Was Faschismus war, woher er kam, wer von ihm profitierte, wo er existierte – das ist die unvollständige Reihe von Fragen, die bis heute gestellt werden und vor allem eins bezeugen: Die Geschichte des Faschismus im 20. Jahrhundert und insbesondere die des deutschen gehört zu jenen historischen Ereignissen und Entwicklungen, von denen in einem Bilde, das die US-amerikanische Publizistin Barbara Tuchman verwendet hat, gesagt werden kann, daß sie noch qualmen. Der Gegenstand berührt bis heute gegeneinander stehende Interessen, die auch auf geistigen Schlachtfeldern ausgetragen werden.
Unbestritten ist, daß der Begriff Faschismus für eine Ideologie steht (die populäre, zugkräftige Losung, er sei keine Meinung, sondern ein Verbrechen, ist einfach falsch), für politische Parteien (in Deutschland vor allem, aber nicht nur für die NSDAP) und für einen Staat (in Deutschland für die Diktatur der Jahre 1933 bis 1945). Wer von Faschismus redet, muß folglich sagen, was er meint. Daß dies – Ideologie, Partei, Staat – zu trennen ist, nicht nur begrifflich, erweist die Geschichte: Der faschistische deutsche Staat wurde 1945 militärisch zerschlagen und in allen seinen Teilen liquidiert, die faschistische Partei wurde verboten und vermochte, bankrott wie sie war, auch illegal nicht weiter zu existieren, die Ideologie des Faschismus hingegen lebte, wenn auch insgesamt vernutzt, doch in vielen ihrer Elemente fort. Es bedurfte großer und langwieriger Anstrengungen, zu einer Generation zu gelangen, die – jedenfalls in ihrer übergroßen Mehrheit – nach Denken und Mentalität von diesen Elementen frei ist.
Hier wird vom Faschismus des 20. Jahrhunderts, namentlich dem deutschen, nur unter einem Aspekt die Rede sein: vom Faschismus als Herrschaftserfahrung und dies wiederum mit dem Blick auf jene, die herrschten, also unter Vernachlässigung derer, die beherrscht wurden. Die im »Dritten Reich« Herrschaft ausübten, werden in Geschichtsschreibung und Publizistik der Bundesrepublik vorzugsweise als »die Eliten« bezeichnet. Unerwähnt bleibt meist, daß viele, die diese Kennzeichnung verdienten, außer Landes oder in den Tod getrieben waren, jene, von denen im Wortsinn als von der »Auslese der Besten« gesprochen werden konnte, also von Albert Einstein, den Gebrüdern Thomas und Heinrich Mann, Kurt Tucholsky, Carl von Ossietzky und vielen anderen. Indessen wird der Begriff Elite hierzulande immer häufiger wertfrei gebraucht, und zwar bis in die Bereiche der Wissenschaft mit dem Bedeutungsgehalt »Könner« oder »Macher«. So läßt sich dann auch von Mitführern Hitlers, Politikern, Wirtschaftsführern (Kapitaleignern wie Managern) und Militärführern als von der »braunen« Elite sprechen und schreiben. Denn Macher waren sie zweifelsfrei, ältere Herrschaftserfahrungen nutzend und neue gewinnend, als sie die Mobilisierung und Formierung von Massen zu ihrer verläßlichen Gefolgschaft mit erstaunlichem Erfolg betrieben.
Heute wird auf die verschiedenste Weise, absichtsvoll oder nicht, der Eindruck erweckt, als wäre diese Erfahrungsmasse vollkommen entwertet und befände sich irgendwo auf einem Abfallhaufen der Geschichte. Diesen Eindruck erwecken immer wieder präsentierte Bilder von Gestapo-Folterstätten, KZ-Lagern und umgebrachten Menschen und auch jene von uniformierten Massen, Riesenkundgebungen, Fahnenwäldern, nicht endenden Paraden. Sie alle scheinen eine Welt vorzuführen, die kaum weniger weit hinter uns liegt als die Seeschlacht bei Salamis. Es sind diese Bilder, die zu rechtfertigen scheinen, daß schon jede Bezugnahme von der Bundesrepublik zurück in die Jahre der faschistischen Diktatur, jeglicher Vergleich zwischen dieser und jener als ungerechtfertigt, übel und tabuverletzend gilt.
Das kann nur akzeptieren, wer Herrschaftsinstrumente und -praktiken fest und unauflösbar an nur eine spezifische gesellschaftliche und politische Struktur gebunden sieht. Dagegen aber spricht eine Jahrtausende alte Geschichte, in der sich im Hinblick auf dieses Instrumentarium Kontinuität und Bruch verfolgen lassen. Davon wissen nicht nur Experten der Geschichtswissenschaft. »Brot und Spiele« ist eine Wortwendung in vieler Munde, ohne daß damit immer die Kenntnis verbunden wäre, daß der römische Satiriker Juvenal solche Praktiken »Panem et circenses« nante, die zu seinen Lebzeiten, im 1. und 2. Jahrhundert, angewendet wurden, um entwurzelte Menschengruppen ruhigzuhalten. Dieser Kombination haben sich seitdem Machthaber in den verschiedensten sozialen und politischen Systemen bedient. Das taten auch die Faschisten. Sie vermochten Millionen unter ihren Zeichen und Fahnen zu sammeln und zu halten, indem sie die Arbeitslosigkeit beseitigten, so daß niemand hungern mußte, und mit Festen und Feierlichkeiten, von denen die Olympischen Spiele 1936 nur die am stärksten in der Erinnerung haftenden waren, die Alltage beständig ablenkend unterbrachen. Kurzum: Hitler und seine Mitführer kannten bewährte Praktiken ihrer Vorläufer, und gegen alle Erklärungen, sie würden ein nie dagewesenes Staatswesen errichten, traten sie Erbschaften an und bedienten sich ihrer nicht anders, als das vor ihnen geschehen war.
Aber haben sie nicht, das ist unsere Frage, auch Eigenes hinterlassen oder Vorgefundenes so umgeprägt, daß, die dann auf sie folgten, auf dieses Erbe zurückgreifen konnten? Nehmen wir als Beispiel für Herrschaftspraktiken, die oft als spezifisch faschistisch genannt werden, die vor allem mit dem Namen Goebbels verbundene Propaganda. Der Reichspropagandaminister erscheint nicht als Figur in einer sehr langen Reihe von Demagogen und aus dieser herausragend, sondern als einzigartige Erscheinung, die per se keinen Vergleich zulasse. Inhaltlich wird das, was er geschickt, ja raffiniert propagierte und propagieren ließ, auf Rassismus, Antisemitismus und Nationalchauvinismus, also auf die Denk- und Verhaltensweisen reduziert, die heute verpönt, teils auch unter Strafandrohung gestellt sind. Diese Perspektive ist stark verengt, denn der Mann und die von ihm befehligten Zeitungen und Rundfunkstationen hatten es tagtäglich mit Fragen und Aufgaben zu tun, die uns keineswegs fremd geworden sind. Was da geschah, mag an wenigen Beispielen knapp gezeigt werden.
Die Propagierung der Solidarität
Zu den zentralen Begriffen der Goebbels-Propaganda gehört der von der »Volksgemeinschaft«, der einen Zusammenschluß der Deutschen im Inneren ebenso wie deren Abschottung und »Schutz« nach außen forderte und gegenseitige Hilfe unter den Volksgenossen verlangte. Weniger bekannt als die Nazi-Parolen »Volkswohlfahrt«, »Winterhilfswerk« und ähnliche ist die speziell an die Arbeiterklasse – in Hitlers Sprache an »den deutschen Arbeiter« – gerichtete Solidaritätsforderung, die seit den frühesten Tagen des Regimes erhoben wurde und Lohnverzicht verlangte. Dies mit der Begründung, erst müsse jeder Deutsche Arbeit erhalten, dann, wenn das erreicht sei, würden auch die Löhne steigen können. Die Möglichkeit, daß sich dagegen Einspruch oder Protest erhob, war nach der Liquidierung der Gewerkschaften am 2. Mai 1933 beseitigt. Die Löhne waren und blieben gestoppt. Dadurch erhöhten sich die Profite der Kapitaleigner, und großen Nutzen hatte auch das Regime. Während die privaten Investitionen stiegen, blieben die Löhne auf dem Krisenniveau, und auch die Devisensumme, die aufgewendet wurde, um Lebensmittel für den Massenkonsum zu importieren, wurde in Grenzen gehalten. Worauf es hier ankommt, ist die verlogene These, daß es zwischen der Lohnhöhe der Beschäftigten und der Zahl der Arbeitslosen ein umgekehrt proportionales Verhältnis gebe und daß also, wer auf Lohn verzichte, einen Beitrag leiste, einem Klassengenossen den Wiedereintritt in den Arbeitsprozeß zu ermöglichen. Nicht anders argumentieren die Führer der sogenannten Arbeitgeberverbände heute. Lohnerhöhungen, die nicht mehr bewirken als einen Inflationsausgleich, bedeuten de facto einen Reallohnstopp.
Die Propagierung des Retters
Hitler war, lange bevor er in die Wilhelmstraße einzog, den Massen seiner Anhänger als Retter, ja als ihr Erlöser präsentiert worden. Das geschah unter Rückgriff auf biblische Geschichten und Bilder. Zum Beispiel am Schluß des ersten Buches von »Mein Kampf« in der frei erfundenen Szene, da Hitler in München einer Massenversammlung das »unabänderliche« Parteiprogramm verkündet: da der Verkünder, dort die hinausziehenden Jünger, die seine Wahrheit, seine Lehre, sein Heilsversprechen hinaus ins Land zu den zu Bekehrenden tragen. So ging es fort, beispielsweise am 10. November 1933. Zwei Tage vor der Volksabstimmung sprach Hitler in der Turbinenhalle der Berliner Siemenswerke. Das war sein erster Auftritt in einem Betrieb überhaupt. Die Propaganda schrieb: »Und in der zwölften Stunde kam Hitler zu den Arbeitern.« Sie nahm eine Anleihe bei jener Legende, die im Matthäus-Evangelium erzählt wird, wonach der Besitzer eines Weinbergs Arbeitern noch in der elften Stunde, der vor Sonnenuntergang, Arbeit gibt und ihnen sogar wie den früher Angeworbenen einen ganzen Tageslohn zahlt.
Solche Auftritte werden heute in anderen Kulissen, vor einem anderen Publikum, Angehörigen einer anderen Generation – nicht nur in Deutschland – permanent inszeniert. Sie haben mit den deutschen und zuvor den italienischen Faschisten nicht begonnen, aber sie sind von ihnen unter Nutzung neuer technischer Möglichkeiten perfektioniert worden. Kundgebungen wie jene auf den Parteitagen in Nürnberg und beim Reichserntedankfest auf dem Bückeberg im Weserbergland, um die bekanntesten zu nennen, hatte es bis dahin nicht gegeben. Das waren gleichsam die »Erlebnismeilen« der Nazijahre.
Daran wird erinnert, wer auf Fernsehschirmen in die Gesichter von Menschen blickt, die nach einer Kundgebung ihrer »Volkspartei« überzeugt, begeistert, mitunter verzückt erklären, jetzt sei die Frau oder der Mann gefunden, der alles wenden werde. Der oder die Gefundene sei entschlossen, zielstrebig, glaubwürdig und so weiter, ist da zu hören. Wie können solche Hoffnungen geweckt werden, für die jene, die sie hegen, vernünftige Gründe nicht anzugeben vermögen? Zum einen, weil auf verschiedenste Weise den Leuten das Selbstvertrauen, wenn sie es jemals hatten, genomen und ihnen statt dessen beigebracht worden ist, daß die Macher – früher »die großen Männer« geheißen – die Sache in die Hand nehmen und meistern werden. Zum anderen, weil es bequem ist, Arbeit und Anstrengung zu delegieren, vulgo abzuschieben. Das »Uns aus dem Elend zu erlösen, können wir nur selber tun« war und ist ungleich schwerer zu vermitteln.
Die Beteuerung eigener Friedwilligkeit
Hitler ist als der schärfste Kriegstreiber des vergangenen Jahrhunderts in die Geschichte eingegangen. Mit seinem Namen vor allen anderen – und es waren derer viele – verbindet sich der Zweite Weltkrieg mit seinen Millionen toten Soldaten und Zivilisten. Dahinter ist weitgehend verblaßt, daß er zunächst und bis in den Krieg hinein auch ein unverfrorener Friedensdemagoge war, der auch auf diesem Felde Anleihen bei Vorläufern nahm und Erbschaften antrat. »Der uns aufgezwungene Krieg« – die von Göring am 1. September 1939 benutzte Formel stammte vom kaiserlichen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg, der sie am Anfang des ersten Weltkriegs benutzt hatte. Und »Wir wollen den Frieden, weil wir ihn lieben«, das ist Hitler 1936 im Original. Er kenne als Frontsoldat die Leiden des Krieges, wie könne er dann auch nur einen Gedanken auf Krieg wenden? »Deutschland arbeitet«, lautete eine der Parolen, und nur das wolle es weiter tun. Doch jede dieser Beteuerungen erhielt Einschränkungen unbestimmter Art: harmlose, wonach niemand den Deutschen an die Ehre gehen dürfe, denn ehrlos könnten sie nicht leben, oder auch drohende wie die These vom »Volk ohne Raum«. Diese Praxis der eingeschränkten Versprechen, die auf die Preisgabe des Versprochenen zielt, sie schon vorbereitet und auch dem Überführtwerden als Lügner vorbeugt, gehört zum Repertoire heutiger Politiker und wird für die verschiedensten Zwecke eingesetzt.
Vom Nutzen des Feindbildes
Die deutschen Faschisten haben von ihren frühesten politischen Anfängen an Bilder von wirklichen oder behaupteten Feinden propagiert und damit Ängste ebenso wie ein Schutzbedürfnis erzeugt. Feinde erhielten in der NS-Propaganda eine geheimnisumwitterte, nebulose Gestalt. Von ihnen ging keine geringere als eine tödliche Gefahr aus, der nur begegnet werden konnte, wenn sie vernichtet, ausgemerzt, ausgerottet wurden. In der Republikzeit waren das Marxisten, Juden und Pazifisten, häufig benannt als jüdische Bolschewisten oder »das bolschewistische Judentum«. Nur zeitweilig wurde diese einzige amalgamierte Feindfigur erweitert. Das geschah in den ersten Wochen und Monaten nach der Regierungsübernahme 1933. Da wurde das Bild benutzt, »die Welt« stelle sich gegen das neue Deutschland, was selbstredend wieder ein Werk der Juden war. Es war »die Welt«, wie es auch in der Verszeile des Nazibarden Hans Baumann hieß, die »uns nicht begreifen« wolle, die deutsche Erhebung, unseren Aufbruch. Dann wurde diese Klage durch eine andere ersetzt. Die Welt und namentlich Europa hätten dem neuen Deutschland dankbar dafür zu sein, daß es das Vordringen des »asiatischen Barbarentums« nach Westen verhindert habe. Diese Dankbarkeit werde dem Reich noch verweigert. Die Grundthese der Nazipropaganda in den Vorkriegsjahren lautete, in Deutschland würde alles zum besten stehen oder sich auf dem besten Wege befinden, wenn man es nur in Ruhe lasse und die Kreise seiner Machthaber und ihrer Millionengefolgschaft nicht störe.
Das Feindbild wurde – mit Ausnahmen und Unterbrechungen – auf eines reduziert. Es zeigte »den Juden«, »das internationale Judentum«, und zwar in zweierlei Gestalt: als Plutokrat und als Bolschewik. Das war die Zwiegestalt des Hauptfeindes, eine Methode der Propaganda, die uns in unseren Tagen neu vertraut wird. Demnach gibt es im Innern wieder einen Hauptfeind, der einmal Extremist, dann auch Chaot und neuerdings mit Vorliebe Populist genannt wird und der wiederum in zweierlei Gestalt existiert, diesmal als Linker und als Rechter. Von beiden – nicht anders als von Plutokrat und Bolschewik – wird behauptet, sie arbeiteten auf das gleiche Ziel hin. Ebenso schlicht gezeichnet ist auch das Bild des äußeren Feindes, des Terroristen. Das Volk wird durch Furcht, durch Dramatisierung oder auch durch die Erfindung von Gefahren diszipliniert. Mit deren Darstellung verbindet sich der Dauerappell, zusammenzustehen im Kampf um den Platz an der Sonne.
In diesen Tagen zeigte sich, daß mit dem Aufkommen ökonomischer und politischer Krisen der Bedarf an Feindbildern steigt. Sie zu präsentieren, ist zweischneidig, zumal dann, wenn die Zahl der Feinde sich zur Übermacht summiert. Doch sind derlei Rücksichten schon gefallen: Die Russen wollen uns den Öl- und Gashahn abdrehen, die mehr als eine Milliarde Chinesen bedrohen uns als Produzenten ebenso wie als Konsumenten und verpesten die Umwelt. Die »gelbe Gefahr« und der »russische Bär« sind auch älter als ihr Gebrauch im Nazireich. Sie werden wieder hervorgeholt, auf daß die Volksgemeinschaft in Verteidigungsstellungen einrückt.
Jeder weiß aus nahezu täglicher Erfahrung, daß geschichtliche Vergleiche benutzt werden können, um Personen oder Parteien zu diffamieren, daß sie der Knüppel sein können, einen Konkurrenten oder Rivalen niederzuschlagen. Das ist nicht unsere Absicht, wenn wir nachweisen, daß es auf dem Felde der Massenmanipulation (weniger vornehm-akademisch Massenbetrug genannt) Erfahrungen gibt, die von den Machthabern verschiedenster Zeiten und Couleurs, die braunen eingeschlossen, eingesetzt werden. Wir erwähnen es auch nicht zum Zwecke der Kennzeichnung, Bloßstellung oder Entlarvung der Machthaber, sondern mit dem Blick auf deren heutige Gefolgschaft. Ihr legen wir die Frage vor, die Tucholsky einer nicht mehr lebenden Generation stellte: Merkt ihr nischt?