Als Friedrich Engels im November 1842 nach Manchester übersiedelte, nahm er zugleich die Korrespondententätigkeit für die Rheinische Zeitung auf. In seinem ersten Artikel ließ er aus London wissen: »Wenn man sich im stillen eine Zeitlang mit den englischen Zuständen beschäftigt, wenn man sich über die schwache Grundlage, auf der das ganze künstliche Gebäude der sozialen und politischen Wohlfahrt Englands ruht, Klarheit verschafft hat, und nun auf einmal mitten in das englische Treiben hineinversetzt wird, so staunt man über die merkwürdige Ruhe und Zuversicht, womit hier jedermann der Zukunft entgegensieht. Die herrschenden Klassen […] haben nun schon so lange das Land regiert […]. Man mag ihnen ihre Sünden, ihre Haltlosigkeit, ihre schwankende Politik, ihre Blindheit und Verstocktheit, man mag ihnen den schwindelnden Zustand des Landes, der eine Frucht ihrer Prinzipien ist, noch so sehr vorhalten, sie bleiben bei ihrer unerschütterlichen Sicherheit und trauen sich die Kraft zu, das Land einer bessern Lage zuzuführen.« (MEW, Bd. 1, 1976, S. 454f.)
Die von Friedrich Engels vor 178 Jahren in Großbritannien empfundene »merkwürdige Ruhe und Zuversicht« herrscht anscheinend nach dem am 31. Januar vollzogenen Austritt der parlamentarischen Erbmonarchie aus der EU erneut in London. Premierminister Boris Johnson und die Mitglieder seines neuen Kabinetts demonstrieren jedenfalls ihre »unerschütterliche Sicherheit«, das – noch – Vereinigte Königreich »einer bessern Lage zuzuführen«. Apropos neues Kabinett. Im Februar nahm der von seinem mit am Kabinettstisch sitzenden Sonderberater und Chefstrategen Dominic Cummings unterstützte Premier eine Regierungsumbildung vor, bei der mehrere Ministerinnen und Minister ihre Ämter verloren, weil sie als nicht loyal genug galten. Der Brexiteer und mächtige Schatzkanzler Sajid Javid, der im März die Haushaltserklärung abgeben wollte, trat allerdings von sich aus zurück, weil er sich Johnsons direkten Weisungen nicht unterwerfen wollte. Den Minister Stephen Barclay wiederum hatte es schon am 31. Januar kalt erwischt, als sein Ministerium für den Austritt aus der EU kurzerhand aufgelöst und abgeschafft wurde.
Der Ordnung halber seien hier die wichtigen Ministerinnen und Minister der neuen sogenannten Volksregierung von Premier Johnson vorgestellt, die im Zweifel demnächst für Schlagzeilen sorgen werden. Rishi Sunak: Schatzkanzler (ein früherer Investmentbanker); Dominic Raab: auswärtige und Commonwealth-Angelegenheiten; Michael Gove: Kanzler des Herzogtums Lancaster (= Minister ohne Geschäftsbereich, der die Brexit-Politik überwacht); Priti Patel: Inneres; Robert Buckland: Justiz; Ben Wallace: Verteidigung; Matt Hancock: Gesundheit und Soziale Dienste; Alok Sharma: Wirtschaft, Energie und Industriestrategie (auch für die diesjährige UN-Klimakonferenz in Glasgow zuständig), Elizabeth Truss: Internationaler Handel; Anne-Marie Trevelyan: Internationale Entwicklung; Thérèse Coffey: Arbeit und Pensionen; Gavin Williamson: Bildung; George Eustice: Umwelt, Ernährung und ländlicher Raum (Ex-Ukip-Politiker); Grant Shapps: Verkehr; Robert Jenrick: Wohnen, Kommunen und lokale Selbstverwaltung; Oliver Dowden: Kultur, Digitales, Medien und Sport; Brandon Lewis: Nordirland; Alister Jack: Schottland; Simon Hart: Wales.
Eine spezielle und machtvolle Rolle im Kabinett behauptet mit dem 1971 in Nordengland geborenen Dominic Mckenzie Cummings ein seit langem als »special adviser« tätiger Historiker. Der von niemandem gewählte Vertraute Boris Johnsons hat intern mehr Macht als die meisten Minister und befehligt alle anderen politischen Berater. Erstes Aufsehen erregte der unter anderem Bismarck bewundernde Sonderberater als Direktor der ab 2000 aktiven Anti-Euro-Kampagne »No«, die erfolgreich gegen den Beitritt des Königreichs zur Eurozone kämpfte. Zwischen 2007 und 2014 diente Cummings als politischer Berater von Michael Gove, zu jener Zeit Erziehungsminister im Kabinett von David Cameron. Er gab den Posten auf, weil ihm das Ministerium, die Downing Street und die BBC zu unfähig erschienen. Kurz darauf avancierte er zum Leiter der »Vote Leave«-Kampagne, prägte den Slogan »Take back control« und hatte zweifellos einen gehörigen Anteil am im Juni 2016 gefällten Brexit-Votum.
Dominic Cummings betreibt den Blog https://dominiccummings.com/, aus dem hervorgeht, dass er im Rahmen der Durchsetzung der Brexit-Agenden vor allem die Bürokratie stromlinienförmig umzubauen gedenkt, die er als »so unfähig« bezeichnet, »dass sie selbst jemanden, der Dinge umsetzen kann, gar nicht erst agieren lässt«. Sein zunehmend auf Touren kommender Konfrontationskurs gegen den Verwaltungsapparat soll durch »Querdenker« verstärkt werden, die gerade gesucht werden. Nicht zuletzt die legendäre britische Radioanstalt, die von Cummings ungeliebte »alte Tante« BBC, muss sich auf harte Kämpfe einstellen. Der gerade zum Kulturminister ernannte Oliver Dowden wird bereits als Mann bezeichnet, der das Schicksal der BBC in seinen Händen hält. Sein frisch ernannter Staatsminister John Whittingdale, seines Zeichens leidenschaftlicher Anhänger des Brexit, zählt kaum zufällig zu den lautstarken Gegnern der BBC-Rundfunkgebühr.
Szenenwechsel. Während nun bis zum Jahresende eine Übergangsphase läuft, in der sich im Verhältnis zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich prinzipiell nichts ändert, kommt auf die britischen Kabinettsmitglieder schon deshalb viel Arbeit zu, weil in fast allen Bereichen zukünftig neue Verfahren, Regelungen und Finanzierungsmodi notwendig werden – nicht zuletzt in der bislang von der EU einschneidend regulierten und überwachten Landwirtschaft. Wobei die durch die seit mehr als einem Jahrzehnt von den Tories massiv praktizierte Austeritätspolitik schier irreparabel erscheinenden infrastrukturellen, wohlfahrtsstaatlichen und sozialen Schäden nur durch wahrlich beherzt tiefgreifende und gewiss nicht billige Maßnahmen behebbar sind – so beispielsweise im staatlichen Gesundheitssystem NHS, im Schienenverkehr, im Schul- und Bibliothekswesen, in den Justizvollzugsanstalten, im Wohnungssektor. Laut der Wohltätigkeitsorganisation Joseph Rowntree Foundation leben im Königreich gegenwärtig circa 14 Millionen Menschen in Armut – mehr als ein Fünftel der Bevölkerung! Allein vier Millionen von ihnen sind Kinder, gut zwei Millionen Rentnerinnen und Rentner.
Ob Boris Johnsons »Volksregierung« das zentrale Wahlversprechen erfüllen kann – ein höherer Post-Brexit-Lebensstandard durch umfangreiche Investitions-programme nicht zuletzt für das darbende Nordengland und das NHS – bleibt abzuwarten. Wie die ab dem 1. Januar 2021 entfallende Arbeitnehmerfreizügigkeit der EU ersetzt werden soll, steht bereits fest. Die von Innenministerin Priti Patel im Februar vorgestellten Pläne für neue Einwanderungsregeln – O-Ton: »Wir beenden die Freizügigkeit, holen uns die Kontrolle über unsere Grenzen zurück« – stellen EU-Ausländer und Nicht-EU-Ausländer gleich und sehen nach Art der australischen Gesetzgebung ein Punktesystem vor, das gering qualifizierte Menschen von der Insel fernhalten soll. Es sieht für ein Arbeitsvisum eine bestimmte Zahl von Punkten für die Kompetenzen, Qualifikationen und Entgeltregelungen vor. Für den Personalnachschub im Gesundheitssystem sind offenbar Sondervisa vorgesehen.
Dass die Verhandlungen über die künftigen Beziehungen am Jahresende ein Abkommen hervorbringen können, das den Wünschen der EU und Großbritanniens so gut wie möglich entspricht, erscheint vielen Kennern der Materie allerdings als unwahrscheinlich. Laut EU-Chefunterhändler Michel Barnier wollen die verbliebenen 27 Mitgliedstaaten »eine ambitionierte Partnerschaft«, die »nicht dasselbe wie eine Mitgliedschaft« ist. Die von der EU gezogenen »roten Linien« stoßen auf britischer Seite nicht gerade auf Gegenliebe. Premierminister Johnson hat bereits signalisiert, man wolle sich keinesfalls vertraglich auf die Einhaltung von EU-Standards etwa bei Arbeitnehmerrechten und staatlichen Beihilfen festlegen lassen. Anders formuliert: Heftige Auseinandersetzungen sind programmiert.
Alison Louise Kennedy bezeichnet in ihrer derzeit in der Süddeutschen Zeitung laufenden Brexit-Kolumne »Affentheater« Johnson als »Popo der Killerclown« und als »unser Loch der Löcher; die große Leere«. Für die namhafte Autorin ist der Premier »eine stammelnde und watschelnde Jammerfigur, deren Metaphern sich gegenseitig erdrosseln« (SZ, 21.1.2020, aus dem Englischen von Ingo Herzke). Auch der große britische Gegenwartsautor Ian McEwan lässt in seiner gerade erschienenen (nicht unbedingt lesenswerten) und mit Kafka-Anleihen spielenden Satire »Die Kakerlake« an Johnson kein gutes Haar beziehungsweise kein gutes Bein. Wird Boris Johnson als Clown in die Geschichte eingehen oder gar als Possenreißer oder Hanswurst? Abwarten und Tee trinken. Inwieweit die Labour-Party, die nach ihrer bedrückenden Wahlschlappe bis Anfang April auf dem Ausscheidungsrennen zur Bestimmung einer neuen oder eines neuen Vorsitzenden ist, der neuen »Volksregierung« die Leviten lesen kann, ist auch sehr die Frage.