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Titel0609

Bemerkungen

Wachstum
Kaufen Sie!
Denn Konsum belebt die Konjunktur.
Kaufen Sie!
Denn Kaufen macht glücklich.
Jeder Familie ihre drei Autos,
vier Fernseher,
fünf Computer,
sechs Handys,
sieben Waschmaschinen,
acht Geschirrspüler,
neun Mikrowellen,
zehn Toaster ...
Damit die Wirtschaft wächst
und wächst!
Kaufen Sie!

Wolfgang Bittner


Aus dem Wirtschaftsleben
Die Finanzkrise, so melden deutsche Zeitungen, habe auch ihre gute Seite – sie lasse »die Preise purzeln«. Dabei stützen sie sich auf einen Bericht der Nachrichtenagentur Associated Press (AP), in dem Daten und Prognosen der Marktforschung präsentiert werden. Demnach ist im Vergleich zum März des Vorjahres zum Beispiel der Preis fürs Bezahlfernsehen um 23 Prozent »gepurzelt«. Aber: Die Gasheizungskosten sind um 20 Prozent gestiegen. Halb so schlimm: Wer zu Haus kalte Füße hat, kann sich in der Glotze Herzerwärmendes leisten.

Und noch eine tröstende Nachricht, ebenfalls vermittelt durch AP: Dax-Vorständler »müssen den Gürtel enger schnallen«. Die Welt am Sonntag habe bei 22 Konzernen ermittelt, daß die Topmanager im Vergleich zum Vorjahr 6,8 Prozent ihrer Vergütungen eingebüßt haben. Auch sie, weiß nun der Hartz-IV-Empfänger, kommen um Magermahlzeiten nicht mehr herum. Nur noch 2,4 Millionen Euro verdient jetzt im Durchschnitt ein Vorstandsmitglied dieser Unternehmen. Das ist bitter. Und wieviel wertvolle Zeit es kostet, wenn die Spitzenmanager jetzt jeden privaten Euro dreimal in der Hand herumdrehen müssen, bevor sie ihn ausgeben.
Marja Winken


Bloß nicht schwanger werden!
Auf den ersten Blick scheint sich das Studium für die Familiengründung geradezu anzubieten. Ein Urlaubssemester ist leicht genommen, anschließend können Seminartermine mit denen des Partners abgestimmt werden, und rundherum schieben Kommilitonen ihre Kinderwagen vor sich her und tauschen gern Erfahrungen aus. Für Kindergartenplätze und Informationen über finanzielle Unterstützungen sorgt das Studentenwerk. Alles scheint sehr reizvoll, um die Akademiker zu mehr Nachwuchs zu motivieren. Die Karriere käme langfristig nicht zu kurz, und erzielt würden junge, flexible Familien.

Aber spätestens beim ersten Besuch bei der ARGE (der aus Hartz-Zeiten stammenden Gemeinschaftsgründung von Arbeits- und Sozialamt) erweist sich das kinderfreundliche Deutschland als Illusion. Hier steht zwar ein monatlicher Obolus von 50 Euro mit der Bezeichnung »Beihilfe zur Finanzierung eines Sonderbedarfs bei Schwangerschaft und Entbindung« bereit, aber zu welchem Preis!

Der Student kann nämlich nicht einfach eine solche Zuwendung beziehen, ohne sich zuvor als arbeitslos gemeldet zu haben. Selbstverständlich nur zum Schein, pro forma. Sonst taucht er am Ende noch in der Arbeitslosenstatistik auf und beeinflußt gar das Wählerverhalten! Darum muß er den »Antrag auf Leistungen zur Sicherheit des Lebensunterhalts […] Arbeitslosengeld II/Sozialgeld« ausfüllen. Dafür hat der Student etwa zwei Wochen Zeit, und die braucht er auch, denn mit allen Anlagen und Belehrungen ist aus dem einseitigen »Beihilfe-Antrag« eine Farce von 48 Blatt Papier geworden.

Zusätzlich gibt es noch 71 Seiten Wissenswertes über das Arbeitslosengeld II zu lesen, gefolgt von einer Einladung zu einem Gespräch über eine eventuelle Arbeitsplatzvermittlung – auch diese selbstverständlich nur pro forma. Daß der Student zu diesem Zeitpunkt keinen Arbeitsplatz sucht, ist von vornherein klar, trotzdem muß sein Gesuch erst abgelehnt werden, damit sich die Mühle der Bürokratie in Gang setzt. Vorher geschieht gar nichts. Und so heißt es im Originalton: »Wenn Sie ohne wichtigen Grund dieser Einladung nicht Folge leisten, wird Ihr Arbeitslosengeld II um 10 % […] für die Dauer von drei Monaten abgesenkt.« Die freundliche Einladung wird zu einer Drohung, die besonders schwach auf Studenten wirkt, die ja kein Arbeitslosengeld beziehen können. Auf dem Amt ist eben alles nur pro forma.

Damit aber der Student nicht erst zu diesem anberaumten Gespräch wiederkommen muß, darf er vorher schon einen Fragenkatalog ausfüllen, der den ARGE-Mitarbeiter (dieser heißt »Integrationsfachkraft«) auf das Vermittlungsgespräch vorbereiten soll. Selbstverständlich wird hier wieder mit etwas Druck gearbeitet: Der Student hat diesmal nur einen Tag Zeit, um acht Seiten Fragen zu beantworten. Das gelingt aber meistens sehr zügig, da der Akademiker oft keine Angaben zu »Ich biete – Beruflicher Werdegang« oder »Ich suche – Stelleninfo« machen kann. Als überraschend kompliziert stellt sich hingegen die letzte Seite des Formulars heraus: Aus 20 Eigenschaften wie Kreativität oder ganzheitliches Denken darf der Student nur fünf auswählen, die auf ihn zutreffen, »insgesamt maximal 5«. Mehr Kompetenzen sind scheinbar untypisch für Arbeitslose.

Übrigens wird nicht über Kinder gesprochen. Keine Broschüren, keine Kontaktdaten. Warum auch? Dafür gibt es den Hebammendienst (Geburtsvorbereitungskurse), die Krankenkasse (Mutterschutz), das Jugendamt (Anmeldung der Vaterschaft) und das Landesverwaltungsamt (Elterngeld). Aber darauf macht die ARGE selbstverständlich nicht aufmerksam: Der Student spielt doch Arbeitsloser, nicht werdendes Elternteil!
Bernhard Spring


Warten aufs Pflegegeld
Seit Dezember 2008 pflege ich meine schwer erkrankte Verlobte. Meinen Arbeitsplatz, den ich wenige Monate vorher ergattert hatte, mußte ich dafür aufgeben – die Schwere der Behinderung erfordert Hilfe rund um die Uhr. Arbeitslosengeld wird voraussichtlich nicht bewilligt, da ich als vollzeitig Pflegender dem Arbeitsmarkt nicht zur Verfügung stehe. Sozialhilfe scheidet aus, weil ich arbeitsfähig bin. Die einzige Möglichkeit, Geld für meinen Lebensunterhalt zu erhalten, ist das Pflegegeld. Und ich brauche es bald, denn meine Ersparnisse reichen nicht mehr weit.

Schon Ende November, als die Krankheit einsetzte, hatte meine Verlobte bei der Pflegekasse einen Antrag auf Pflegeleistungen gestellt. Da nach aller Erfahrung eine endgültige Entscheidung über die Pflegestufe ein Vierteljahr und länger auf sich warten läßt, stellte sie einen Antrag auf vorläufige Bewilligung von Pflegeleistungen, damit mein Lebensunterhalt schnell gesichert wäre. So hatten wir uns das jedenfalls gedacht.

Gekommen ist es anders: Am 19. Februar 2009 erhielten wir die »Eilentscheidung« (nach zweieinhalb Monaten): Eine Pflegestufe wurde bewilligt. Auf telefonische Nachfrage bei der Pflegekasse erfuhren wir, daß bei einer solchen vorläufigen Bewilligung von Pflegeversicherungsleistungen nur Leistungen für Pflegemittel (wie Verbandsmaterial, Rollstuhl oder Wannenlifter) sowie für Pflegeheime oder -dienste übernommen würden. Pflegegeld zahle die Kasse rückwirkend erst nach der endgültigen Festsetzung der Pflegestufe.

Im April werde ich voraussichtlich wegen meiner leeren Kasse Hunger haben, den ich dann nach erfolgter rückwirkender Zahlung des Pflegegelds durch Sattessen im Juli rückwirkend stillen werde. Oder ich gehe wieder arbeiten, bis das Geld von der Kasse bewilligt ist, und muß meine Verlobt notgedrungen einem Pflegedienst überlassen. Der Unternehmer dagegen, der Verbandsmaterial, Rollstühle oder Wannenlifter zu Wucherpreisen verkauft oder Pflegekräfte ausbeutet, bekommt ohne große bürokratische Hürden sein Geld aus der Sozialkasse sofort.

Diese Entscheidungspraxis pervertiert die soziale Pflegeversicherung zum Instrument neoliberaler Umverteilung von unten nach oben: Die Pflege wird mehr und mehr bei kommerziellen Anbietern monopolisiert. Sie erhalten die aus Beiträgen abhängig Beschäftigter finanzierten Leistungen der Pflegeversicherung. Die pflegewilligen Angehörigen werden auf die Funktion bloßer Beitragszahler herabgenötigt. Ihre Beiträge sollen für alle Zukunft die Profite der Pflegekapitalisten sichern.
Stefan Baufeld


Als wäre alles in Ordnung

Seit dem 3. Mai 2008 ist die UN-Konvention zum Schutz der Rechte behinderter Menschen gültiges Völkerrecht. Im Dezember 2006 war sie von der Vollversammlung der Vereinten Nationen beschlossen und am 30. März 2007 von der Bundesrepublik feierlich gezeichnet worden. Alle Unterzeichnerstaaten verpflichten sich darin, gesetzliche und andere Hürden für Behinderte abzubauen. Mit der Ratifizierung tat man sich in Deutschland schwer. Wiederholt wurde die UN-Konvention von der Tagesordnung des Kabinetts abgesetzt. Erst im Dezember 2008 passierte sie Bundestag und Bundesrat. Die Konvention beruht auf solchen Prinzipien wie der Würde des Menschen, individueller Autonomie, Nichtdiskriminierung, Teilhabe, Respekt vor der Unterschiedlichkeit der Menschen, Chancengleichheit, Barrierefreiheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau. Erstmals werden die Rechte der Menschen mit Behinderungen (unter anderem auf freie Wahl des Wohnortes, Wahl der Arbeitsumgebung und des Arbeitsplatzes, Wahrnehmung der persönlichen Rechte) als Menschenrechte anerkannt.

Mit der lange verzögerten Ratifizierung ist nun die Konvention auch geltendes Recht in der Bundesrepublik Deutschland geworden. Gleichzeitig veröffentlichte die Bundesregierung dazu eine »Denkschrift«, in der sie verkündete, alle Forderungen der Konvention seien in Deutschland bereits umgesetzt. Also alles in Ordnung?

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Bei mindestens 300 Gesetzen und Bestimmungen auf Bundes- und Länder-ebene besteht Änderungsbedarf, da sie diesem Menschenrechtsdokument nicht entsprechen, zum Beispiel im Schul- , Bau und Arbeitsrecht, im Betreuungsrecht, im Sozial- und Gesundheitsrecht.

Es fehlt ein klares Konzept für die Umsetzung und den Vollzug der in der Konvention genannten Menschenrechte, vor allem dort, wo die Bundesrepublik weit zurückgeblieben ist. Dazu gehört die gemeinsame Beschulung behinderter und nicht behinderter Kinder. Bisher gilt sie hierzulande nur für 14 Prozent der behinderten Kinder, weniger als in den meisten anderen Ländern Europas. Etwa jeder zehnte Bundesbürger ist behindert. Und je älter die Menschen werden, desto größer wird der Anteil an Behinderten sein. Das Engagement vieler Betroffener in der Behindertenbewegung und in den Sozialverbänden führte in den vergangenen Jahren zu manchen Erfolgen. Dennoch blieb vieles ungeklärt, so daß auch die Bundesbehindertenbeauftragte Karin Evers-Meyer von einem »Dilemma aktueller Behindertenpolitik« sprach. Die Gesetzgebung habe zwar Rechte und Ansprüche verschafft, aber »… die Gesetze werden ... in der alltäglichen Praxis kaum angewandt. Das gilt für alle Lebensbereiche behinderter Menschen, von der Frühförderung über das Wohnen bis hin zum Arbeitsmarkt.«

Es ist in der Bundesrepublik üblich, sich über Verletzungen der Menschenrechte in anderen Staaten zu ereifern, zum Beispiel mit dem Hissen von rund 1000 tibetischen Fahnen in unseren Städten und Gemeinden am 10. März 2009 durch deren Bürgermeister. Wir brauchen ein ähnliches Engagement im eigenen Haus.
Rudolf Turber


Verschüttet
Einen grauen Karton stellte der Archivar vor mir auf den Tisch. Leicht zu heben. Konnte also nicht viel enthalten – was sich beim Öffnen bestätigte. In Erinnerung geblieben sind mir eine Zeichnungsliste für Anteile an dem Verlag mit zwei Eintragungen und einige handschriftliche Manuskripte. Darunter ein quadratischer Zettel, etwa zehn mal zehn Zentimeter, beschrieben von Rand zu Rand in winzigen Buchstaben, eine kaum zu entziffernde Handschrift – ein Blatt, beschrieben von Karl Marx.

Was da im Kölner Stadtarchiv vor mir lag, waren die Reste des Archivs der Rheinischen Zeitung. Gegründet im Januar 1842 als liberales Oppositionsblatt von Vertretern der rheinischen Großbourgeoisie, entwickelte sie sich nach der Übernahme der Chefredaktion durch den vierundzwanzigjährigen Karl Marx im Oktober des Jahres zu einem revolutionär-demokratischen Blatt, bis die preußische Regierung es im März 1843 verbot. Marx‘ Mitarbeit an der Rheinischen hatte im Mai 1842 mit einer Artikelserie über die »Verhandlungen des 6. Rheinischen Landtags« begonnen. Thema des ersten Beitrages war die kritische Analyse der Parlamentsdebatte über die Pressefreiheit, in dem er jene Forderung formulierte, die noch heute als Bedingung für wirkliche Pressefreiheit gültig ist: »Die erste Freiheit der Presse besteht darin, kein Gewerbe zu sein.«

Nun liegt das Wenige, das vom Archiv der Rheinischen Zeitung geblieben ist, inmitten der Trümmer des Kölner Stadtarchivs. Man kann nur hoffen, daß es möglichst unbeschädigt geborgen werden kann.
Edmund Schulz


Keynes reicht nicht

Wieviele werden kommen? Wieviele werden gemeinsam auf die Straße gehen, wenn am 28. März in Berlin, Frankfurt am Main und anderen europäischen Städten der Ruf »Wir zahlen nicht für Eure Krise!« erschallt? Die Beteiligung an diesen Manifestationen wird ersten Aufschluß darüber geben, ob bereits massenhaft verstanden worden ist, was auf uns zurollt.

Ein »Tsunami«, fürchtet Manfred Sohn, der Fraktionsvorsitzende der Partei Die Linke im Niedersächsischen Landtag. Er meint keine Naturkatastrophe, sondern ein gesellschaftliches Beben von globalen Ausmaßen. »Wie ein Tsunami baut sich in diesen Tagen die größte Wirtschaftskrise seit über 70 Jahren vor uns auf. Die Welle hat begonnen, die Unternehmen und Hütten dieses Landes zu bedrohen. Ihre ganze Gewalt hat sich bei weitem noch nicht entladen«, schreibt Sohn in einem lesenswerten Büchlein, auf dessen knapp 100 Seiten er verschiedene Krisensymptome beschreibt und analysiert. Sein Blick reicht von versiegenden Ölquellen und knapper werdenden Rohstoffen über die ökologische Krise bis hin zur Hungerkatastrophe und der sich seit dem Wendejahr 1989 international verstärkenden Tendenz, »Gewalt und Krieg wieder als scheinbar unabwendbares Mittel der Politik zu etablieren«, und er wendet sich dann der gemeinsamen Ursache dieser Krisenbündel zu. Mit Marx sieht er sie in der Profitorientierung der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung.

Das ist prägnant und auch ein wenig flapsig geschrieben, allemal kenntnisreich, historisch fundiert und auch für politökonomische Laien verständlich – selbst in jenen Kapiteln, wo Sohn sich Marx‘ Krisentheorie zuwendet. Überzeugend warnt er davor, angesichts der Krise der Weltwirtschaft, die sich zur Krise des kapitalistischen Systems insgesamt entwickeln dürfte, die »jetzt notwendigen Maßnahmen auf den keynesianischen Horizont« zu beschränken. Schließlich sei es »eine Illusion zu glauben, durch die Stärkung der Nachfrage – die ihre Legitimität hinreichend ableitet daraus, daß die Arbeiter, Angestellten und Arbeitslosen mehr Geld brauchen – den Krisenmechanismus, der dem Kapitalismus eingewoben ist, außer Kraft setzen zu können«. Deshalb, so Sohn, »ist es für die weitere Perspektive der linken Bewegung insgesamt notwendig zu verhindern, daß wir alle Keynsianer werden«. Eine solche »Beschränkung« würde die Enttäuschung der Anhänger der Linken so sicher hervorrufen, wie Keynes »Rezepturen eben langfristig die Krisen des Kapitalismus nicht verhindern können«.

Diese Erkenntnis hindert Sohn nicht, auch links-keynesianisch inspirierte Vorschläge für Auswege aus der Krise aufzugreifen und tagespolitisch zu propagieren. So dringt er auf Vergesellschaftung des Banken- und Versicherungsektors. Vor allem aber wirbt der Linken-Politiker, der sich in der Traditionslinie Lenin-Luxemburg-Gramsci sieht, dafür, eine »linke Widerstandskultur« zu entwickeln. Der Parlamentarier warnt vor einer »Überschätzung des Parlamentarischen« und fordert: »Wir müssen weg von der Stellvertreter- und Zuschauer- und hin zu einer Mitmachdemokratie.«
In diesem Sinne liefert Sohns Buch schnelle Hilfe für die notwendige polit-ökonomische Alphabetisierung der (kommenden) Krisenopfer, ohne die weder am 28. März ein kraftvolles Zeichen von links unten gesetzt noch die von Sohn erhoffte »Bereitschaft von Millionen, selbst aktiv zu werden für eine andere Welt«, stimuliert werden kann.
Rainer Butenschön

Manfred Sohn: »Hat das System einen Fehler oder ist es der Fehler? Antworten auf die Finanz- und Wirtschaftskrise von links«, Pahl-Rugenstein Verlag, 99 Seiten, 9.95 €



Italienische Verhältnisse
Diese fundierte Einführung in die italienischen Verhältnisse beginnt mit dem Satz: »In den Befreiungskämpfen des Risorgimento, der nationalen Bewegung Italiens von 1789 bis 1871, ging es darum, den weltlichen Herrschaftsanspruch des Papstes und die Fremdherrschaft der Habsburger und Bourbonen zu brechen, um einen einheitlichen italienischen Nationalstaat und die bürgerliche Ordnung zu errichten.« In der Tat wurden Habsburger und Bourbonen vertrieben. Warum aber das Werk noch nicht vollendet ist, kann man aus diesem Buch erfahren.

Schon Friedrich Engels hatte seinerzeit erkannt, daß die in Italien zur Macht gekommene Bourgeoisie ihren Sieg nicht vollendete und das »arbeitende Volk« weiter von »überalterten Mißständen, Hinterlassenschaften nicht nur der Feudalzeit, sondern sogar noch der Antike« bedrückt blieb. Mitverantwortung dafür trägt der Vatikan, der alle an der nationalen Staatsgründung 1870 Beteiligten exkommunizierte. Erst 1923 kam es zu einer Anerkennung des nunmehr faschistischen Staates.

Die sozialistische Arbeiterbewegung entwickelte sich unter so rückständigen sozialen und politischen Bedingungen dennoch zur drittstärksten Europas, doch in den Massenaufständen nach Weltkrieg I war es der Faschismus, der »als bewaffnete Bewegung zur Zerschlagung des Proletariats« (Togliatti) siegte und bis zum Ende von Weltkrieg II währte.

Die Resistenza-Bewegung erfaßte nur die nördlichen Regionen. Dort wurde sie zu einer Schule der Demokratie, die, obgleich minoritär, doch die Nachkriegsordnung wesentlich mitbestimmte. Allerdings lag Italien im strategischen Interessengebiet der USA, die die »Entfaschisierung verhinderten und die Restauration der angeschlagenen Herrschaft des Kapitals unterstützten. So konnte eine faschistische Partei als »Sozialbewegung« (MSI) schon 1946 wiedergegründet werden, deren Nachfolger heute im Bunde mit Berlusconi das Land beherrschen. Wie es dazu kommen konnte, beschreibt der kenntnisreiche Autor mit vielen Details.
Susanna Böhme-Kuby

Gerhard Feldbauer: »Geschichte Italiens. Vom Risorgimento bis heute«, Papyrossa Verlag, 360 Seiten, 19.90 €



Henlein und seine Massenbasis
Ein höchst aktuelles (und gediegenes!) Buch ist hier zu empfehlen – gerade angesichts neuer Provokationen eines Verbandes, der starr an der Formel vom »Schicksal der Heimatvertriebenen als der vom Leid dieser Zeit (des Kriegs und Nachkriegs; E. M.) am schwersten Betroffenen« festhält. Seit Jahrzehnten läuft dieser Verband Sturm gegen das »Vertreibungsunrecht«, gegen die sogenannten Benes-Dekrete, gegen die angeblich völkerrechtswidrige Verletzung eines nirgends verbindlich kodifizierten »Grundrechts auf Heimat«. Unter der Flagge der Versöhnung, die auch von vielen aus Tschechien stammenden Deutschen ehrlich gewünscht wird, will er vergessen machen, daß die jüngere Geschichte nicht erst mit der »Vertreibung« begann.

Werner Röhr belegt, daß Tatsachen »ein hartnäckig Ding sind«: Wenn auch von der Mehrheit der Betroffenen so nicht begriffen, war »die Ausweisung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei nach 1945 … selbstverschuldet, ein Produkt eigenen Tuns, ja eigenen Willens«. Nicht die Tschechen, sondern jene Sudetendeutschen, die sich in überwältigender Mehrheit einspannen ließen in die lange und geschickt geplante Vorbereitung der gewaltsamen Liquidierung des tschechoslowakischen Staates, kündigten damit die jahrhundertelang bestehende Gemeinschaft der in Böhmen und Mähren lebenden Tschechen und Deutschen auf.
Materialreich zeichnet er die Rolle der Henlein-Partei und ihrer Massenbasis, deren direktes Zusammenwirken bei Planung und Realisierung der faschistischen Expansionspolitik und den Terror des »Sudetendeutschen Freikorps« nach. Beeindruckend ist nicht zuletzt die subtile Untersuchung der »Einbeziehung eines politisch-psychologischen Krieges in die Vorbereitung und den Ablaufplan der Aggression«.
Kurzum: ein lesenswertes, viele Fragen beantwortendes, nicht wenige Aspekte des Geschehens neu beleuchtendes Buch, dessen sorgfältig ausgewählter Dokumentenanhang besonders erwähnt sei.
Eckart Mehls
Werner Röhr: »September 1938. Die Sudetendeutsche Partei und ihr Freikorps«, Edition Organon, 344 S., 24 €


Ermittlung der Mörder
Jedes Jahr ziehen am zweiten Januar-Sonntag Zehntausende zur Gedenkstätte der Sozialisten in Berlin-Friedrichsfelde, um Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht zu ehren, jeweils demonstrativ ignoriert von den westdeutschen Medien. So auch in diesem Jahr, am 90. Jahrestag der infamen Bluttat. Doch der westdeutsche Filmemacher und Publizist Klaus Gietinger hat schon vor Jahren die Geschichte des Mordes an Rosa Luxemburg aufgezeichnet und inzwischen weiter daran gearbeitet. Ergebnis ist eine lückenlose, durch Sachlichkeit, Klarheit und Knappheit überzeugende Dokumentation des Doppelmordes, an dem Rechte und Sozialdemokraten, direkt wie indirekt, beteiligt waren. Durch Gietingers minutiöse Darstellung des Mordtages und der folgenden Scheinprozesse gegen die Täter sowie durch den Anhang mit den Details zur jahrzehntelangen Verleugnung und Verdeckung der Schandtat erleben wir »eine der größten Tragödien des 20. Jahrhundert«, wie der Autor sagt. Diese Tragödie gehört ungeteilt dem ganzen Deutschland; sie gehört zur unteilbaren deutschen Geschichte.
Bernd Heimberger
Klaus Gietinger: »Die Leiche im Landwehrkanal. Die Ermordnung Rosa Luxemburgs«, Edition Nautilus, 189 Seiten, 13.90 €


Armin Stolper
Es war die Zeit, als Kenneth Tynan, der berühmte englische Kritiker, schrieb: »In Berlin (Ost) findet man die Welt nicht nur im Zuschauerraum, sondern mehr noch auf der Bühne: Es ist Welttheater.« Und als die Zeitschrift Sinn und Form (damals noch mit Welt und nicht nur mit sich beschäftigt) beschloß, Beschreibungen der Arbeit von Regisseuren zu bringen. Im Auge hatte man »Den Drachen« und »Ödipus Tyrann« im Deutschen Theater und »Arturo Ui« und »Coriolan« im Berliner Ensemble. Da es eilte, sollten die Regisseure (in diesem Fall Besson und ich) sich selbst um geeignete Leute kümmern. Was tut ein Regisseur, wenn etwas Hals über Kopf geschrieben werden muß? Er wendet sich an den Dramaturgen. Und dabei sollte ich die Erfahrung machen, daß Dramaturg nicht gleich Dramaturg ist, nicht nur ein verbreiteter Beruf, sondern eine Berufung. Und das kam so.

Ich war mit der Beschreibung meiner Arbeit zufrieden. Die Fakten stimmten, Gedanken und Konzeptionen kamen exakt, meine persönlichen Ansichten und Absichten waren wiederzuerkennen, es gab sogar ein bißchen Humor. Kurz: die Sache war informativ. Der Dramaturg, der sie verfaßt hatte, war schließlich auch Schriftsteller. Dann hielt ich das fertige Exemplar Sinn und Form mit beiden Texten in der Hand. Den Teil über das Berliner Ensemble las ich mit Interesse, er entsprach einem guten Programmheft. Über das Deutsche Theater, also Besson, so schien es mir jedenfalls, gab es nicht nur Informationen (davon eigentlich wenig), dafür brach das ganze Theater über mich herein, in seiner ganzen Ordnung und in seinem ordentlichen Durcheinander. Versöhnliches wechselte mit gewaltigen Krächen, so wie es jeder Theatermann kennt und liebt. Es war nicht nur ein Text über Theater, es war selbst bestes Theater. Hier war ein Dramaturg am Werk, der sich nicht von seinem Arbeitsvertrag herleitet, sondern von Lessing. Denn Lessing, der Erfinder des Berufes des Dramaturgen, verstand darunter nicht nur den Informanten oder Konzeptionsschreiber oder Publikumswerber, sondern das, was er selbst sein ganzes Leben machte: die Welt zu erfassen und zu bewegen.

Heute kann ich gestehen, daß ich damals neidisch wurde und mir für meine Arbeit ebenfalls einen solchen »Lebenserfasser« wünschte, der auch das nebensächlichste Detail nicht scheute, um der Wahrheit auf die Spur zu kommen: ob mit Beschreibungen, Thesen, Witzen, Erzählungen, Beobachtungen, vor allem auch mit eigenen Stücken, denn auch das muß ein Dramaturg lessingscher Prägung können. Der Wunsch, mit einem solchen Dramaturgen einmal zusammenzuarbeiten, ging viel später in Erfüllung. In diesen Tagen arbeiten wir an Texten dieses »Lebenserfassers«, die Renate Richter und er selbst lesen und die ich ein wenig »regielich« betreue. Zum Beispiel am 23. März in Dresden, der Heimat des »Dramaturgen auf Lebenszeit«.
Herzlichen Glückwunsch zum 75., Armin Stolper!
Manfred Wekwerth


Risiko einer Nachblutung

Ein hilfreicher Fachzahnarzt hatte er-folgreich meine Fachzähne behandelt. Als ich mich höflich bedankte, drückte mir die junge Dame im Vorzimmer ein Blatt mit gedruckten »Verhaltensregeln vor und nach Operationen« in die Hand. Der anonyme Autor der Regeln beeindruckte mich mit Sätzen, die man nicht vergessen kann und darf: »Bitte nach dem operativen Eingriff nicht selbst mit dem Auto fahren.« Abgehakt. Das Auto, welches ich nicht habe, kann ich auch nicht selbst lenken. »Wegen der Blutungsgefahr körperliche Anstrengungen vermeiden.« Das entspricht meinem Temperament. Ich bücke nicht, nicht mal mich. Ich hebe nicht. Höchstens mal das Glas zu einem Trinkspruch.

»Sollte eine Nachblutung auftreten, nehmen Sie ein sauberes Stofftaschentuch, bügeln dieses so heiß wie möglich, damit es so keimfrei wie möglich wird, warten, bis es kalt wird, rollen es zusammen, legen es auf die Wunde und beißen eine Stunde lang fest darauf, ohne zwischendurch nachzuschauen, ob es noch blutet. Sie sollten sich nicht hinlegen, sondern sitzen. In keinem Fall spülen oder ständig ausspucken.«

Richtiges Verhalten ist manchmal schwierig. Ich kenne meine Schwächen, gewiß hätte ich zwischendurch nachgeschaut, ob es noch blutet. Und vielleicht wäre ich bei dem langwierigen und so heiß wie möglichen Bügeln des Stofftaschentuchs zwecks Erreichung einer optimalen Keimfreiheit beinahe verblutet.

Glücklicherweise trat keine katastrophale Nachblutung auf, so daß ich mich nach wie vor an meinem Leben und den diesbezüglichen Verhaltensregeln erfreuen darf.
Lothar Kusche