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Titel518

Ernstfall Frieden  (Werner Boldt)

Die Welt ist voller Kriegslärm, und die Bundesrepublik als Mitglied der US-geführten NATO ist dabei – einst im zerfallenden Jugoslawien, immer noch in Afghanistan, und dereinst vielleicht im zerfallenden Russland, in Kiew, der Wiege des alten russischen Reiches. Dank Trump tauchen in der EU zaghafte Überlegungen auf, militärisch auch einen eigenen Weg zu gehen. Ob damit das bellizistische Treiben gebremst oder gefördert wird, bleibe dahingestellt. Es ist angebracht, »Lehren aus der deutschen Geschichte« zu ziehen, wie es im Titel eines Buches heißt, das der Freiburger Militärhistoriker Wolfram Wette, ein ausgewiesener Pazifist, vorgelegt hat. Das vorangestellte »Ernstfall Frieden« ist einer Rede entnommen, die Gustav Heinemann 1969 als Bundespräsident gehalten hat. In der Zeit der 68er blühte die Friedens- und Konfliktforschung auf. Es entstanden etliche gewichtige Abhandlungen zum Pazifismus in Deutschland, die allerdings in den gängigen Darstellungen zur deutschen Geschichte ignoriert oder allenfalls nur am Rande vermerkt wurden. So ist es schlicht wohltuend, ein Buch in die Hand zu nehmen, dessen Personenregister Namen wie Gerlach, Küster, Foerster, Paasche enthält und mehr Textverweise aufweist als Wilhelm, Hindenburg, Ludendorff, Stresemann oder Ebert.

 

Wette beginnt nicht mit dem Desaster des Ersten Weltkrieges, wie die Datierung im Titel vermuten lässt, sondern zwei Jahre früher mit einer damals viel beachteten pazifistischen Kundgebung. Auf dem Basler Kongress der sozialistischen Zweiten Internationale verpflichteten sich die Anwesenden, alles aufzubieten, um den in Aussicht stehenden Krieg zu verhindern. Ein Schweizer sah vor allem in den 4,5 Millionen Sozialdemokraten in Deutschland, dem »Zentralstaat des europäischen Militarismus«, eine Garantie für den Völkerfrieden. Das sollte sich als Irrtum herausstellen. Als es darauf ankam, riefen die deutschen Sozialdemokraten nicht den Generalstreik aus, sondern folgten »ihrer« Regierung und »ihren« Generälen in den Krieg. Bis auf die serbischen und russischen (bolschewistischen und menschewistischen) Sozialdemokraten taten dies die Sozialdemokraten aller betroffenen Länder, ob diese nun westlich-demokratisch oder mitteleuropäisch-militaristisch geprägt waren. Die sozialistische Arbeiterbewegung hat sich von diesem Sturz nicht wieder erholt. Die Militärs des untergegangenen deutschen Kaiserreichs dagegen beeinflussten auch in der Weimarer Republik weiterhin die Politik. Dazu liefert Wette erstaunliche Dokumente aus den Archiven.

 

Kurz nachdem die Novemberrevolution von militärischen Truppen niedergeschlagen worden war, ging General Groener, der sich während der Revolution mit dem sozialdemokratischen Volksbeauftragten Ebert über die laufenden Ereignisse telefonisch verständigt hatte, einen Schritt weiter. In einem Schreiben an Ebert, nunmehr Reichspräsident der Republik, warnte er vor der Selbsttäuschung pazifistischer »Ideologen«, dass durch Unterdrückung jeglichen nationalen und kriegerischen Geistes der ewige Frieden zu erreichen sei. Er warb dafür, den »Willen zum Kampf ums Dasein« aufrechtzuerhalten und diesen Kampf mit den Völkern der Erde einmal wiederaufzunehmen. Mit diesem Schreiben, bei dem Wette eine »Wesensverwandtschaft« zu Äußerungen Hitlers ausmacht, brachte sich der General nicht um seine politische Karriere. Er wurde Reichswehr- und sogar Innenminister der Republik.

 

Als hätten sie sich abgesprochen, wandte sich nur wenige Tage später der Chef der Reichswehr Hans von Seeckt mit einem Erlass an die höheren Offiziere, in dem er seine Überzeugung äußerte, dass unausbleiblich einmal wieder der Tag kommen werde, an dem das Schicksal das deutsche Volk erneut zu den Waffen rufen werde. Im Dunstkreis solcher Phantasien nahm sich Pazifismus als Landesverrat aus. Wette listet eine Reihe entsprechender Prozesse auf, die in dieser Sache von einer willfährigen Justiz geführt wurden. Leider vermisst man den Prozess, der am meisten Aufsehen erregte. Auf Groeners Betreiben verurteilte im November 1931 das Reichsgericht den Autor eines Artikels in der Weltbühne und Ossietzky als den verantwortlichen Redakteur wegen Landesverrats zu einer Gefängnisstrafe.

 

Nicht im Archiv abgelegt, sondern in den Akten des Reichstags publiziert ist ein in der Geschichtsschreibung unbeachtet gebliebener, aber nun von Wette präsentierter Gesetzentwurf, den die NSDAP im März 1930 im Reichstag einbrachte. Die Nazis forderten die Todesstrafe für Landesverrat, auch für den journalistischen, und für die Untergrabung der Wehrkraft und des Wehrwillens des deutschen Volkes. Dies ist ein frühes Zeugnis für den Willen der Nazis, mit Terror gegen Pazifisten vorzugehen, was Ossietzky als erster erfuhr. Doch sollte das die ehemaligen Siegermächte England und Frankreich nicht von ihrer »Appeasement«-Politik abhalten. Einstein folgend bewertet sie Wette als »unvernünftigen Pazifismus«. Tatsächlich hatte die Förderung des faschistischen Deutschland als einem Bollwerk gegen die Sowjetunion mit Pazifismus nichts zu tun. Schon Ossietzky hatte vor antikommunistischen Hardlinern in England gewarnt, besonders vor Churchill. Es lag an dem ungestümen, unkontrollierbaren Kriegswillen der Nazis, wenn England schließlich doch ihr Kriegsgegner wurde.

 

Aus einer geschönten, mit unkorrekten Begriffen belegten Geschichte lassen sich keine Lehren ziehen. Demzufolge setzt Wette die in legitimierender Absicht als »Nachrüstung« bezeichnete Stationierung von Atomraketen in der Bundesrepublik der 1980er Jahre in Anführungszeichen, und zwar gleich in doppelter Distanzierung: »sogenannte ›Nachrüstung‹«. Unter dem Motto: »Deeskalation und nicht-militärische Konfliktbearbeitung« stellt er der atomaren Rüstung, deren Relikte immer noch auf deutschem Boden auf ihren möglichen Einsatz warten, die richtigen Lehren gegenüber, die aus der deutschen Geschichte zu ziehen sind. Angesichts der heute geübten politischen Praxis fragt er sich allerdings, ob die »zentrale Lehre: ›Nie wieder Krieg!‹« für die Berliner Republik noch verbindlich ist. Er gibt selber die Antwort.

 

Am Kosovokrieg von 1999, »dem völkerrechtswidrigen als ›humanitäre Intervention‹ sich selbst rechtfertigenden Krieg« gegen Serbien, legt er dar, wie die deutsche Außenpolitik militärisch instrumentalisiert wurde, und zwar mit nachhaltiger Wirkung. Gerhard Schröder begrüßte wenig später die »Enttabuierung des Militärischen«, und der Verteidigungsminister Peter Struck hielt es für geboten, die Bundesrepublik »auch am Hindukusch« zu verteidigen. Der im Grundgesetz verankerte Begriff der Verteidigung wurde, wie Wette zutreffend feststellt, vollends ausgehöhlt. Schon 1994 hatte das Bundesverfassungsgericht bei einem Patt von vier zu vier Stimmen mit einem Urteil vorgearbeitet, als es den Einsatz deutscher Streitkräfte außerhalb der Landes- und Bündnisgrenzen legitimierte. Der Anker war gelichtet, die Militarisierung der deutschen Außenpolitik konnte Fahrt aufnehmen. 2012 folgte der Eingriff in die Innenpolitik. Das Gericht gestattete grundsätzlich einen bewaffneten Einsatz der Bundeswehr in einer »ungewöhnlichen Ausnahmesituation katastrophalen Ausmaßes«. Es unterließ, konkrete Angaben zu machen, wann eine solche Situation gegeben ist. Die Büchse der Pandora lässt sich nunmehr öffnen, außen- wie innenpolitisch.

 

Wolfram Wette: »Ernstfall Frieden. Lehren aus der deutschen Geschichte seit 1914«, Donat Verlag, 640 Seiten, 24,80 €