Der Superintendent des Evangelischen Kirchenkreises Duisburg, Armin Schneider, und der Leiter des dortigen Diakonischen Werkes, Stephan Kiepe-Fahrenholz, richteten an den Vorsitzenden der Fraktion Die Linke im Duisburger Stadtrat, Hermann Dierkes, einen Offenen Brief, in dem sie ihn von einer kommunalpolitischen Podiumsdiskussion ausladen, zu der er zusammen mit den Vorsitzenden der anderen im Rat vertretenen Fraktionen für den 7. Mai in die Salvatorkirche eingeladen worden war: »Nach den uns vorliegenden Informationen haben Sie, offenbar unter Bezug auf die aktuelle Politik des Staates Israel im palästinensischen Autonomiegebiet, zu einem Boykott israelischer Produkte aufgerufen. Die Tatsache, daß sich die geistige wie verbale Parallele zu der Nazi-Parole ›Deutsche, kauft nicht bei Juden‹ unmittelbar einstellt, hat Sie davon, wenn die heutige Tageszeitung Sie zutreffend zitiert, offensichtlich nicht abgehalten … Daß man die Politik des Staates Israel unterschiedlich bewerten kann, ist unstrittig. Ihre Einlassung hat jedoch keineswegs allein mit politischen Ermessensfragen zu tun. Sie nehmen vielmehr bewußt oder fahrlässig, jedenfalls billigend in Kauf, daß Ihr Aufruf als antisemitische Attacke verstanden wird, die sich unmittelbar gegen unsere jüdischen Glaubensgeschwister (Hervorhebung von mir; FMR) richtet.« Hermann Dierkes wurde von so vielen Seiten und so hart gescholten, daß er sich zum Rücktritt von seiner Funktion im Duisburger Rat gezwungen sah. Offenbar ließ ihn auch die Führung seiner Partei allein, wenn sie ihn nicht sogar zum Rücktritt drängte.
In Deutschland – nicht nur in Duisburg – ist bisher wenig bekannt, daß schon in vielen Ländern eine Bewegung entstanden ist, die gegen die Politik Israels in den besetzten Gebieten von Palästina und in Gaza mit Boykott-Aufrufen protestiert. Ihre Unterstützung nimmt weltweit zu. Einige wenige Beispiele: In Schweden wird der Boykott israelischer Produkte bereits seit Jahren in Kirche und Gesellschaft diskutiert und praktiziert. Am 20. Februar rief das Exekutivkomitee des Weltkirchenrats die Mitgliedskirchen auf, hinsichtlich des Israel-Palästina-Konflikts ihre Regierungen unter Bezugnahme auf das Völkerrecht und ihrer daraus resultierenden Verantwortung gegenüber Drittstaaten, wo immer es nötig ist, zur Verantwortung zu ziehen und die für Investitionen und Einkäufe zuständigen kirchlichen Organe zu einer moralisch verantwortlichen Praxis gegenüber Unternehmen zu verpflichten, die die israelische Besatzung palästinensischer Gebiete unterstützen Anfang März verkündete die britische Regierung ihren Boykott gegen den israelischen Baulöwen Lev Leviev und nahm, unter Bezugnahme auf sein rassistisches Engagement beim illegalen Siedlungsbau Israels in den besetzten Gebieten, ihre Entscheidung zurück, eine Etage in dem Kirya-Turm in Tel Aviv für ihre dortige Botschaft zu mieten; der Turm gehört einem Unternehmen Levievs. Den seit 1976 von Palästinensern in Israel und allen Ländern am 30. März gegen die anhaltende Konfiskation palästinensischen Landes begangenen »Tag des Bodens« (Yaum Al-Ardh) werden in diesem Jahr alle palästinensischen und viele internationale Nichtregierungsorganisationen als Boykott-Tag begehen.
Superintendenten und Leiter kirchlicher Einrichtungen in Deutschland irren, wenn sie glauben und verbreiten, daß die von den Nazis ausgegrenzten, vertriebenen, geschädigten und ermordeten Juden mit dem Staat Israel oder gar mit der Politik der derzeitigen Regierung dieses Staates gleichzusetzen sind. Viele der heute lebenden Juden und Jüdinnen sehen sich keineswegs durch Israel vertreten. Es ist hochproblematisch, alle Juden und Jüdinnen nur als homogene Gruppe zu betrachten. Solche Stereotypen liegen jeder Form des Rassismus zugrunde.
Die Vereinigung Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden in Nahost (EJJP Deutschland), befreundet mit vergleichbaren jüdischen Organisationen auf allen Kontinenten, auch in den USA und Israel, wies in einem Brief an die Duisburger Pfarrer das Ansinnen, den Aufruf zum Boykott israelischer Waren als antisemitisch zu diskreditieren, scharf zurück. »Ihren Bezug auf ›unsere (?) jüdischen Glaubensgeschwister‹ finden wir anmaßend!«, heißt es in dem Schreiben.
Den kirchlichen Amtsträgern in Duisburg, die Israel – weshalb nur? – so gern eine Sonderbehandlung angedeihen lassen wollen, sollte eigentlich bekannt sein, was seit Gründung der Vereinten Nationen politisch unumstritten ist, nämlich daß jeder Staat zu ächten ist, der sich dauerhaft über Internationales Recht erhebt, der anhaltend – im Falle Israel seit nunmehr 61 Jahren – alle UN-Resolutionen in den Wind schlägt, der sich als Siegermacht grober Verstöße gegen die Genfer Konventionen schuldig macht, indem er die Besiegten unverhältnismäßig lange Zeit – im Fall Israel 42 Jahre – unter Besatzung hält, in besetzt gehaltenen Territorien Land, Wasser und andere Ressourcen raubt sowie die eigenen Landesgrenzen ausdehnt und durch eine Grenzmauer manifest macht, die selbst der Internationale Gerichtshof gutachtlich für völkerrechtwidrig erklärte. Laut UN-Charta ist vor allem ein Staat zu ächten, der nicht auf politische Verhandlungen und eine dauerhaft gerechte Friedenslösung, sondern auf regionale Vorherrschaft durch militärische Stärke, auf Angriffskriege und Rechtswillkür setzt. Wer der Ethik und Moral ganz gleich welcher Religion oder auch nur den elementaren Menschenrechten verpflichtet ist, muß gegen das von Israel an den Palästinensern begangene Unrecht aufstehen. Boykottmaßnahmen der Zivilgesellschaft, Investitionsstopp durch Verbände und Unternehmen sowie Sanktionen durch national- und internationalstaatliche Institutionen sind bewährte politische Instrumente der Völkergemeinschaft.
Die weltweiten Boykottkampagnen von Bürgern und Bürgerinnen aller Länder gegen Nazideutschland in den 30er/40er Jahre, die Zivilbewegungen gegen den Vietnamkrieg der 60er/70er und die internationale Anti-Apartheid-Bewegung bis in die 90er Jahre haben gezeigt: Waren- und Veranstaltungsboykott, Diskreditierung von einzelnen Kriegsverbrechern sowie von Regierungen, die sich über Recht und Moral erheben, sind die Mittel des einzelnen Bürgers und der einzelnen Bürgerin, politischen Druck gegen Unrecht auch individuell geltend zu machen, wenn alle anderen politischen Aktivitäten und Proteste versagen.
Es ist bedauerlich, daß Hermann Dierkes seine Funktionen niedergelegt hat. Es spricht gegen seine Partei, daß sie ihm nicht solidarisch gegen die Kampagne der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung, der zweitgrößten deutschen Zeitung nach Bild, beigestanden hat. Es ist zu hoffen, daß die Würdenträger der Evangelischen Kirche in Duisburg, mit den hier erwähnten Tatsachen konfrontiert, ihre diskriminierende Entscheidung zurücknehmen.
Die Berliner Professorin Fanny Michaela Reisin, Präsidentin der Internationalen Liga für Menschenrechte, gehört der Vereinigung Jüdische Stimme für gerechten Frieden in Nahost an. Im Januar war sie Hauptrednerin der Berliner Kundgebung gegen das Massaker in Gaza. Sie sagte dort: »Wer glaubt, daß Antisemitismus mit proisraelischer Propaganda zu bekämpfen ist, irrt. Wer glaubt, daß Solidarität mit Gaza Antisemitismus verbreitet, irrt ebenso. Und wer unseren gemeinsamen Protest gegen die israelische Besatzung zu antisemitischer Propaganda gegen Juden nutzt, irrt nicht weniger. Nur wer konsequent gegen Unterdrückung und Ausgrenzung vorgeht und Apartheid, Rassismus, Antisemitismus und Antiislamismus zurückdrängt, eröffnet eine Perspektive, die Zukunft hat. Zwischen Christen, Juden und Moslems steht nicht die Religion. Es sind Machtinteressen, die uns entzweien. Denen, die daraus Nutzen ziehen, müssen wir Einhalt gebieten.«