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Titel519

Die Verwirrung der Verwirrungen  (Johann-Günther König)

Der wohl älteste Bericht über die Börse erschien 1688 in spanischer Sprache und trug den Titel: »Confusión de confusiónes«. Die deutsche Erstübersetzung von Otto Pringsheim lautet entsprechend: »Die Verwirrung der Verwirrungen«. Der Buchtitel des Dichters und Spekulanten Joseph de la Vega (um 1650–1692), der an der Amsterdamer Börse fünfmal ein Vermögen gemacht und es ebenso oft verloren haben soll, passt aus gegenwärtiger Sicht gleichsam wie die Faust auf den Brexit. Auch der Inhalt des Buches – er gibt in vier Dialogen Gespräche zwischen einem Kaufmann, einem Aktionär und einem Philosophen wieder und schildert die Börsenverhältnisse des späten siebzehnten Jahrhunderts – dürfte in der City of London, diesem im historischen Stadtkern Londons gelegenen, eine gute Quadratmeile großen eigenständigen »Finanzstaat im Staate«, bei so einigen der noch rund 200.000 Banker durchaus auf zustimmendes Schmunzeln stoßen. Mit Spielern und Spekulanten, die versuchen, »eigenmächtig über die Höhe ihres Verdienstes zu entscheiden, und dazu Zirkel gebildet haben«, kennen sie sich bestens aus. Und treffender als de la Vega können sie gewiss nicht auf den Punkt bringen, was die Spekulanten im wichtigsten Finanzzentrum der Welt, wo rund 40 Prozent des weltweiten Derivatehandels abgewickelt werden, treiben: »Das Labyrinth von Kreta war nicht verwickelter als das Labyrinth ihrer Pläne. Während aus dem ersteren ein Theseus mit dem Ariadnefaden herausfand, konnten aus dem Labyrinth der Börse viele nur mit dem Lebensfaden herauskommen: Kein Faden ist so fein als die Schliche der Spekulanten[,] und kein Haar ist so dünn, daß sie es nicht in der Luft mit ihren Spitzfindigkeiten zerschneiden.« (»Die Verwirrung der Verwirrungen. Vier Dialoge über die Börse in Amsterdam«, ü̈bersetzt und eingeleitet von Dr. Otto Pringsheim, Breslau 1909, S. 33)

 

Spekulieren müssen zahlreiche »Bankster« – so das englische Wortspiel mit Gangster – in diesen brexistischen Tagen nicht nur darauf, in welche andere europäische Bankmetropole ihr Arbeitsplatz wohl verlegt wird, sondern auch, wie hoch die zugleich abfließenden Finanzmittel am Ende der Chaos-Tage sein werden. So müssen Zeitungsberichten zufolge fast 10.000 Beschäftigte London verlassen und künftig in Frankfurt am Main arbeiten. Die US-Banken Goldman Sachs, JP Morgan, Morgan Stanley und Citigroup haben bereits Bilanzaktiva in Höhe von 250 Milliarden Euro nach Frankfurt transferiert, während die Deutsche Bank eine größere Mittel- und Arbeitsplatzverlegung gerade plant. Die Schweizer Großbank UBS siedelt ihre EU-Zentrale nun in Frankfurt und nicht im Windschatten des Big Ben an, die Credit Suisse verlegt ihren Trading Hub nach Madrid und einige andere Aktivitäten an den Main. Ende 2018 empfahl das Institut übrigens den reichsten Kunden, ihr Geld noch vor dem Brexit aus Großbritannien zu schaffen. Andere Finanzmarktakteure wie etwa die französischen Geldhäuser BNP Paribas, Crédit Agricole und Société Générale ziehen mit diversen Abteilungen zurück ins heimische Paris – die Bank of America ist mit von der Partie. Die britische Bank Barclays hat wiederum Vermögenswerte in Höhe von mehr als 165 Milliarden Pfund Sterling an ihre irische Niederlassung transferiert und wird nun wohl die größte irische Bank. Und so weiter und so fort – was der laufende Abzug von Fachkräften und Vermögenswerten für die City of London bedeutet, in der vor einem Jahr rund 250 ausländische Banken Niederlassungen betrieben haben und ein Drittel des globalen Devisenhandels abgewickelt wurde, lautet nüchtern: geringere Steuereinnahmen für die britische Regierung, weniger Arbeitsplätze, abgeschwächte Geschäfte. Ganz zu schweigen von anderen Branchen und vor allem der Industrie, wo das Brexit-Chaos immer mehr Arbeitsplätze und Verdienstchancen killt. Wie stark wird der Finanzmarktsektor, der bislang sagenhafte 6,5 Prozent des britischen Bruttoinlandsproduktes machte, in nächster Zukunft schrumpfen? Zumal die Brexit-Lage immer unübersichtlicher erscheint. Dass das Vereinigte Königreich die EU pünktlich am 29. März verlassen wird, und das hat die Regierung von Theresa May bislang als sakrosankt behauptet, glaubt inzwischen kaum ein Spekulant mehr. Denn das Parlament hat den Austrittsvertrag immer noch nicht gebilligt und wird, wenn das am 12. März, dem nächsten Abstimmungstermin, so bleibt, am 14. März möglicherweise eine Verschiebung des Brexit beschließen. Jedenfalls lehnt eine große Mehrheit der Abgeordneten quer durch alle Parteien einen ungeregelten Brexit ohne eine mindestens zweijährige Übergangsphase, dafür mit Zöllen und Zollkontrollen, absolut ab. Eine chaotische Trennung von der EU wird es also höchstwahrscheinlich nicht geben. Ob der vom Parlament jetzt mehrheitlich gewünschte exklusive Deal über Bleiberechte für EU-Bürger in Großbritannien und Briten in EU-Mitgliedsstaaten zustande kommt, ist die jüngste spannende Frage. Bislang lehnt die EU-Kommission einen außerhalb des verhandelten Austrittsabkommens fungierenden, speziellen Bleiberecht-Vertrag ab. Nur am Rande: Ein gutes Drittel der Angestellten im Finanzstaat City of London stammt aus EU- und anderen Ländern.

 

Kurzum: Für Spieler und Spekulanten sind mit der Verwirrung der Verwirrungen um den Brexit nachgerade paradiesische Zustände eingetreten. Vielleicht fällt er ja sogar ins Wasser. Für politische Wetten, die mindestens so profitabel sein können wie die üblichen mittels der Hebelprodukte Contracts for Difference (CFDs) auf Kursentwicklungen von Aktien oder Indizes, gibt es gegenwärtig kein Halten mehr. Selbst der britische Sportwettenmoloch Bet365 bietet Politikwetten an (als Spezialwetten getarnt). Das Online-Glücksspielunternehmen umgarnt weltweit mehr als 35 Millionen Kunden und beschäftigt rund 4300 Mitarbeiter. Am Stammsitz in der rund 250.000 Seelen zählenden Stadt Stoke-on-Trent ist es der größte private Arbeitgeber. Chefin Denise Coates – sie hält etwas mehr als die Hälfte der Anteile an dem Familienunternehmen – hat 2018 nicht gerade schlecht verdient. Sie erhielt 220 Millionen Pfund und dazu Dividenden in Höhe von 45 Millionen Pfund – umgerechnet insgesamt fast 300 Millionen Euro. Wohlgemerkt mit einem Geschäftsmodell, das möglichst viele Spieler um ihre Existenz bringt. Während Denis Coates, deren Vater den firmeneigenen Fußballclub Stoke City betreut, wahrlich im Geld schwimmt, müssen an die 40 Prozent der Haushalte in Stoke mit weniger als 16.000 Pfund (gut 18.000 Euro) im Jahr über die Runden kommen, sind 3000 Bürgerinnen und Bürger von Lebensmitteltafeln abhängig. Welche Folgen eine extreme Austeritätspolitik nach sich zieht, konnte Joseph de la Vega 1688 nicht wissen – verwirrend sind sie nicht, wie es scheint, eher lähmend.