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Titel516

Beendet  (Eckart Spoo)

Als ich am Samstag, dem 2. Januar 2016, die Frankfurter Rundschau aus dem Briefkasten holen wollte, war sie nicht da. Am Montag, dem 4., wieder nicht. Ich rief in Frankfurt am Main an. Die für den »Abo-Service« Zuständige, der ich meine Beschwerde vortrug, reagierte erstaunt – es hatte sich kein plötzlicher Wintereinbruch ereignet, keine technische Störung in der Druckerei, kein Streik der Beschäftigten. Sie suchte im Computer und fand eine Eintragung, die sie und mich noch mehr verwunderte. Da stand bei meinem Namen kurz und knapp: »Beendet.« Sie schloss daraus zunächst, dass ich das Abonnement beendet hätte. Aber nein. Seit 1959 war ich ständiger FR-Leser gewesen, und seit ich 1962 begonnen hatte, für die FR zu arbeiten, war ich jeden Tag unentgeltlich mit einem Exemplar bedacht worden. Mehr als 35 Jahre später, als ich in den Ruhestand trat, erhielt ich die freundliche Zusage, auch weiterhin täglich unentgeltlich die FR lesen zu dürfen. Dabei blieb es bis Jahresende 2015.

Die für den »Abo-Service« Zuständige ahnte nun, dass höhere Mächte eingegriffen hatten. Sie sagte, sie wolle den Vertriebsleiter fragen und mir dann Nachricht geben.


Am Dienstag, dem 5. Januar, kam wieder keine FR, aber auch kein Anruf vom »Abo-Service« oder von der Vertriebsleitung. An diese richtete ich daraufhin einen Fax-Brief, der aber ebenfalls unbeantwortet blieb. Offenbar hatte sich der Verlag entschlossen, auf den Leser Eckart Spoo zu verzichten. Sonst hätte man mich doch zumindest gefragt, ob ich mich nicht auf meine eigenen Kosten beliefern lassen wolle.


Mein Verhältnis zur FR ist also beendet. Kränkt mich das? Ja, da ist etwas, das mir nahe geht, obwohl sie sich schon seit langem weit von mir entfernt hat. Ein Blatt, das in Bild-Manier den syrischen Präsidenten Assad als »Schlächter« tituliert, Stimmung für die Putschisten in der Ukraine macht und kaum noch Nachrichten bringt, die der offiziellen Lügenpropaganda für die Kriege gegen Jugoslawien, Afghanistan, Irak, Libyen, Syrien widersprechen, ist nicht mehr »meine Zeitung«. Aber mein Leben hatte viel mit ihr zu tun. Einiges davon sei hier berichtet.


1945 war die FR als erste Zeitung in der US-amerikanischen Besatzungszone gegründet worden. Lizenzträger waren sieben Antifaschisten: drei Kommunisten, drei Sozialdemokraten und ein Linkskatholik. Doch im beginnenden Kalten Krieg hatte die antifaschistische Gemeinsamkeit nicht lange Bestand. Nach dem spektakulären Rauswurf des Kommunisten Emil Carlebach durch den US-General Lucius Clay durfte der SPD-nahe Karl Gerold nachrücken, der dann nach und nach zum alleinigen Verleger, Herausgeber und Chefredakteur aufstieg. Ein Kraftprotz.


Ich war 25, als ich mich – nach Studium, Aktivitäten in der Anti-Atombomben-Bewegung und ersten Erfahrungen als Zeitschriftenredakteur – bei Gerold um eine Redakteursstelle bewarb. Mit den Worten »Ich werfe Dich ins Wasser, nun schwimm!« gab er mir den Auftrag, im CDU-dominierten Main-Taunus-Kreis, westlich von Frankfurt, wo zwei konservative Blätter, die Frankfurter Neue Presse und das Höchster Kreisblatt, miteinander konkurrierten, die FR als mögliches drittes Regionalblatt ins Gespräch zu bringen.


An einem der nächsten Tage erschien im Verlags-, Redaktions- und Druckhaus am Eschenheimer Turm ein großer, beleibter Mann: der Bundestagsabgeordnete Hermann Schmitt-Vockenhausen (SPD), zu dessen Wahlkreis der Main-Taunus-Kreis gehörte. Als Vorsitzender des Innenausschusses des Bundestags war er damals und in den kommenden Jahren vor allem bestrebt, seine Partei zur Zustimmung zu den Notstandsgesetzen zu bringen – unter anderem durch sprachliche Änderung früherer Entwürfe. Der Besucher verlangte von der FR, mich keinen Tag länger zu beschäftigen. Seine Andeutungen, ich sei »ein linker Vogel«, konkretisierte er nicht. Gerold, dem solche Einmischungsversuche zuwider waren, schickte ihn zum leitenden Redakteur der Regionalausgaben, der sich sehr zufrieden mit meinen ersten Beiträgen für die FR äußerte und diesbezüglich keinen weiteren Gesprächsbedarf sah. Als ich Schmitt-Vockenhausen kurz darauf bei einer Veranstaltung im Main-Taunus-Kreis kennenlernte, stürzte er sich mit all seinem Fleisch und Fett auf mich, umarmte mich und rief begeistert, es sei für ihn eine große Freude, mich in seinem Wahlkreis zu begrüßen.


Ich erfuhr von schmutzigen Vorgängen im Rathaus der Gemeinde Okriftel und schrieb darüber eine Fortsetzungsgeschichte. Der Verlag unterstützte mich jeden Morgen mit einem neuen Plakat, das er in Okriftel aushängen ließ. Eine Bürgerversammlung musste einberufen werden, auch der hessische Landtag befasste sich mit Okriftel. Als Reporter auf dem Lande hatte ich viele direkte Kontakte, Wirkungsmöglichkeiten, Erfolgserlebnisse. Bald war ich im Verbreitungsgebiet der West-Ausgabe die Frankfurter Rundschau persönlich. Aber als Gerold mir 1964 eine Stelle in der Nachrichtenredaktion anbot, ließ ich mich gern versetzen.


Es war die Zeit des US-amerikanischen Krieges gegen Vietnam, des aufkommenden politischen Engagements der Studenten und der harten staatlichen Repressionen gegen Demonstranten, vor allem in Westberlin, sowie der Vorbereitung der Notstandsgesetze. Mit eben diesen Themen wurde ich betraut. Ich erhielt sämtliche Agentur- und Korrespondentenberichte und genug Bearbeitungszeit, um Widersprüche zwischen den US-Agenturen AP und UPI, der ihnen meist folgenden Deutschen Presse-Agentur und der Agence France-Presse durch Anrufe bei ihnen und bei unseren eigenen Korrespondenten wie Heinz Pol in New York (einem emigrierten einstigen Weltbühne-Autor) aufzuklären. Als zuverlässigste Quelle von Informationen aus Vietnam erwies sich häufig AFP; Frankreich hatte seinen Krieg dort schon 1954 verloren. Wenn sich Widersprüche nicht aufklären ließen, stellte ich die unterschiedlichen Versionen einander gegenüber.


Unsere Berichterstattung fand vor allem angesichts der damals schnell wachsenden lügnerischen und hetzerischen Springer-Presse starken Zuspruch, den stärksten an den Universitäten. Der Verlag bot Studierenden verbilligte Abonnements an. Dadurch wurde die FR zur überregionalen Zeitung. Sie ordnete sich selber als »linksliberal/sozialliberal« ein, so wurde sie zitiert, und in Diskussionen über die Pressekonzentration diente sie als Alibi. Ihr politisches Ziel war unverkennbar die Überwindung der schwarz-braunen Adenauer-Politik. Willy Brandt galt als der Hoffnungsträger. Eine SPD/FDP-Regierung wurde durch Aufnahme von drei Freidemokraten in den Kreis der leitenden FR-Redakteure vorbereitet; der namhafteste war Karl-Hermann Flach, zuvor Bundesgeschäftsführer der FDP, später ihr Generalsekretär. Viele Hochschulabsolventen gingen, um sich an diesem Projekt zu beteiligen, nach Bonn. Ihre FR begleitete sie.


Als Gerold 60 Jahre alt wurde, verfertigte ich als Geschenk der Redaktion ein Buch mit ausgewählten Texten von ihm. Es trug den Titel »Zivilcourage«, genau so, wie er seinen ersten Leitartikel überschrieben hatte. Er reagierte glücklich und stolz.


Bald aber zeigten sich Grenzen seiner Zivilcourage. Ich gab den Sammelband »Die Tabus der bundesdeutschen Presse« heraus, der aus einem Kongress der Deutschen Journalisten-Union, des Verbands deutscher Schriftsteller und der Humanistischen Union hervorgegangen war. Ein halbes Jahr nach Erscheinen – ich hatte es ihm sofort geschickt, und er hatte sich freundlich bedankt – nahm Gerold Anstoß an einer Fußnote zu dem Beitrag »Public relations statt objektiver Berichterstattung – Wirtschaftsteil nur für Börsianer?« des Westberliner Ökonomie-Professors Klaus Peter Kisker über die Ähnlichkeit der Wirtschaftsteile der überregionalen Tageszeitungen. Kisker hatte dort angemerkt, dass Wirtschaftsredakteure zwischen Blättern wie Die Welt, Frankfurter Allgemeine Zeitung, Handelsblatt und auch Frankfurter Rundschau mühelos hin und her wechselten.


Inzwischen war ich zum Bundesvorsitzenden der Deutschen Journalisten-Union gewählt worden. Das missfiel Gerold. Er bat mich zu einem Gespräch, das fünf Stunden dauerte. Offenbar fiel es ihm schwer, die Kündigung über die Lippen zu bringen. Er zeigte mir Urlaubsfotos und selbstgemalte Ölbilder, rezitierte selbstgeschriebene Gedichte, schlug mir vor, Willy Brandts Pressesprecher zu werden (»Conny Ahlers taugt doch nichts«), und verabschiedete mich mit dem knappen Satz: »Ich mach‘ die Rundschau, Du machst die Gewerkschaft.« Das Du war üblich im Verkehr von oben nach unten, nicht umgekehrt.


Der Fall wurde schnell publik. Hilfreich waren vor allem Berichte im Fernsehmagazin »Monitor« und in der Süddeutschen Zeitung. Neulich habe ich hier daran erinnert, wie Gerhard Zwerenz mich in dieser Auseinandersetzung unterstützte und deswegen von Gerold mit Hausverbot bestraft wurde. Die Solidarität war groß. Heinrich Böll, Martin Walser, Günter Wallraff, Bernt Engelmann und Ulrich Sonnemann schlugen mir vor, mit ihnen als Herausgebern eine Zeitschrift zu machen, die Spoos eigene Rundschau heißen sollte. Böll überwies gleich einen Beitrag zum Startkapital. Das Projekt sollte auch eine Antwort auf Rudolf Augsteins Vorgehen gegen Mitbestimmungsforderungen von Spiegel-Redakteuren sein. Einer Kolumne des damals für Medienkritik zuständigen Spiegel-Autors Otto Köhler über den Fall Spoo folgte die Kündigung. Auch Dieter Brumm, Hermann Gremliza, Alexander von Hoffmann und Bodo Zeuner verloren ihre Stellen bei dem Nachrichtenmagazin. In Trier hatte zuvor schon der Verlag des Trierischen Volksfreund diejenigen Redakteure vor die Tür gesetzt, die an der Gründung der örtlichen DJU-Gruppe teilgenommen hatten. Ähnlich erging es u. a. der Münchener Orts-, dem Hildesheimer Bezirks- und dem nordrhein-westfälischen Landesvorsitzenden der DJU.


Inzwischen regierte in Bonn Willy Brandt mit der FDP und einigte sich mit der CDU/CSU auf die Berufsverbote. Ein von Brandt angekündigtes Presserechtsrahmengesetz, das »innere Pressefreiheit« verbürgen sollte, gedieh nicht einmal zu einem Entwurf. Ernst Benda, Präsident des Bundesverfassungsgerichts, zuvor Bundesinnenminister, mit dem sich die SPD über die Notstandsgesetze verständigt hatte, gab sich dazu her, in einer Jahresversammlung des Verlegerverbands Dieter Brumm, meinen Stellvertreter im DJU-Vorsitz, und mich zu diffamieren: Unsere Vorstellungen für eine Medienreform seien nicht mit dem Grundgesetz vereinbar. Es wurde klar: Mein Rausschmiss aus der FR war Teil einer antigewerkschaftlichen Kampagne zur Abwehr jeglicher Versuche, die Medien zu demokratisieren.


Meine Kollegen bei der FR, an deren Solidarität mir besonders gelegen war, wagten in zwei Redakteursversammlungen mit großen Mehrheiten, gegen das Verhalten des Verlages aufzumucken. Einige verteilten gar an der Frankfurter Hauptwache Protest-Flugblätter. Gerold kam vorbei, auch ihm wurde ein Blatt in die Hand gedrückt. Im Städtchen Dietzenbach bei Frankfurt am Main fanden die FR-Bezieher eines Morgens ebensolche Flugblätter, sorgfältig eingelegt in jedes Zeitungsexemplar.


An der Universität Mainz beantragten die Studierenden der Kommunikationswissenschaft beim Fakultätsvorstand Geld für einen Lehrauftrag: Ein Semester lang sollte ich sie in Vorlesungen und Seminaren über die Zustände in den Redaktionen aufklären. Die Direktorin des Instituts, Elisabeth Noelle-Neumann, widersetzte sich. Daraufhin trugen die Studierenden selber das Geld zusammen – mehr als genug, um mich regelmäßig von München, wo ich damals lebte, einfliegen zu lassen. Diesen Auftrag erfüllte ich gern. An der Freien Universität Berlin gründete sich eine »Aktion Pressefreiheit«, die mit den Unterschriften vieler Professoren bei der FR eine große, teure Anzeige aufgab: einen Aufruf an Gerold, mich wieder zu beschäftigen. Er überwand sich, das Inserat zu veröffentlichen, ergänzt durch einen mehrspaltigen Artikel und ein Gedicht (»Dem Guten ist alles gut / Dem Bösen ist alles böse …«).


Das Arbeitsgericht wollte ihn befragen, aber er erschien nicht, wie sich schon andere Verleger (Axel Cäsar Springer, Johann Evangelist Kapfinger) geweigert hatten, gerichtlichen Ladungen zu folgen. Ich erreichte einstweilige Anordnungen, in denen mir zunächst die Fortzahlung des Gehalts, dann auch das Recht auf Beschäftigung zugesprochen wurde. Gerold meinte diese Entscheidung so interpretieren zu dürfen, dass er mich über seinen und meinen Anwalt beauftragen könnte, zu seiner persönlichen Kenntnis, also nicht für die Öffentlichkeit, Studien über die von Willy Brandt verwendeten Begriffe »neue Mitte« und »gute Nachbarschaft« zu verfassen. Ich leistete gründliche Arbeit und ließ ihm wie gewünscht das Ergebnis auf demselben Wege zukommen.


Zu einem Termin beim Landesarbeitsgericht schickte er einen Redaktionskollegen, der mich diskret fragen sollte, ob ich bereit sei, gegen eine sechsstellige Summe auf meine Ansprüche zu verzichten. Ich antwortete, hier gehe es um Grundrechte, die meine Gewerkschaft und ich uns nicht abkaufen lassen könnten – dafür hätten meine Kollegen mich nicht zum DJU-Vorsitzenden gewählt. Dieselbe Antwort gab ich auf alle Angebote von dritter Seite; sie reichten von zwei Professuren über leitende Positionen bei diversen Zeitschriften bis hin zu einem monatlichen Honorar des Deutschen Industrieinstituts; dessen Direktor erwartete dafür jeweils eine Niederschrift (nur fünf Seiten) über meine Meinung zu Themen, die ich für wichtig hielt. Er sei persönlich sehr interessiert an meiner Meinung …


Ich erhielt in allen Verfahren Recht. Gerold wandte sich auch noch ans Bundesarbeitsgericht, aber bevor sich diese letzte Instanz mit dem Fall befassen konnte, starb er. Sein Nachfolger Werner Holzer traf sich mit mir im luxuriösen »Frankfurter Hof«. Beim Verzehr einer »Grie Sooß« hub er an, die Gretchenfrage zu stellen: »Wir sind uns aber einig: Die Rundschau hat nichts am Hute mit …« Er zögerte. Wen oder was konnte er meinen? Die Nazis? Ich fragte: »… mit Stamokap?« Das war damals die Abkürzung für die Linken bei den Jungsozialisten. Leicht irritiert sagte Holzer: »Ja.« Danach wurde ich in alle meine vertraglichen Rechte wiedereingesetzt. Meinen Arbeitsplatz in München hatte Gerold inzwischen mit einem Journalisten von der Welt besetzt. Einvernehmlich bekam ich einen gleichwertigen als Korrespondent in Hannover. Und es schloss sich fast ein Vierteljahrhundert an, in dem ich nach bestem Wissen und Gewissen über Themen wie Berufsverbote, Nazis, Atommüll, über Ernst Albrechts Rechtfertigung der Folter, Peter Strucks Geldtransporte nach Spanien und die Schwierigkeiten der Universität Oldenburg, sich nach Carl von Ossietzky zu benennen, schreiben konnte und niemand mich daran zu hindern versuchte. Ich hatte einen festen Stand – bis kurz vor Schluss, als ein junger stellvertretender Chefredakteur in Frankfurt besser als ich in Hannover zu wissen glaubte, was bei den »Chaostagen« vorgefallen war …


Meine Korrespondentenstelle gibt es längst nicht mehr. Viele Artikel in der FR sind jetzt dieselben, die man auch in der Berliner Zeitung und anderen Blättern der DuMont-Mediengruppe lesen kann. Hauptgesellschafter der FR ist der Verlag der Frankfurter Allgemeinen Zeitung und der Frankfurter Neuen Presse. Immer neue »Sparprogramme« haben die Redaktionen dermaßen schrumpfen lassen, dass eigene Berichterstattung und sorgfältige Recherche kaum noch möglich sind. Und die Pressekonzentration geht weiter. Fast überall im Lande herrschen Monopole. Ich halte diesen Zustand für verfassungswidrig. Aber welche Tageszeitung außer der antimonopolistischen jungen Welt macht das zum Thema?


Mit der FR habe ich nun keinen Kontakt mehr. Beendet.