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Titel517

Ästhetik, Literatur und Zeitkritik  (Klaus Nilius)

»Viel übrig bleibt ja nicht«, entfuhr es Tina Hassel, der Leiterin des ARD-Hauptstadtstudios in Berlin, spontan im Berliner Reichstag. Gerade hatte eine kurze Präsidentenchronik über die elf männlichen Vorgänger der Redaktion ein Quantum Zeit geliefert zum Füllen der Sendeminuten zwischen Stimmabgabe und Bekanntgabe des Ergebnisses zur Wahl des neuen Bundespräsidenten.

 

Es ist tatsächlich nicht viel, was da von einigen unserer Staatsoberhäupter und ihrem historischen Wirken von der Festplatte der Erinnerung abgerufen werden kann an Worten, die eine Amtszeit überdauerten, abseits der Nachrufe: Der eine saß gerne »Hoch auf dem gelben Wagen« (1973), der andere verabschiedete sich als Manövergast von den Grenadieren der Bundeswehr fröhlich mit dem Spruch »Nun siegt mal schön« (1958). Ein anderer wiederum verwechselte Osaka, die drittgrößte Stadt Japans, mit dem Potenzmittel Okasa (1966). Und von dem jüngst Gestorbenen bleibt der »Ruck« aus seiner »Berliner Rede« in Erinnerung (1997) wie das »Mädle ruck, ruck, ruck« aus dem Volksliederarchiv.

 

Und dann gibt es da noch Karl Carstens, den Wanderpräsidenten. Er ragt heraus aus dieser grauen Reihe alter Männer und ging als eine besondere Art Literaturkenner in die Annalen ein. Zwar rührt dieser Ruhm noch aus seiner Zeit als Vorsitzender der CDU-Bundestagsfraktion her, doch haftete er ihm an bis zu seinem Tode (1992) und fand Eingang in einzelne Nachrufe. Carstens hatte 1974 in einer Rede »die ganze Bevölkerung auf[gefordert], sich von der Terrortätigkeit zu distanzieren, insbesondere den Dichter Heinrich Böll, der noch vor wenigen Monaten unter dem Pseudonym Katharina Blüm ein Buch geschrieben hat, das eine Rechtfertigung von Gewalt darstellt«. So dumm wird man unvergesslich.

 

Heinrich Bölls Literatur war immer auch Zeitkritik, und seine Zeitkritik wurde Literatur. Diesem Zusammenhang widmet der »Freipass – Forum für Literatur, Bildende Kunst und Politik«, eine Schrift der Günter und Ute Grass Stiftung, seinen Schwerpunkt in Band 2, nach Irmtraud Morgner in Band 1 (siehe Ossietzky 20/2015). Günter Grass selbst hatte nur wenige Wochen vor seinem Tod das Thema noch mit vorbestimmt. Grass wollte, dass Heinrich Böll (1917–1985) im Vorfeld seines 100. Geburtstages in diesem Jahr »ein vielstimmiges Porträt« gewidmet wird und »dass neben dem kämpferischen Engagement vor allem Bölls ästhetische Leistung für die deutsche Literatur nach 1945, seine heute oft verleugnete Fähigkeit, die geschriebenen Wörter ›nach Maßen der Kunst zu setzen‹, im Vordergrund stehen sollte« (die Herausgeber im Vorwort).

 

Anders gesagt, der Literaturnobelpreisträger von 1999 wollte, dass der etwas ins literarische Abseits geratene Literaturnobelpreisträger von 1972 endlich wieder so in der Öffentlichkeit erscheint und gesehen wird, wie er es verdient. Daher sind konsequenterweise dem »Freipass« auch zwei CDs beigefügt, mit der jeweiligen Nobelpreisrede.

 

»Literatur als Zeitkritik«, »Kriegsbriefe Heinrich Bölls als tragende Säulen seines Gesamtwerkes«, Heinrich Bölls »Irisches Tagebuch«, die Rolle »fotografischer Motive als poetologische Metapher bei Grass und Böll« und schließlich: »Heinrich Böll und die Springer-Presse«: das sind die Themen dieses literarischen Schwerpunktes. Wer die zehn »Springer«-Seiten liest, diesen Shitstorm der Rechtskonservativen aus Presse, Funk, Fernsehen und Politik (Carstens), den erst das oberste deutsche Gericht nach insgesamt siebenjährigem Verfahren beendete, und zwar mit einem Sieg Bölls, der kann ermessen, wie viel Kraft es diesen gekostet haben mag – und dass Böll »für die Meinungsfreiheit eine Lanze gebrochen« hat und ein Urteil erstritt, das »Rechtsgeschichte« schrieb: »Korrekte Zitate sind seither fester Bestandteil der Rechtsordnung« (Joachim Kersten in seinem Beitrag).

 

Da der »Freipass« auch ein wichtiges Forum der Grass-Forschung darstellt, versammelt dieser Band wiederum unveröffentlichte Originaltexte »aus der Werkstatt«, Fundsachen aus Archiven und wissenschaftliche Aufsätze.

 

Die Rubrik »Zunge zeigen« beschäftigt sich in wissenschaftlichen und literarischen Texten mit Flucht und Vertreibung im Europa der Nachkriegszeit und von heute.

 

Volker Neuhaus, Per Øhrgaard, Jörg-Philipp Thomsa (Hg.): »Freipass«, Band 2, 327 Seiten, zwei CD-Beilagen, Ch. Links Verlag, 25 €. – »Verschiedene Ansichten: Böll und Grass« heißt eine Sonderausstellung im Günter Grass-Haus, Lübeck, mit Originalexponaten und Zeitdokumenten zu den beiden Autoren (bis 31. August 2017).