UN-Generalsekretär António Guterres hat auf der ansonsten von Hardlinern dominierten Münchner Sicherheitskonferenz als einziger die dramatisch gefährliche Kriegssituation in der Welt nachgezeichnet. Und er hat als einziger der Russischen Föderation gedankt für die Konferenz in Sotschi, die eine Friedenslösung und freie Wahlen in Syrien gefordert hat und vom Westen boykottiert und von der Großpresse nur kritisiert wurde.
In München wurde auch die angebliche Notwendigkeit neuer, kleinerer Atomwaffen debattiert, die die Hemmschwelle angeblich erhöhen sollen. Spürbar fehlte ein Entspannungspolitiker wie Egon Bahr. Seit seiner Tutzinger Rede »Wandel durch Annäherung« 1963 hatte er sich das Image des Meisters der Diplomatie erworben, des Brückenbauers, der Krisen durch Verhandeln entschärft. Frieden war seine Priorität.
Eine der letzten Reden Egon Bahrs galt dem 60. Jahrestag des Russell-Einstein-Manifestes im Juli 2015. Darin erinnerte er an etwas, was doch eigentlich alle wissen: Die atomare Zweitschlagsfähigkeit, über die alle A-Mächte verfügen, macht die klassische Hoffnung auf Sieg im Krieg sinnlos. Wer zuerst schlägt, stirbt als zweiter, setzt die verrückte Bereitschaft zum eigenen Ende voraus. Die Theorie der Abschreckung sei eine unverwendbare Theorie geworden. Sicherheit voreinander muss durch Sicherheit miteinander ersetzt werden.
Wer erinnert denn heute noch an die Lehren von Brandt und Bahr? Als vor 20 Jahren auf Initiative von Bahr der Willy-Brandt-Kreis gegründet wurde, ein in-offizieller Gesprächskreis von linken Sozialdemokraten und Linken mit und ohne Parteibuch, hatte ich die Ehre, dabei zu sein.
Im Gründungsaufruf 1998 hieß es: »Der Mangel an Orientierung für Deutschland und Europa ist offenbar. Die gesamteuropäische Stabilität muss über und vor die Erweiterung der NATO gestellt werden. Ein ungebändigter Kapitalismus vernachlässigt sein wertvollstes Kapital, den Menschen. Transnationale Großunternehmen operieren ohne Gegenmacht und unterminieren die Demokratie. Die Politik muss die Fähigkeit zurückgewinnen, auch der Ökonomie gesellschaftliche Rahmenbedingungen zu setzen. Wenn das nicht gelingt, drohen in Europa Verhältnisse wie in der Weimarer Republik.«
Inzwischen sind diese fast erreicht. Mein politisches Denken wurde durch die Begegnung mit Egon Bahr und dem Kreis dahingehend bestärkt, dass bei Verhandlungen mit Überheblichkeit nichts zu erreichen ist, sondern man sich der Unvollkommenheiten und Fehler der eigenen Seite immer bewusst sein sollte. Westliche Werte – diesen Euphemismus hat Bahr nie benutzt. Weil damit die freiheitlichen Ideale von Demokratie als Feigenblatt benutzt werden, um die Verheerungen der in globalen Zwängen der Gewinnmaximierung steckenden Wirtschaftsordnung zu kaschieren. Damals schon sagte er: »Täglich sind die Entartungen eines Kapitalismus zu erleben, der seinen Konkurrenten verloren hat. Seine Fähigkeit, sich ohne Konkurrenz zu reformieren, muss noch bewiesen werden.«
Diese Hoffnung nicht aufgebend, verfassten wir im Kreis unter seiner Federführung einen Appell zur Beendigung des Jugoslawien-Krieges – vergeblich selbstverständlich. Gegen NATO-Logik kam auch ein Egon Bahr nicht an, aber er ließ nicht locker. Zu einem normalen Selbstwertgefühl gehöre auch die Fähigkeit, einmal Nein zu Vorschlägen der Verbündeten zu sagen, beharrte er. »Die konzeptionslose Ausweitung der NATO – bis wohin eigentlich? –, ohne die vereinbarte Partnerschaft mit Russland zu vollziehen, möge Deutschland verhindern.« Später beklagte er in unserer Runde, die NATO-Osterweiterung sei ein Jahrhundert-Fehler gewesen.
Oft genug gingen seine visionären Forderungen der realen Politik, auch seiner eigenen Partei, zu weit. Etwa wenn er warnte, den Schutz von Menschenrechten nicht als Begründung für Gewalt und Eroberung zu missbrauchen. »Gewalt ist vollkommener geworden als das Völkerrecht. Eine weltweite Diskussion über Prävention ist dringend erforderlich.«
Wer sich mit Russland einlässt, kann die Berührung mit Tragik nicht vermeiden, war seine Erfahrung. Wofür Stalingrad nur eine Metapher von vielen ist. Und doch einmalig dafür, den Ausgang des Krieges bestimmt und die Tragik folgerichtig auch gegen die Eindringlinge gewendet zu haben.
Egon Bahr verhandelte auf oberster Ebene, hat dort Kontakte gehalten, bis zu privaten Freundschaften. Bei seiner Hochzeit 2011 war auch der eben verstorbene Valentin Falin geladen und sein zuverlässiger Freund und »back channel« Wjatscheslaw Keworkow. Dieser KGB-Mann hatte die Verhandlungen mit Egon Bahr vorangetrieben, die 1970 zum Moskauer Vertrag führten. Wo sind solche Einladungen heut noch denkbar, ohne gleich der Kontaktschuld verdächtigt zu werden?
Egon Bahr konnte zuhören, er war neugierig. Und hat uns in unserem Thinktank auch ermuntert, Kontakte auf anderen Ebenen zu pflegen – auf wissenschaftlichen, künstlerischen, lokalen. Wenn die oberste Politikebene versagt, muss der Wille zum Frieden aus der Gesellschaft kommen. Es soll noch hunderte Hochschul- und Städtepartnerschaften geben, aber man hört nie etwas davon. Sind sie nicht mehr aktiv, oder haben Journalisten nicht den Auftrag, darüber zu berichten?
Es gibt in Berlin eine große russische Community – aber von einem lebhaften Gedankenaustausch hört man wenig. Sind wir selbst neugierig genug? Ich empfinde diese Sprachlosigkeit als große Leerstelle. Wo sind denn all die Intellektuellen geblieben, mit denen früher, zumindest für Ostdeutsche mit etwas Sprachkenntnissen, doch Gespräche möglich waren.
Was ist eigentlich aus den 20 Millionen KPdSU-Mitgliedern geworden? Sind wir neugierig genug auf Erfahrungen und Erkenntnisse von Menschen, die einst gesellschaftliche Umwälzungen vorantrieben? Der Versuch, Kapitalismus zu überwinden, ist vorerst gescheitert – sind die Ursachen hinreichend besprochen? Was wissen wir über Konzepte, die heutige Defizite in Russland zu überwinden suchen?
Sicher, im Zeichen realer Kriegsgefahr scheinen solche Fragen nebensächlich. Aber vielleicht ist das ein Irrtum, vielleicht haben wir keine Zeit zu verlieren, auf allen Ebenen zu ermutigen.
89-jährig hielt Egon Bahr seine letzte Rede, drei Wochen vor seinem Tod. Kein Zufall: in Moskau. Und er fragte darin, ob die Ostpolitik von 1969 wiederholbar sei. Viele Konflikte seien konstant geblieben, aber neue hinzugekommen, die für ein Bündnis beider Seiten sprächen: etwa der IS und der Cyberkrieg. Man müsse ohne Vorbedingungen verhandeln.
Russland werde allein bestimmen, welche Schritte es zur Demokratie gehe. Die Mehrheit der Länder der Erde lebe mit anderen Werten als den westlichen und erwarte Achtung dafür. »Ich habe noch keine Erwägungen gehört, Sanktionen gegen China oder Saudi-Arabien zu verhängen, weil sie unseren Vorstellungen nicht entsprechen«, spottete er. Deutschland sei vom Rückgang des Handels mit Russland am meisten betroffen, die USA am wenigsten. Dort profitiere man eher von der schwindenden Zusammenarbeit. Und er empfahl – lange vor Trumps Präsidentschaft – die Emanzipation von Amerika.
Auch die Sicherheit für die Ukraine sei nur mit, nicht gegen Russland zu schaffen. »Niemand nähme einen Schaden, wenn die Situation auf der Krim respektiert wird, ohne zeitliche Begrenzung«, schlug er vor.
Körperlicher Einsatz blieb seinen sprachlichen Bildern vorbehalten: Man müsse die Hand am Puls des Anderen halten, um Überraschungen und Missverständnisse zu vermeiden. Und manchmal müsse man am Anfang sein Herz über die Hürde werfen.
Machen wir also einen neuen Anfang.