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Titel518

Italien: Alle Macht dem Volke?  (Susanna Böhme-Kuby)

Auch 200 Jahre nach Karl Marx‘ Geburt erfreuen sich die meisten seiner Erkenntnisse noch immer weltweiter Hochachtung, doch der vorläufige Sieg des Kapitals über den Faktor Arbeit hat die Arbeitenden als historisches Subjekt weitgehend abgesetzt. Das hat schwerwiegende Folgen. Der Niedergang der politischen Vertretung der Arbeiterinteressen, der einstigen »Linken« verschiedener Couleur, hat seit einigen Jahrzehnten zu einem Vakuum geführt, das sich inzwischen leicht mit schlichter Resignation, mit Populismus, sowie mit dem in Krisenzeiten immer wieder aktivierbaren Neofaschismus füllen lässt.

 

Kann die noch existierende nicht-imperiale Linke dem begegnen und wie? Wie kann man welche Alternativen zum Bestehenden aufzeigen, das von den Herrschenden als beste aller möglichen Welten verteidigt wird, in der allerdings wachsende Mehrheiten und ganze Generationen zu langfristigen Verlierern gehören?

 

Im bisherigen Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten sind die Differenzen auch unter den einzelnen Nationen größer geworden als je zuvor. Während in Deutschland verglichen mit den Staaten der Peripherie das Wohlfahrtssystem noch »reich« erscheint, hat die Sparpolitik in Griechenland oder Italien die Gesellschaften an die Grenzen des sozialen Zusammenhalts geführt. Die mitregierende Linke hat sich überall in Europa den Postulaten des Neoliberalismus weitgehend untergeordnet und damit das Vertrauen der Betroffenen verloren, selbst im deutschen Hort der Ordnung fürchtet man inzwischen gar Unregierbarkeit und zunehmend autoritäre Tendenzen.

 

Der Versuch von Wagenknecht/Lafontaine, hier eine neue linke Bewegung oder Partei zu gründen, wie sie anderswo bereits Zulauf gewonnen hat (s. Corbyns Labour Party oder France insoumise von Mélenchon), beruht offenbar auf der Einsicht, dass die anstehenden Probleme eine radikalere Lösung verlangen, als die parlamentarischen Linken sie heute bieten. Doch bei den Krisenverlierern in Europa gründen sich die jüngsten linken Alternativen auf vielfältige Basisbewegungen in notleidenden Gesellschaften. Peter Grottian hat in Ossietzky 4/18 auf diesen wichtigen Unterschied zur deutschen Situation hingewiesen. Er scheint mir entscheidend zu sein, vor allem wenn erneuerte Formen der politischen Teilhabe langfristig entwickelt werden sollen.

 

Auch in Italien, der einstigen Hochburg des Euro-Kommunismus, hatten die nach 1991 verstreuten Rest-Kommunisten mehrfach Versuche zu Ad-hoc-Wahlbündnissen »von oben« unternommen, die alle mehr oder weniger an ihrer »Kopflastigkeit« scheiterten und keine Verankerung mehr in den Fabriken und Wohnvierteln hatten. Die demokratische Partei (PD), die unter ihrem Chef Matteo Renzi dann die einschneidendsten neoliberalen »Reformen« durchsetzte, band bis vor kurzem die reformistischen Linken der Mitte an sich, die doch endlich mal (mit-)regieren konnten! Die seit fast zehn Jahren außerparlamentarische Rifondazione comunista und andere restkommunistische Formationen näherten sich inzwischen den vielfältigen Basisbewegungen, die in der sogenannten Zivilgesellschaft an unzähligen Problempunkten agieren.

 

Denn nicht nur die soziale Situation von Millionen Menschen in Italien ist desaströs, sondern auch die prekären Umweltbedingungen für 7,5 Millionen Italienerinnen und Italiener, die laut der größten Umweltorganisation Legambiente in Gebieten mit starken hydrogeologischen Risiken leben. Allein die Kosten für die rudimentäre Sanierung jüngster Erdbeben- und Überschwemmungsschäden beliefen sich in den letzten drei Jahren auf 7,6 Milliarden Euro. Notwendige strukturelle Sanierungsmaßnahmen würden kostenmäßig dagegen die Sparauflagen aus Brüssel sprengen und unterbleiben auch deshalb. Das hat vielen Menschen deutlich gemacht, wie die sogenannte finanzielle Stabilisierung des Landes nur auf Kosten sozialer Destabilisierung erreicht wird und die Schuldenfalle zur gesellschaftlichen Enteignung bei Bürgerrechten, Gemeingut und Demokratie führt.

 

Dagegen hat sich im letzten Dezember, also erst drei Monate vor dem Wahltermin am 4. März, ein breitangelegtes offenes Linksbündnis formiert. Es besteht aus vielen sozialen Bewegungen, der Partei der Rifondazione comunista sowie weiteren kleinen kommunistischen Gruppen und hat sich bei über 130 lokalen Versammlungen landesweit geeint durch einen radikalen antikapitalistischen Konsens. Sein Name, mit dem es nun sogar zum Wahltermin antrat: Potere al Popolo (PaP – die Macht dem Volk) ist nichts anderes als die Direktübersetzung von Demokratie, und die ganze Bewegung basiert auf dem Prinzip der Gegenseitigkeit (mutualismo). Entscheidend ist die alltägliche Verankerung in der Bevölkerung, deren Interessen sich durch Vertreter »von unten« artikulieren sollen. Das ist ein wichtiger, sie qualifizierender Umstand, der vor allem aus der Erfahrung von Neapel herrührt, wo der außergewöhnliche Bürgermeister Luigi de Magistris seit 2011 erfolgreich »mit dem Volk« für die Umsetzung der italienischen Verfassungsprinzipien in die alltägliche Wirklichkeit regiert. Das dort mit der Besetzung des ehemaligen Justizpsychiatrischen Hospitals entstandene Kollektiv »Je só pazzo« hat auch das neue Wahlbündnis PaP mitinitiiert, dessen Sprecherin Viola Carofalo, eine junge Philosophin an der Universität Neapel, zu den 50 Prozent der prekären Lehrkräfte an den italienischen Universitäten gehört.

 

Obwohl PaP am 4. März das nötige Quorum für das Parlament nicht erreichte (ohne Medienpräsenz und finanzielle Ressourcen war das sowieso ein kühner Versuch!), ist schon Mitte März ein Treffen der antikapitalistischen Linken zu einem »konstituierenden Prozess« geplant. Dafür ist ein langer Atem im Hinblick auf die Europa-Wahlen 2019 nötig. Denn nach dem Wahldebakel der PD und auch ihrer Linksabtrünnigen, Liberi e Uguali (LeU), ist die Zukunft der gesamten alten wie neuen Linken völlig offen.

 

Europa 2019 ist ein komplexes und hochbrisantes Thema, über das es noch viele Differenzen auch innerhalb der europaweiten Linken gibt, von den Befürwortern eines Ausstiegs bis zu denen eines »anderen« Europas, eines stärker nationalstaatlichen oder föderativen Bundes.

 

Es geht um nichts weniger als um eine radikale Neugestaltung, wenn die EU nicht zu einer Militärfestung mit imperialistischen Ambitionen erstarren soll. Und eine künftige Linke wird weit über nationale Verteilungskämpfe hinausblicken müssen, wenn sie denn bestehen will. Es gibt viel zu tun.