Harald Kretzschmar setzt in seinen Karikaturen Fakten gegen die Unkultur unserer Zeit und das einschläfernde Geschwätz von der Schlechtigkeit in der DDR. Ossietzky-Lesern ist Kretzschmar als Autor bekannt: Je älter er wird, desto kompromissloser trumpft er auf. Seine satirischen Texte sind demnächst von ihm zu hören, wo er mit dem Titel »Querdurch und mittendrin« seine wuchtigen oder filigranen Pinselzeichnungen oder die mit Acrylfarben farbig inszenierten Großblätter, sämtlich in den Originalen zu bewundern, ausstellt: in der Willi-Sitte-Galerie. Die Merseburger Ausstellung ist ein gelungenes Debut der Galerieleiterin Katja Langhammer.
Bei den Exponaten der Ausstellung zum Bitterfelder Weg und zu den Verbandskontroversen veräppelt Kretzschmar den Realismuswahn von Kunsthochschulen, die für Naturalistisches die Tür aufsperrten, aber gegen »Formalistisches« Schlösser anbrachten. Das erlebte der Berliner und Dresdener in seinem fünfjährigen Studium in Leipzig während seiner Graphik-Ausbildung, die aus ihm einen großartigen Porträtisten gemacht hat. Das zeigen Cartoons von Arno Mohr und Fritz Cremer, aber auch seine satirischen Zeichnungen, die ab 1955 mit Beginn seiner freischaffenden Tätigkeit vor allem für den Eulenspiegel entstanden. Vergnüglich ist es, die von Spaß durchschüttelte Ausstellungsbesuchertraube zu sehen, welche die alten Wimmelbilder betrachtet, auf denen 1966 »Kurella la, Kurellala« mit Lea Grundig, dem kleinen »SCHWEDTenmädel«, tanzt, Willi Sitte »Platz für Halle!« fordert und Womacka ausruft: »Hilfe, die SITTE kommt!«, Eberhard Bartke »Über die wahre Bedeutung des Eigentlich-Schönen« ohne Zuhörer referiert und Ronald Paris nicht gestört werden darf, weil er das Bild »ICH AUF DEM BALL 1967« malt. Oder wir sehen auf dem Großformat von 1964 »Die Literatur auf Achse nach Bitterfeld« Schriftsteller, laufend oder auf Fahrzeugen in Schlangenlinien, die dogmatische Fraktion gegen die tolerante Position. Am rechten Rand demonstrieren Gartenzwerge fahnenbestückt: »Wir stehen nicht abseits im Garten!« Am linken Rand Erik Neutsch, der mit »Spur der Steine«, die »in den geteilten Himmel« führt, aus der Kurve gerät. Daneben der unbesetzte Hubschrauber des FORUM, der FDJ-Zeitung für geistige Probleme der Jugend ist die Redaktion verloren gegangen. 1965 kam dann Rudolf Bahro, der das von Kretzschmar gezeichnete Warnschild »Kraftfahrer vermeidet Umfälle!« wohl nicht recht verstanden hat.
Der Ausstellungsort erinnert an eine Geschichte, über die ich mich mit Harald Kretzschmar verständigt habe: Peter Ludwig, der Schokoladen-Ludwig, schlug dem Verbandspräsidenten Willi Sitte vor, einen künstlerischen Austausch zwischen Ost und West in Gang zu setzen und Werke von Künstlern der DDR anzukaufen und auszustellen. Mit den einkommenden finanziellen Mitteln wurden dann Künstlern Reisen und Ausstellungen ermöglicht. Bedeutende Kunst der DDR wurde in Aachen, dann in Oberhausen, der westlichen Welt präsentiert.
Das war der Grund, weswegen Willi Sitte mit raffinierten Methoden der Partei- und Staatsführung in einem Pakt manches Förderliche für seine künstlerischen Kollegen entrissen hat. Ironisch und mit Bewunderung nahm Kretzschmar 1981 Sitte unter die Lupe, als er ihn für den Eulenspiegel porträtierte. Ein Mensch mit diabolischem Grinsen und Geheimratsecken, der manches im Schilde führt. Die Karikatur spielt stilistisch hinüber zum Mephisto von Klaus Maria Brandauer, der Gustaf Gründgens im selben Jahr spielte. Doch bei Sitte war es kein Pakt mit dem Teufel. Wäre Kretzschmar ein »Widerstandsanpasser«, könnte er diese Karikatur vorweisen als einen klar sich zeigenden offenen Widerstand. Doch wir Ossietzky-Leser wissen, dass er »imponierende Qualität« in der Kunst der DDR auch dort findet, wo Künstler und Werk nicht behindert wurden. Gegenstimmen durchzogen die Kunst insgesamt und klangen auch in sozialistischen Auftragswerken auf.
Kretzschmar ist zwar kein Tugendwächter, aber ein Meister des Humors, welcher immerhin zu den Tugenden zählt. Sein Humor findet eine originelle, mit Raffinement erarbeitete Pointe, er denkt clever und komplex, ist ein Meister der Dialektik, feilt diese, weil als sozialistisches Denküberbleibsel diskriminiert, zu neuer Schärfe. Er bedient sich paradoxer Verkehrungen, so von Ziel und von Engagement in den Tageskarikaturen »Du hast ja ein Ziel / vor den Augen: / Pegida!«
Der Karikaturist schickte zum Jahreswechsel einen Gruß, Glück im neuen Jahr 2017: Wütend gehen im Kampf um die Mitte einer mit Scheuklappen und einer mit einem Brett vor der Stirn, CSU und AfD, aufeinander los. Doch die alte, ironisch verfremdete Empfehlung »Mit klarem Blick ins Wahlkampf-Jahr!« könnte sich wohl ebenso auf die Streithähne und -hühner bei den Genossen beziehen.
Kretzschmars Konzept, quer zu denken, stellt der Querdenker als Erfolgsprogramm dar. Jeder darf raten, ob diejenigen, die geradeaus denken und die auf Feindbilder fixiert sind, oder die anderen, die um die Ecke – »mitunter rundum« – denken und Freundbilder bevorzugen, »besser geeignet [sind], in einer Demokratie etwas zu bewirken«. Das Rätsel wird spätestens derjenige lösen können, der die Exposition betrachtet oder Kretzschmar zur Finissage hört, bei der er aus biographischen Texten zu Willi Sitte, Bernhard Heisig, Wolfgang Mattheuer und anderen Künstlerkollegen ganz von mittendrin ironisch schöpfen wird.
Merseburg, Willi-Sitte-Galerie, Domstraße 15, bis 9. April, Di. bis Do. 11 bis 16 Uhr, Fr. und Sa. 11 bis 15 Uhr. Am 8. April liest Harald Kretzschmar um 15 Uhr in der Galerie.