An einige US-Amerikaner denke ich immer mit Freude. Pete Seeger, der Sänger, Angela Davis, Noam Chomsky, Seymour Hersh und Howard Zinn gehören zu ihnen. Ich kann mich nicht erinnern, daß sie mich je enttäuscht hätten. Zinn, der Politiklehrer, ist kürzlich 87jährig gestorben. Wenige Tage später erschien seine Autobiographie auf Deutsch (Howard Zinn: »Schweigen heißt lügen«, übersetzt von Jürgen Schneider, Edition Nautilus, 288 Seiten, 22 €). Das Nachwort zu dieser Ausgabe (hier leicht gekürzt) ist einer seiner letzten Texte. Der frühere Werftarbeiter, Soldat, Kellner, Lagerarbeiter Zinn, dem nach seiner Rückkehr aus dem Krieg gegen Nazi-Deutschland ein Programm der damaligen Regierung das Studieren ermöglichte, vergaß nie seine Herkunft. Er rackerte sich zum Professor hoch, blieb aber links und so kämpferisch, daß er oft festgenommen und inhaftiert wurde. Als Autor verstand er es, seine Erfahrungen und Erkenntnisse bewundernswert knapp und klar zusammenzufassen, zum Beispiel so: »Wir haben mehr Gefängnisse denn je, und die Gerichte behaupten immer noch, es gebe ›ein gleiches Recht für alle‹. Es sind die Armen, die Nichtweißen, die Unangepaßten, die Machtlosen, die ins Gefängnis müssen, während die Diebe in den Chefetagen von Unternehmen und die Regierungsplaner des Krieges unbehelligt bleiben.« Oder so: »Meine Jugendlektüre (Upton Sinclairs ›Der Dschungel‹, John Steinbecks ›Früchte des Zorns‹, Richard Wrights ›Native Son‹) hatte mich gelehrt, daß Rassen- und Klassenunterdrückung ineinandergreifen. Durch die Arbeit auf der Schiffswerft wußte ich, daß Schwarze aus den Facharbeitergewerkschaften ausgeschlossen blieben und auf dem Schiff die härtesten Arbeiten als Schleifer und Nieter verrichten und mit gefährlichen Druckluftwerkzeugen hantieren mußten. Bei der Air Force war mir die Segregation schwarzer Soldaten in einem Krieg, der sich angeblich gegen Hitlers Rassismus richtete, schmerzlich bewußt geworden. In unserem Wohnblock für Einkommensschwache waren unsere Nachbarn und Freunde Iren, Italiener, Afro-Amerikaner und Puertoricaner, die zusammen im Mieterrat arbeiteten und sich zu gemeinsamen Abendessen, zu denen jeder etwas mitbrachte, sowie zum Tanz im Kellergeschoß trafen.« Große Auflagen erlebte sein Hauptwerk »Eine Geschichte des amerikanischen Volkes«, das damit beginnt, daß er Christoph Columbus nicht nur als tüchtigen Seefahrer, sondern als brutalen Räuber darstellt. Er trat auch als Theaterautor hervor, der sich traute, in den USA Karl Marx auf die Bühne zu bringen. Seine stärksten Tugenden, scheint mir, waren sein Widerspruchsgeist, seine Zivilcourage, seine Bereitschaft zum zivilen Ungehorsam – die auch aus dem folgenden Text des 87jährigen sprechen.
E.S.
Als bekannt gegeben wurde, daß Obama die Wahl gewonnen hatte, atmeten die meisten Leute auf: »
Die wären wir los!«, sagten sie – auch wenn die Geschmähten noch nicht dort sind, wo sie hingehören, nämlich hinter Gittern.
Ein denkwürdiges Ereignis war die Wahl des ersten schwarzen US-Präsidenten allemal. Für mich war es ein besonders ergreifender Moment, als das Fernsehen Studenten des Spelman College einblendete. An diesem College für schwarze Studenten hatte ich zur Zeit der Bürgerrechtsbewegung sieben Jahre lang gelehrt. Wie glücklich die Studenten aussahen und wie sie jubelten! Für mich war das ein überwältigender Anblick.
So viel zu meinen persönlichen Empfindungen, die an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben durften. Im Folgenden wird es aber darum gehen, die Obama-Präsidentschaft einer nüchternen Betrachtung zu unterziehen.
Obama ist wortgewandt, intelligent und charismatisch. In vielerlei Hinsicht ist er das Gegenteil seines Amtsvorgängers. Man ist natürlich froh, wenn im Weißen Haus jemand sitzt, dem man die Fähigkeit, einen Wandel einzuleiten, zumindest nicht von vornherein absprechen würde. Aber machen wir uns nichts vor: Obama ist ein Politiker, jemand, auf den schon qua Amt Druck ausgeübt und Einfluß genommen wird, damit er nicht mit gewissen Traditionen bricht. Kurz, der Politiker Obama wird dazu neigen, sich auf sicherem Terrain zu bewegen. Es ist nicht anzunehmen, daß er allzu stark von jenen Prinzipien abweichen wird, von denen sich frühere US-Präsidenten haben leiten lassen.
Und was sind das für Prinzipien? Zwei Worte reichen aus, um sie auf den Punkt zu bringen: Nationalismus und Kapitalismus. Jeder US-Präsident, ob liberal oder konservativ, ob Republikaner oder Demokrat, fühlte sich diesen beiden Prinzipien verpflichtet: Nationalismus, das heißt: Expansionsstreben, Imperialismus; und Kapitalismus, das heißt: Vertrauen auf das Big Business und die sogenannte Marktwirtschaft bei gleichzeitigem Verzicht auf jegliche Maßnahmen, die einem als »sozialistisch« ausgelegt werden könnten. Zwar ist Obama jetzt, wo ich diese Zeilen schreibe, erst seit Kurzem im Amt, aber Anhaltspunkte dafür, daß er diese Tradition fortzuführen gedenkt, gibt es bereits mehr als genug. Obwohl er gesagt hat, er wolle den Irakkrieg beenden, zieht Obama die Truppen nur sehr langsam ab; gleichzeitig entsendet er Soldaten nach Afghanistan, wo unsere Militäraktionen bereits tausende zivile Opfer gefordert haben und unter seiner Ägide auch weiterhin fordern.
Als Obama sich noch im Präsidentschaftswahlkampf befand, hatte er gesagt, aus dem Irak abzuziehen, sei nicht genug; wir müßten auch die Geisteshaltung ablegen, aufgrund derer wir überhaupt erst im Irak gelandet seien. Was für eine Geisteshaltung ist das? Es ist die Überzeugung, daß sich Probleme mit militärischen Mitteln lösen lassen. Daß die USA eine mächtige Militärmaschinerie haben müssen. Daß sie einen Gutteil ihres Reichtums in die Unterhaltung einer großen Armee, einer großen Marine und einer großen Luftwaffe stecken müssen. Daß sie Militärstützpunkte in aller Welt haben müssen. Es sieht aber ganz und gar nicht so aus, als hätte Obama vor, eine andere Denkart einzuführen. Eine seiner ersten Amtshandlungen bestand darin, grünes Licht für von »Predator«-Drohnen auszuführende Luftangriffe auf Pakistan zu geben. Hunderte Unschuldige sind bei diesen Angriffen bereits ums Leben gekommen. Zur Rechtfertigung heißt es, die Angriffe richteten sich ausschließlich gegen Terroristen, doch sagt uns schon der gesunde Menschenverstand, daß Bomben und Raketen nicht zwischen einem Terroristen und einem Zivilisten zu unterscheiden vermögen.
Die Demokraten geben sich bei innenpolitischen Belangen traditionell liberaler als in der Außenpolitik. Allerdings nur gerade so liberal, wie ihre Wählerschaft es verlangt, nicht liberal genug, um das Wirtschaftssystem von Grund auf zu erneuern. Obama hat zum Beispiel gesagt, daß er im Gesundheitswesen bedeutende Veränderungen durchsetzen will. Er weigert sich aber, eine Zäsur vorzunehmen, die von der Mehrheit der US-Amerikaner begrüßt würde, nämlich jedem Bürger im Rahmen eines staatlichen Gesundheitssystems zu einer kostenfreien Gesundheitsversorgung zu verhelfen. Aufgrund seiner engen Verbindungen zum Big Business scheut Obama davor zurück, an der Rolle der riesigen Versicherungsgesellschaften zu rütteln, und so werden auch weiterhin 30 Prozent der US-amerikanischen Gesundheitskosten für Verwaltung draufgehen, anstatt in die medizinische Versorgung zu fließen.
Wenn mich jemand fragt: »Naja, was erwarten Sie denn?«, dann sage ich: »Eine ganze Menge.« Und wenn mich jemand fragt: »Was sind Sie denn – ein Träumer?«, dann sage ich: »Genau das. Ich bin ein Träumer. Ich will alles. Eine friedliche Welt. Eine egalitäre Welt. Keinen Krieg. Keinen Kapitalismus. Ich will eine anständige Gesellschaft.« Ich bin froh, daß ich das Träumen nicht verlernt habe. Denn würde ich damit aufhören, müßte ich mich immer mehr auf eine Realität einlassen, die für mich nicht hinnehmbar ist.
Obama wird das Kapitalismusmodell zwar nicht grundsätzlich in Frage stellen. Seine Präsidentschaft fällt aber just in die Zeit, da das kapitalistische System der USA in die Brüche geht. Und ich bin froh, daß es in die Brüche geht, denn sonst wäre die Dringlichkeit einer Generalüberholung weniger augenfällig. Was wir in den USA brauchen, ist eine Abkehr von den alten Praktiken, eine Umgestaltung des Wirtschaftssystems. Obama war bisher nur allzu bereit, dem Druck der Konzerne und des Marktes nachzugeben.
Wenn wieder einmal die Vorzüge des marktwirtschaftlichen Systems gepriesen werden, ist Skepsis angebracht. Die Marktwirtschaft ist das, was wir bis jetzt hatten. »Laßt den Markt entscheiden«, sagten die Befürworter dieses Systems. »Freie Gesundheitsversorgung – das darf nicht sein.« Der Markt sollte die Dinge regeln, und das tat er dann auch. Mit dem Ergebnis, daß in den USA 45 Millionen Menschen ohne Gesundheitsversorgung dastehen, zwei Millionen Menschen kein Dach über dem Kopf haben und Abermillionen Menschen ihre Miete nicht bezahlen können. Fazit: Der Markt darf eben
nicht das Sagen haben. Einer Wirtschaftskrise, wie wir sie gegenwärtig erleben, ist mit den alten Rezepten nicht beizukommen. Man kann nicht einfach Geld in die obersten Gesellschaftsschichten und in die Konzerne pumpen und darauf vertrauen, daß dieses Geld dann schon irgendwie nach unten durchsickert. Was da durchsickert, ist allenfalls der berühmte Tropfen auf den heißen Stein.
In diesem Zusammenhang sei an die Geschichte des »New Deal« der 1930er Jahre erinnert, mit der viele Leute nicht vertraut sind. Wenngleich dieses Reformpaket nicht weit genug ging, beinhaltete es doch ein paar sehr gute Ideen, was sich allein dem Umstand verdankte, daß in den USA damals heftig agitiert wurde. Der Aufruhr hatte Präsident Franklin D. Roosevelt unter Zugzwang gebracht. Was also tat seine Regierung? Sie nahm Milliarden von Dollar in die Hand und gab bekannt, daß sie Leute einstellte. »Sie sind arbeitslos? Ihre Regierung hat einen Job für Sie. Was Sie auch immer beruflich machen – melden Sie sich bei Ihrer Regierung, und Sie stehen in Lohn und Brot.« Das Ergebnis war, daß im ganzen Land großartige Arbeit geleistet wurde. Junge Leute wurden millionenfach in das »Civilian Conservation Corps« aufgenommen. Anstatt sie als Kampfsoldaten nach Übersee zu entsenden, gab die Regierung ihnen Geld – genug, um den eigenen Lebensunterhalt bestreiten und einen Betrag an die Eltern schicken zu können –, und dann machten sich diese jungen Leute auf, im ganzen Land Brücken und Straßen zu bauen, Kinderspielplätze anzulegen und allerlei andere bemerkenswerte Dinge zu tun.
Die Regierung legte auch ein bundesweites Kunstförderungsprogramm auf. Sie wartete nicht ab, ob der Markt vielleicht von selbst auf die Idee käme. Nein, sie brachte das Programm eigenhändig auf den Weg und stellte tausende arbeitslose Künstler ein: Dramatiker, Schauspieler, Musiker, Maler, Bildhauer, Schriftsteller. Was dabei herauskam? Tausende Kunstwerke. Noch heute kann man im ganzen Land tausende Wandgemälde bestaunen, die damals im Rahmen dieses Programms entstanden sind. Im ganzen Land wurden Theaterstücke aufgeführt, und zwar zu so niedrigen Eintrittspreisen, daß auch Leute hingingen, die sich in ihrem Leben noch keinen einzigen Theaterbesuch hatten leisten können.
Damit ist nur angerissen, was sich alles auf die Beine stellen ließe. Die Regierung hat die Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürger zu vertreten. Sie darf diesen Auftrag nicht von den Konzernen und dem Markt erledigen lassen, denn denen geht es nicht um die Interessen der Bürger, sondern um Profit.
Vergessen wir also nicht: Obama ist ein Politiker, und wir US-Amerikaner sind aufgerufen, unserer Bürgerpflicht nachzukommen und die Politiker, einschließlich Obama, in eine fortschrittliche Richtung zu drängen. Streik, Boykott, ziviler Ungehorsam – jene Mittel also, mit denen Roosevelt damals zu den Reformen des »New Deal« gedrängt wurde – lassen sich auch heute noch wirksam einsetzen. Das ist es doch, was es heißt, in einer Demokratie zu leben. In einer Demokratie müssen die Bürgerinnen und Bürger ihrer Regierung einschärfen, daß sie dazu da ist,
ihre Interessen zu vertreten, nicht die der Politiker, Konzerne und Generäle. Wir müssen Stellung beziehen und dürfen nicht tatenlos dabei zusehen, wie die Politik weiter auf Irrfahrt geht. Wir müssen dafür sorgen, daß die Weichen neu gestellt werden. Das ist eine Grundvoraussetzung für den Aufbau einer friedlichen und gerechten Welt.