»Beim Barte des Proleten!« Da drückte mir doch im Umfeld der Tucholsky-Jahrestagung 2016 in Szczecin der Autor und Kabarettist Jürgen Klammer seine gleichnamige Dokumentation über die Berliner »Distel« in die Hand. Und die legte ich vor dem Auslesen nicht wieder aus derselben.
»Beim Barte des Proleten« ist ein rundum gelungenes Buch. Es ergänzt, illustriert und spezifiziert Christopher Dietrichs »Freiräume – das Kabarett in der DDR zwischen MfS und SED« am Beispiel der Distel sachkundig und ausgewogen. Es erläutert, wie sich einst Schauspieler und Satiriker wie Heynowski, Brehm, Kusche, Stengel und andere ein zeitweilig hoffnungsvolles Klima und die Forderung eines ND-Leitartikels, »die Waffe der Satire zu schärfen«, schlitzohrig zunutze machten und den Berliner Oberbürgermeister Friedrich Ebert beim Wort nahmen. Am 4. Oktober 1953, wenige Wochen nach dem 17. Juni, startete das erste politische Kabarett der DDR in einer festen Spielstätte am Bahnhof Friedrichstraße sein erstes Programm »Hurra, Humor ist eingeplant!« Der damit eingeschlagene Weg war und ist von Höhen, Tiefen und Widersprüchen geprägt, berührt die Lebensleistung und das Schicksal von Autoren und Interpreten und spiegelt ein gutes Stück DDR-Kulturgeschichte wider. Die Schere zwischen dem Lob und der Schelte für Texter und Kabarettisten der Distel bewegte sich zwischen Nationalpreis und Misstrauen. Sie führte in einem Falle auch zu einer Verhaftung, wobei der Nationalpreis wie auch andere staatlich-offizielle Orden in der Gesamtbilanz wesentlich dichter gesät waren als die den Autor Manfred Bartz betreffende zeitweilige Freiheitsberaubung. Es war Bartz‘ Schicksal, wie seine scharfzüngige Kollegin Inge Ristock treffend bemerkte, dass er »die Tinte nicht halten konnte«. Andere konnten das zeitweilig besser – aber eine Gratwanderung blieb das Kabarett allemal. Und das nicht nur in der DDR, wie die jüngste Vergangenheit beweist.
Was mir an der flüssigen Dokumentation besonders imponiert, sind nicht nur die zahlreichen Beispieltexte, sondern auch die Anmerkungen und Einblendungen zu den Lebens- und Arbeitsverläufen von Kabarettisten, Regisseuren und Karikaturisten sowie die Wertschätzung aller weiteren Programmbeteiligten. Nicht weniger berührten mich die Exkurse zu anderen Kabaretts wie zur Dresdener Herkuleskeule und zur Leipziger Pfeffermühle, zumal einige Kabarett-Ikonen wie Edgar Külow, Helga Hahnemann oder Gisela Oechelhaeuser nicht nur den Weg, sondern mitunter eher den Umweg nach Berlin über andere Institutionen genommen hatten. Dabei offenbart der Autor nicht nur umfangreiche Sachkenntnis, sondern auch Fingerspitzengefühl. Er dokumentiert den stachligen Distel-Weg vom häufig kritisierten, aber subventionierten Partei- und Staatskabarett bis hin zur privatrechtlichen GmbH nach 1989 bei personeller Reduzierung um rund 50 Prozent. Eine Fülle von sorgsam ausgewählten Fotos und Dokumenten bereichert die Kabarett-Geschichte der Distel plastisch.
Die besondere Brisanz des letzten DDR-Programms »Keine Mündigkeit vorschützen« im Spielball der inneren Zerrissenheit zwischen Gestaltern und offiziellen Besserwissern, zwischen Zensur und Selbstzensur unterscheidet sich deutlich von den besonderen Umständen der ersten Nachwende-Aufführung »Mit dem Kopf durch die Wende«. Entscheidend für die Zukunft und den weiteren Bestand der Distel als Institution waren beide.
Mit Genugtuung ist auch der Versuch des Autors abzunicken, das Zueinanderfinden von Kritikastern aus Ost und West am Beispiel darzustellen. Übrigens: Ein besseres Vorwort zur Dokumentation als das von dem inzwischen leider verstorbenen Volker Kühn hätte man dem »Bart des Proleten« kaum wünschen können. Jürgen Klammer hat einen wichtigen Beitrag zur deutschen Kabarett-Geschichte und für den Fundus des Kabarett-Archivs in Mainz und Bernburg geleistet.
Beim Barte des Propheten: Weder der Insider noch der Interessierte sollte die neugierige Lektüre dieses wunderbaren Buches versäumen.
Jürgen Klammer: »Beim Barte des Proleten – Geschichten aus dem Kabarett-Theater Distel«, selbstironieverlag, 272 Seiten, 34,90 €. Der Verlag freut sich über Direktbestellung unter: info@selbstironieverlag.de.