Es war saukalt und Dascha doof. Wir standen vorm menschenleeren Eingang der Tretjakow-Galerie, doch sie wollte spontan im vegetarischen Café gegenüber einkehren. Erstens, um das im Hotel verschmähte Frühstück nachzuholen, und zweitens, weil sie so früh am Morgen nicht reif für die Kunst sei. Ihre Nerven im Magen und im Hirn befänden sich noch im Tiefschlaf, sagte sie mit schuldbefreiendem Wimpernschlag.
Na gut, sagte ich mir, nach den beiden Tassen Kaffee kannst du jetzt beim zweiten Morgengedeck noch einen Tee vertragen.
Dascha ist Ukrainerin und lebt seit dreißig Jahren im tiefen Westen unseres Vaterlandes, was ursächlich dafür ist, dass man ihre Herkunft nicht mehr hört und sie inzwischen allen modischen und sonstigen Trends folgt, die den Großteil des Lebensinhalts westdeutscher Frauen mittleren Alters ausmachen. Dascha fand, kaum dass sie Platz genommen hatte, das Lokal so wunderbar russisch. Was ich nicht bestätigen konnte: Es sah aus wie eines am Prenzlauer Berg oder in Reykjavik, auch die Toiletten waren unisex. Aber na schön, wenn sie es so empfand. Die beiden Plinsen, die sie wahlweise mit Sirup und saurer Sahne bestrich (»Ich lebe vegetarisch, nicht vegan«), waren selbstverständlich auch über die Maßen köstlich, der Kaffee sowieso. Damit gab sie sich selbst das Stichwort. Sie glaube jetzt mehr Kaffee zu konsumieren als früher, als sie ihn durch den Filter laufen ließ. Sie habe sich nämlich unlängst einen Automaten zugelegt, nicht eben billig, und der könne alles. Espresso, Kaffee, Latte Macchiato, Cappuccino ... Oben schütte man die Bohnen rein, und dann laufe es unten frisch aus den Düsen. Und wie das dufte! Aber, wie gesagt, sie meine jetzt mehr zu verbrauchen als vordem. In der Filterzeit kam sie mit 500 Gramm zwei Wochen hin, jetzt verbrauche sie in der gleichen Zeit ein Kilo Bohnen. Da müsse man sparen, wo es geht und rollt. Zum Beispiel bei den Winterreifen, die sie sich vor dem Flug nach Moskau noch habe aufziehen lassen. (Vermutlich weil dort schon Schnee liegt, dachte ich gänzlich frei von Ironie.) Vier Reifen für insgesamt nur sechzig Euro. Ein echtes Schnäppchen, das habe ihr auch der Monteur gesagt. Die Decken kosteten normalerweise 180 Euro. Ich wagte nun doch mit einem Zwischenruf ihren Redefluss zu stoppen: Neue Reifen?
Fast neu, sagte sie, kaum gefahren.
Dann läutete das vor ihr auf dem Tisch liegende Smartphone. Ein Filmchen von daheim, sie kringelte sich vor Vergnügen. Nachdem sie den Trailer mit nicht nachlassender Heiterkeit mindestens dreimal angeschaut hatte, hielt sie mir das Display vor die Nase. Ich sah zwei dicke Katzen. Miez und Mauz quäkten wie kleine Kinder. Sie seien rollig, sagte Dascha erklärend und lachte. Ihr Neffe hüte sie, während sie sich in der Weltgeschichte herumtreibe, sie lasse die Tiere nie allein. Die zwei?, erkundigte ich mich, um Anteilnahme zu heucheln. Nicht nur die beiden, klärte sie mich auf, sie habe zehn. Ungläubig starrte ich sie an: Du lebst mit zehn Katzen in einer Wohnung? Den zweiten Satz spüle ich mit Tee hinunter. Er hätte gelautet: Kein Wunder, dass es kein Mann bei dir lange aushält.
Dieses Leid hatte sie mir nämlich am Vortag geklagt. Nach der Buchvorstellung und vor den Katzen. Der russische Kognak, der im Übrigen wirklich exzellent war, weshalb sie ihm ungeniert zusprach, hatte ihre ohnehin lose Zunge noch ein wenig lockerer gemacht. Ich weiß nicht, wie viele Toasts bereits ausgebracht worden waren, es waren nicht wenige, weil jeder etwas Wichtiges zu sagen hatte. Auch auffällig viele Frauen. Das Matriarchat schien in Moskau ausgebrochen. Nach jedem Toast führten wir die bis zum Rand gefüllten Gläser zum Munde, und Dascha fragte mich zwischen zwei Trinksprüchen, ob ich sie nicht heiraten wolle, dann könne sie Kinder adoptieren. Ich erwiderte, dass Bigamie in Deutschland qua Gesetz verboten sei. Außerdem fand ich eine Journalistin viel interessanter, weil diese im Profil aussah wie Iris Berben. Das Interesse an ihr verlor sich jedoch, als sie sich wenig später ihrem Weltschmerz hingab – es war vielleicht doch ein Kognak oder ein Wodka zu viel gewesen. Sie starrte mit tränennassen Augen aus dem Fenster. Auf dem Platz davor, wahrlich zum Heulen schön, stand ein kugelrunder Baum, und statt der Blätter trug er bunte Blumenblüten aus Keramik. Angeblich stammten sie vom gleichen Künstler, der dieses potthässlich-kitschige Denkmal vom großen Peter unweit von hier in die Moskwa gesetzt hatte. Es war aber ein Präsent an die Stadt, und bekanntlich schaut man einem geschenkten Gaul nichts ins Maul, auch wenn er XXXL ist und fast hundert Meter hoch. So muss es sich auch mit unserem Hotel verhalten haben. Dieses hatten die Franzosen vor den Olympischen Spielen 1980 errichtet, und vor den halbrunden 25-Geschosser hatte der gleiche Zereteli ein Standbild von Charles de Gaulle gepflanzt. Ein Standbild fürwahr: Beide Arme des uniformierten Armen hängen zu Boden, weshalb man Frankreichs Präsidenten auf eine hohe Marmorsäule stellen musste. Das sei gewissermaßen der Dank dafür, heißt es, weil Stalin durchgesetzt hatte, dass Frankreich als vierte Siegermacht in Potsdam mit dabei sein durfte. Man ahnt es: Die 18 Meter hohe Statue zählt zu den Top Ten der scheußlichsten Statuen der Welt, auch wenn die Präsidenten Chirac und Putin sie zum 60. Jahrestag des Sieges über den Faschismus enthüllten.
Dascha erklärte, wir könnten jetzt gehen, sie sei nun satt für die Kunst. Wir traten ins Freie. Vorm Eingang wand sich inzwischen eine vielleicht 150 Meter lange Schlange dick verhüllter Menschen, es war, wie gesagt, saukalt. Wir suchten unseren Platz am Ende, und ich sagte, das wäre uns erspart geblieben, hätten wir vor zwei Stunden Einlass begehrt. Jetzt sei die Mittagszeit vorüber und die kulturbeflissenen Moskowiter unterwegs, es wäre schließlich Sonntag.
Sei heute nicht bereits Montag, reagierte Dascha ungehalten. Ich nahm ihr das nicht übel, denn mit dem Kalender hatte sie es so wenig wie mit dem Stadtplan, mir war selten ein Mensch mit einem derart desperaten Orientierungssinn begegnet.
Ob Montag oder Sonntag sei völlig wurscht, entgegnete ich: Wir müssen jetzt erst einmal anstehen.
Nach etwa einer Dreiviertelstunde erreichten wir tiefgefroren das Hoftor, und ich vernahm den erleichterten wie dankbaren Seufzer: Die Hälfte haben wir.
Damit sollte sie Recht behalten.
Nachdem die Sicherheitsschleuse passiert und die Leibesvisitation nur meinen Metallkugelschreiber zutage gefördert hatte – den führe ich immer mit mir, um zu legitimieren, wenn ich als Journalist Anspruch auf eine Freikarte erhebe –, stellten wir uns nach Abgabe der Garderobe erneut in eine Schlange, jene vor der Kasse. Ich legte die 500 Rubel, was umgerechnet weniger als sieben Euro bedeutete, für Daschas Ticket auf den Tresen und meinen Presseausweis dazu. Die Frau hinter der Scheibe erklärte mir mit stoischem Gesicht, Pressekarte sei nicht, und ich könne mich dort beschweren, falls ich damit nicht einverstanden sei. Ihr Finger wies in die Ecke, wo sich der Informationsstand befand. Beschämt legte ich einen zweiten Schein aufs Brett. Sodann stiegen wir mit steifen Knien die Marmorstufen hinauf.
Wir haben eine ganze Stunde, sagte ich nach einem Blick auf die Uhr, andernfalls verpassen wir den Flieger in Wnukowo.
Da hätten wir gar nicht erst in die Ausstellung zu gehen brauchen, sagte Dascha trotzig. Eine Stunde sei für diese Schatzkammer der Weltkultur viel zu wenig.
Wir hätten einen halben Tag dafür gehabt, wenn du im Hotel gefrühstückt hättest – wollte ich brüllen. Doch auch in dieser heiligen Halle kennt man die Rache nicht. Nun haben wir so lange in der Kälte gestanden, lass uns wenigstens die Körper wärmen, hörte ich mich versöhnlich sagen. Dascha willigte ein.
Um mich schon bald fortzureißen von einem Repin, der mich schon immer begeistert hatte, aber erstmals von mir im Original in der kleinformatigen Fassung von 1880 betrachtet werden konnte: Die Saporoger Kosaken schreiben dem türkischen Sultan einen Brief. Anschließend hetzten wir zum Ausgang, vorbei an Bildern, Büsten und Ikonen.
Den Flieger hätte ich dennoch fast verpasst, weil ich im Duty Free Shop noch etwas für meine Frau besorgen musste. Zum ersten Mal in meinem Leben bestieg ich als Letzter ein Flugzeug. Die Mitreisenden starrten mich an, als würde nur meinetwegen noch die Maschine am Boden haften. Vielleicht traf das sogar auch zu. Denn als ich auf 19F saß, setzte sich auch schon die Maschine in Bewegung.
Moskau ist wahrlich immer eine Reise wert. Selbst mit Dascha.