Daß die Organe der Europäischen Union eine Vorliebe für Namen aus der antiken Geschichte und Mythologie haben, ist an sich nicht verwunderlich, wird doch der Name des Kontinents Europa auf die Sage zurückgeführt, wonach Zeus der Tochter des Phönikerkönigs Agenor, Europa, in der Gestalt eines Stiers erschien und sie nach Griechenland entführte.
Das »Aktionsprogramm der EU für die grenzüberschreitende Zusammenarbeit in verschiedenen Bereichen der allgemeinen Bildung« hieß bis 2006 SOKRATES. Heute ist es unter dem ebenso passenden Namen ERASMUS (European Region Action Scheme for the Mobility of University Students) bekannt.
Und auch das »Ministerial Network for Valorising Activities in Digitisation« mag gern MINERVA heißen wie die – im Griechischen als Pallas Athene bekannte – römische Göttin der Weisheit, deren Begleiterin die Eule, der Vogel der Weisheit, war, die man bekanntlich nicht nach Athen, die Stadt des Sokrates, zu tragen braucht. So weit, so gut.
Im Bereich der Forschung ist auch das ARIANE-Programm angesiedelt, das auf der Website http://ec.europa.eu mit folgenden launigen Worten vorgestellt wird: »Der hübsche Vorname Ariane, Heldin der griechischen Mythologie, symbolisiert weltweit das technologische Know-how Europas, das einen ausgezeichneten Ruf genießt. Tatsächlich konnten sich die Ariane-Raketen eine führende Position unter den Satelliten-Abschußsystemen sichern.«
Ariadne, wie Ariane in der griechischen Mythologie heißt, steht beispielhaft für eine liebende Frau, die dem geliebten Mann aus der Patsche hilft: Durch den inzwischen sprichwörtlichen (roten) Faden, den sie ihm in die Hand gab, half sie Theseus, aus dem Labyrinth ihres Vaters Minos herauszufinden. Derartige Selbstlosigkeit (die obendrein mit der Untreue des Theseus übel gelohnt wurde) läßt sich nun aber dem Ariane-Programm nicht nachsagen, das nicht nur einen technisch-ökonomischen, sondern auch einen militärischen Hintergrund hat. (Und so drängt sich bei dem Begriff »Satelliten-Abschußsystem«, der auf der oben zitierten Website verwendet wurde, der Gedanke an eine Freudsche Fehlleistung auf.)
Namen aus der Antike begegnen uns inzwischen auch in anderen befremdlichen Zusammenhängen: Artemis und Atalanta zum Beispiel.
Die Göttin Artemis als keusche Göttin der Jagd reagiert unwirsch, wenn sie von menschlichen Augen beim Bade beobachtet wird; so verwandelt sie den unglücklichen Aktäon in einen Hirsch, der von seinen eigenen Hunden zerfleischt wird. Sie läßt auch nicht mit sich spaßen, wenn jemand sich in der Jagdkunst mit ihr messen will; den Jäger Orion tötet sie aus diesem Grunde mit ihrem immer treffenden Geschoß – eine Dame, mit der man sich besser nicht anlegt. Welcher EU-Mission leiht sie nun ihren Namen? Bei Wikipedia findet sich folgender Eintrag: »Die EU-Operation Artemis wurde 2003 in der Provinz Ituri im Osten der Demokratischen Republik Kongo aufgrund der dort ausgebrochenen Unruhen durchgeführt. Diese Mission [...] wurde am 12. Juni 2003 vom EU-Rat beschlossen. [...] Am 16. Juni 2003 war die knapp 2000 Mann starke Friedenstruppe, unter französischer Führung, vor Ort. [...] Unterstützt wurde der Einsatz von 350 deutschen Soldaten.«
Artemis war also, ob sie wollte oder nicht, den postkolonialen Interessen der französischen Regierung zu Diensten, der sich die deutsche Regierung an die Seite stellte. Wer fragt schon antike Göttinnen? Sie mußte es auch hinnehmen, daß ihre früher unfehlbaren Geschosse inzwischen offenbar ihre Wirkung verfehlten. Anschließend heißt es nämlich in dem zitierten Eintrag: »An der humanitären Gesamtlage und der politischen Unordnung in der Ituri Provinz hat sich durch die Operation Artemis jedoch nichts geändert.«
In der Mythologie weniger prominent ist Atalante, heutzutage als Atalanta bekannt. Zur aktuellen Bedeutung erfahren wir aus Wikipedia: »Die EU NAVFOR Somalia – Operation Atalanta ist eine multinationale Mission der EU zum Schutz der freien Seefahrt und zur Bekämpfung der Piraterie vor der Küste Somalias am Horn von Afrika im Golf von Aden.«
Wer nun war Atalante? In Eckart Peterichs Büchlein »Götter und Helden der Griechen« heißt es: »Als Oineus, König von Kalydon in Ätolien, es einmal versäumt hatte, der Artemis zu opfern, sandte die Göttin seinem Land einen wilden Eber, der die Fluren verwüstete.« Zu denen, die sich an der Jagd auf dieses Untier beteiligten, gehörte auch Atalante: »Ihr Vater hatte sie nach der Geburt ausgesetzt, eine Bärin war ihre Amme gewesen. Alle Jünglinge, die um sie warben, mußten sich mit ihr im Wettlauf messen; wenn sie aber einen der Freier einholte, so durchbohrte sie ihn von rückwärts mit dem Speer.« Die folgenden Verwicklungen seien den Leserinnen und Lesern erspart; unter dem Strich läßt sich wiederum feststellen: Auch Atalante ist – wie Artemis – eine Frau, mit der nicht gut Kirschen essen ist.
Was will uns die EU mit dieser Namenswahl sagen (vorausgesetzt, sie will uns überhaupt etwas sagen)? Sicher dies, daß sie sich als wehrhaft präsentieren möchte. Aber wie es ihr bei der Artemis-Mission an der göttinnengleichen Treffsicherheit fehlte, die sie sich bei der Entscheidung für diesen Namen gewünscht haben mag, wäre es auch voreilig, aus dem Namen der antiken Heldin Atalanta die Schlagkraft der betreffenden EU-Mission folgern zu wollen. Außerdem mag das Beispiel der treulos im Stich gelassenen Ariane/Ariadne schrecken.
Abschließend soll von einer männlichen Gestalt aus der Antike die Rede sein: dem Trojaner Aeneas, der aus der brennenden Heimatstadt flieht, den alten Vater auf den Schultern, den Sohn an der Hand. Wie Odysseus irrt er jahrelang, von mißgünstigen Göttinnen und Göttern verfolgt, durch den Mittelmeerraum – bis er in Italien landet, wo er nach Kämpfen gegen die Ureinwohner schließlich die Grundlagen für die Errichtung Roms und des Römischen Weltreichs schafft.
Das EU-Programm AENEAS hingegen möchte potentielle Migranten von der Einwanderung in des Gebiet der EU abhalten. Die Welt-online schreibt dazu: »Mit einem schonungslosen TV-Spot sollen illegale Einwanderer veranlaßt werden, ihr Glück nicht in Europa zu suchen. Er wird derzeit in Kamerun und in Nigeria gezeigt, möglicherweise bald auch im Kongo. Die klare Botschaft an die verzweifelten Menschen lautet: Bleibt zu Hause! Der TV-Spot beginnt harmlos: Ein junger Schwarzer, irgendwo in einer Telefonzelle. Eine kalte Nacht, es regnet in Strömen in der Stadt, die offenbar in Europa liegt. Der Mann wählt eine Nummer, am anderen Ende der Leitung hebt ein älterer Herr ab. Er sitzt in einem behaglichen Wohnzimmer in Afrika. ›Hallo Vater‹, sagt der junge Mann, ›hier ist Christian.‹ [...] ›Wie geht es Dir?‹, fragt der Vater. ›Hast Du schon eine Wohnung? Hast Du Dich an der Uni eingeschrieben?‹ Der Sohn antwortet ausweichend, kurze Sequenzen werden eingeblendet: Der junge Mann flüchtet vor Polizisten, sitzt bettelnd auf der Straße. [...] ›Helfen Sie mir‹, hat er auf ein Plakat geschrieben. Frierend nächtigt er unter einer Brücke, Kartons als Bettstatt. ›Ich kann Anspannung in Deiner Stimme hören‹, fragt der Vater besorgt. ›Ach, das ist nur, weil ich den ganzen Tag durch die Stadt gelaufen bin. Ich habe so viel zu tun‹, gibt der Befragte zurück. ›Leaving is not always living‹ lautet der letzte Satz im Abspann – ›Weggehen bedeutet nicht immer Leben‹.« In diesen Anti-Einwanderungs-Spot flossen 250.000 Euro aus dem AENEAS-Programm der EU.
Eine banale Beobachtung zum Schluß, die aber möglicherweise unerfreuliche Perspektiven eröffnet: AENEAS, ARTEMIS, ATALANTE ... Beim Blättern in mythologischen Handbüchern scheint die EU über den Buchstaben »A« noch kaum hinausgelangt zu sein. Uns kann also noch viel bevorstehen.