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Titel520

Kafka im Stahlgerüst  (Monika Köhler)

Es beginnt mit großem Krach – auf der Bühne des Schauspielhauses Hamburg. Da wird in der Dunkelheit gehämmert und geklopft, geschweißt – dann lässt blendendes Licht ein Stahlgerüst aus dem Nebel gigantisch hervortreten. Ohne Zweifel eine Baustelle. Der ungarische Regisseur Viktor Bodo wagt sich an Franz Kafkas Romanfragment »Das Schloss«, an dem sich schon das Thalia-Theater vor vier Jahren – wenig überzeugend – versuchte (Ossietzky 13/16). Das ineinander verschachtelte Stangengewirr auf der Drehbühne (Zita Schnábel) – das Schloss ist es nicht, es ist dem Weg dorthin vorgelagert, muss überwunden werden. Auch nachts wird auf der Baustelle gearbeitet, bis zur Erschöpfung.

 

Ein Mann hat das Schild »Betreten verboten« missachtet, steht auf dem Gelände mit einem Schloss, einem Vorhängeschloss in der Hand. Er hat Gewalt ausgeübt. Einer, der hier nicht hergehört, ein Fremder. Er gibt sich als Landvermesser aus, obwohl er eher dem Bild eines Landstreichers gleicht. Er nennt sich K. (Carlo Ljubek), fragt nach einer Unterkunft. Sein Aussehen, seine Tat, das gewaltsame Eindringen, machen ihn verdächtig – und die Tatsache, dass er zum Schloss will. Telefonieren? Es kommt ein Mann mit einem tragbaren Telefon auf dem Rücken. Vorausschauend oder komisch, die Warteschleife, das Unverständliche, Abgehackte: »Sprechen Sie jetzt.« – »Oder nie.«

 

Zwei Radfahrer erscheinen: Arthur und Jeremias. Sie stellen sich als Gehilfen vor. K. kennt sie nicht. Ein Bote, Barnabas, übergibt einen Brief auf schwarzem Papier vom Vorstand der Kanzlei Klamm. Da heißt es: »Sie sind, wie Sie wissen, in die herrschaftlichen Dienste aufgenommen.« Weiß er es wirklich? K. will Bestätigung, will zum Schloss vordringen – aussichtslos. Vom Gemeindevorsteher erfährt er, dass man keinen Landvermesser brauche, es gebe einen Beschluss, doch das Papier ist in den riesigen Aktenbergen untergegangen. Hektische Suche, die beiden Gehilfen und Mizzi, die alles hier managt, wüten ohne Ergebnis. Der kranke Vorsteher, im Bett residierend, gibt Anweisungen. Eine Szene, die bei Kafka skurrile Komik hat, wird hier verschenkt.

 

Dafür Erotik. Die Mizzi, blondgelockt und aufreizend, sitzt später im rosa Korsett und mit baumelnden Beinen über dem Bett des Vorstehers. Sie soll K. verführen, aber er will dabei sein. Das Stahlgerüst muss erklommen werden, bietet Möglichkeiten, akrobatischen Sex zu vollführen, alles so leichthin. Bewundernswert die Kondition der Schauspieler, die auch jonglieren, tanzen, mit Zaubertricks verblüffen. Hierbei helfen die vier im Orchestergraben verborgenen, Musiker, die Erstaunliches leisten, die Handlung vorwärtstreiben. Obwohl den Landvermesser immer wieder eine unerklärliche Müdigkeit überfällt, aus der selbst die Frauen ihn nicht herausholen können – weder Olga, die verschüchterte Schwester des Boten Barnabas, noch Frieda, das Service-Mädchen im Wirtshaus »Herrenhof« (Gala Othero Winter). Sie gilt als Geliebte Klamms, das macht sie für K. interessant. Klamm, den alle unterwürfig fürchten, er hat die besten Beziehungen zum Schloss. Zu sehen ist er nie. K. will Frieda heiraten, sagt er. Liebesspiele zwischen dem schwindelerregenden Gestänge. Flüchtige Küsschen. Die Wirtin des Herrenhofs, Gardena (Lina Beckmann), robbt in ihrer Fülle die Stangen rauf und runter – sportlich-komisch. Sie werkelt mit Frieda in der Küche, ekelerregende Gerichte zubereitend mit Messer und blutigen Händen: Katzenhühnchen. Ihr bösartiges Lachen über die Heiratspläne schallt als Echo im Raum zurück. Sie kennt Klamm, war einmal seine Geliebte, kann ihn nicht vergessen. Klammert sich an ein Stück Seife – ein Geschenk von ihm – wie an eine Reliquie, leckt daran, um sich etwas von Klamm einzuverleiben.

 

Später wendet sich Frieda von K. ab und dem Gehilfen Jeremias zu. Der steht oben im offenen Bademantel, darunter ist er nackt – zwei Hamburger aus der ersten Reihe gehen. Jeremias ruft nach Frieda. Die rothaarige Pepi vertritt Frieda, versucht alles, um auf sich aufmerksam zu machen, doch K. will nach oben, ins Schloss. Es stehen jedoch Generationen auf der Warteliste der Kanzlei, heißt es. Und viele Sekretäre sind vorgeschaltet. Auch K. soll sich befragen lassen, einem Verhör unterziehen.

 

Vorher trifft er auf den Lehrer, der – ohne Kinder – unterrichtet und mit einem Riesenlineal schlägt. Den einen der beiden Gehilfen K.s, die nur Unsinn machen, trifft es. Er wird dazu ausersehen, geschlagen zu werden. Wie kommen Beschuldigungen zustande? Der Landvermesser wird zum Schuldiener ernannt.

 

Ein raffiniertes Stilmittel wird immer mal wieder eingesetzt: Es schiebt sich eine hauchdünne Wand vor die Bühne, lässt Menschen als Schatten erscheinen. Wie im Stummfilm agieren die Gestalten, arbeiten sich an den Maschinen zu Tode – »Moderne Zeiten«? Auch Aktenstücke flattern wie Vögel durch den Raum. Menschliche Gesichter werden auf die Wand projiziert, durchscheinend wie Geister. Dazu Klavierbegleitung.

 

Hat auch K. geschlagen? Er wird vorgeladen. Alle wissen, dass er es ablehnte, verhört zu werden. Zum Umfeld des Schlosses gehören viele Verhör-Spezialisten, die lauern auf Arbeit. War es Erlanger, der Sicherheitschef, der K. aufklärt: »Meine Aufgabe ist es, Ihre Akte zu schließen.« Sie stehen beide ganz oben auf einem Podest, mit dem Rücken zum Publikum. Die hauchdünne Wand, die sie von der realen Welt trennt, zwischen ihnen. Ihre Gesichter, riesengroß von vorn. Erlanger malt K. die Zukunft aus, spricht von der klaffenden Leere, die K. nicht ertragen könne. Spricht von der Drohung, auf dem Elektrischen Stuhl zu enden. K.s Geschichte entwickle sich gar nicht weiter. »Haben Sie Klamms Brief mit? Vernichten Sie ihn.« K: »Dann würde ich den Beweis meiner Existenz vernichten.« Schließlich zerreißt K. den Brief und fühlt sich erleichtert. Nebel wallt, Chorgesang. Verheißungen: Eingang in die Generalkanzlei des Schlosses. K., der als Fremder von weither gekommen ist, kann nun die Stufen des Schlosses betreten, hoch hinauf. Versprechungen: eigene Sekretärin, Schreibtisch, viel Geld, Anerkennung. Zaghafte Frage von K: »Wenn ich hoch gehe, kann ich dann auch wieder runter?« Jemand steckt K. einen Schlüssel zu. Viele, viele Schlösser fallen – wie im Märchen – vom Himmel. Wozu passt der Schlüssel? Ein starkes Licht blendet, auch die Zuschauer. Ist K. jetzt Klamm? Oder ist er tot? Oder nur erschöpft? Hoch oben, seine kleine Gestalt – niemand sonst. Oder liegt er ganz unten, abgestürzt?

 

Die Fragen sind vorprogrammiert. Kafkas Text endete viel früher, der Schluss: offen. Das Stück nimmt gefangen, fasziniert – viel Platz für Phantasie. Kafka selbst steht daneben, ein wenig.