollte das Gesetz in Kraft treten, denn es verpflichtet alle Gewerkschaften dazu, jedes Mitglied alle fünf Jahre zu fragen, ob es den political levy, also den Teil des Gewerkschaftsbeitrags, der zur Unterstützung von Labour verwendet wird, noch zahlen möchte. Der bis heute im Königreich bestehende Konsens, dass keine Partei ohne parteiübergreifende Absprache die Parteienfinanzierung ändert, wäre damit ausgehebelt. Schätzungen zufolge dürfte die Labour Party jedes Jahr rund acht Millionen Pfund (etwa 10,3 Millionen Euro) einbüßen, wenn das Gesetz durchkommt.
In Großbritannien gilt der Gesetzentwurf als biggest crackdown on trade union rights for 30 years – als massivster Angriff auf die Gewerkschaftsrechte seit dreißig Jahren. Die seit Thatchers Zeiten ohnehin politisch extrem zusammengestauchte Gewerkschaftsbewegung – 1979 zählte sie mehr als 13 Millionen Mitglieder, gegenwärtig nur mehr die Hälfte – verhält sich bislang allerdings wie ein Kaninchen vor der Schlange. Gewiss, Frances O’Grady, die Generalsekretärin des Trade Union Congress (TUC), beklagt zwar, das Gesetz werde es Arbeitern »fast unmöglich« machen, ihre »demokratischen Rechte und bürgerlichen Freiheiten in Anspruch zu nehmen«. Von politisch wahrnehmbaren großen Streiks gegen den Gesetzentwurf kann ich jedoch nicht berichten.
Immerhin haben inzwischen andere Akteure die Zeichen der Zeit erkannt. So hat etwa die Internationale Arbeitsorganisation (ILO), eine Sonderorganisation der Vereinten Nationen mit Hauptsitz in Genf, die britische Regierung aufgefordert, den Gesetzentwurf so zu modifizieren, dass Gewerkschaftsrechte nicht beschnitten werden. Und Michael Forsyth, ein Tory und Mitglied des Oberhauses, nannte jüngst das Gesetz den törichten Versuch, die ohnehin schwächelnde und in die Opposition verbannte Labour Party finanziell ausbluten zu wollen. Das parlamentarische System benötige eine wirkmächtige Opposition, fügte er hinzu. Fehlt noch die Stimme des während seiner Zeit in England berühmt gewordenen Friedrich Engels. Er erinnert in der Zeitschrift The Labour Standard an die nach langen Kämpfen 1824 endlich »legalisierten Trade-Unions« und fährt fort:
»Seit jenem Tage ist die Arbeiterschaft in England eine Macht geworden. Die Masse war jetzt nicht länger hilflos und in sich selbst gespalten wie früher. Zu der Stärke, die ihr Koalition und gemeinsames Handeln verliehen, kam bald die Macht einer wohlgefüllten Kasse – des ›Widerstandsgeldes‹, wie der bezeichnende Ausdruck unserer französischen Brüder lautet. Die ganze Sachlage änderte sich jetzt. Für den Kapitalisten wurde es eine riskante Sache, sich eine Senkung der Löhne oder eine Verlängerung der Arbeitszeit herauszunehmen. Daher die Wutausbrüche der Kapitalistenklasse jener Zeit gegen die Trade-Unions. Diese Klasse hatte ihre langgeübte Praxis, die Arbeiterklasse zu schinden, stets als ihr gesetzlich verbrieftes Vorrecht betrachtet … Demnach täten die Trade-Unions gut daran, zweierlei zu berücksichtigen: erstens, dass die Zeit rasch näher rückt, wo die Arbeiterklasse hierzulande mit nicht misszuverstehender Stimme ihren vollen Anteil an der Vertretung im Parlament fordern wird. Zweitens, dass ebenso rasch die Zeit herannaht, wo die Arbeiterklasse begreifen wird, dass der Kampf für hohe Löhne und kurze Arbeitszeit und die ganze Tätigkeit der Trade-Unions in ihrer jetzigen Form nicht Selbstzweck, sondern ein Mittel ist, ein sehr notwendiges Mittel, aber doch nur eines von verschiedenen Mitteln zu einem höheren Zweck: der Abschaffung des Lohnsystems überhaupt.«
So äußerte sich Friedrich Engels im Juni 1881 – seitdem sind 135 Jahre ins Land gegangen, und die englische Arbeiterbewegung ist nur mehr ein mattes Gebilde, das womöglich noch in diesem Frühjahr zum bestenfalls schmückenden Bettvorleger der Kapitalistenklasse und ihrer neoliberalen politischen Vorhut zurechtgestutzt wird. Gegenwärtig bleibt noch abzuwarten, in welcher Form das Anti-Gewerkschaftsgesetz tatsächlich in Kraft tritt. Und dem gewerkschaftlichen Dachverband TUC bleibt noch ein bisschen Zeit, die organisierten und vor allem auch nicht (mehr) organisierten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer für einen ins Mark treffenden Streik – möglichst den Generalstreik – zu gewinnen. Engels‘ Artikel über die Trade-Unions schließt keinesfalls zufällig mit der Aufmunterung: »Es gibt keine Macht in der Welt, die der englischen Arbeiterklasse auch nur einen einzigen Tag widerstehen könnte, wenn sie sich in ihrer Gesamtheit organisiert.«
Die von Camerons Tory-Regierung geplante Aushebelung grundlegender demokratischer Rechte sollte auch bei uns auf dem »Kontinent« die Sorgenfalten nicht nur von Gewerkschaftern heftig anschwellen lassen. Was jenseits des Ärmelkanals politisch durchsetzbar gemacht wird, dürfte im neoliberalen Lager diesseits den Nachahmungstrieb nachhaltig befeuern.