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Kubas Krisenmanagement  (Rainer Schultz)

»Auf Kuba herrscht kein Überfluß, vielmehr fehlt es an allem«, stellte Präsident Raul Castro kürzlich auf dem Lateinamerika-Gipfel in Cancun (Mexiko) vor den versammelten 33 Regierungschefs des Kontinents fest. Doch trotz eigener Nöte war es Kuba, das bereits zehn Jahre vor dem verheerenden Erdbeben in Haiti mit nachhaltiger Hilfsarbeit begann: Die Lateinamerikanische Medizinschule (ELAM) in Havanna bildete bisher etwa 500 haitianische Jugendliche zu Ärzten aus. Diese jungen Frauen und Männer arbeiten seit der Katastrophe mit 500 weiteren Studierenden der ELAM, darunter sechs US-Amerikanern, auf der Nachbarinsel. Die zweite tragende Säule kubanischer Entwicklungsarbeit, die sich von der kurzfristigen und oftmals almosen-geprägten Spendenaktivität der reichen Länder unterscheidet, ist die Alphabetisierung der Landbevölkerung Haitis. Kubanische Lehrerinnen haben durch die von ihnen entwickelte Methode »Yo sí puedo« (Ich kann es schaffen) mehr als 150.000 Haitianern zumindest rudimentäre Lese- und Schreibfähigkeiten beigebracht.

Wie ist diese Hilfe aus der Not, diese Solidarität trotz eigener substanzieller Probleme zu erklären? Dafür gibt es zwei Erklärungsmuster. Zum einen verfolgt das sozialistische Kuba seit 1959 einen alternativen Entwicklungsweg. Sein früherer Industrieminister Ernesto Ché Guevara mahnte bereits auf einer Trikontkonferenz 1963 die entwickelteren Staaten, vor allem die sozialistisch orientierten, zu ihrer moralischen und politischen Pflicht, den weniger entwickelten und gerade erst entkolonialisierten, damals zum Beispiel Algerien, beizustehen und zu deren ökonomischer und politischer Unabhängigkeit beizutragen. Wenn die entwickelteren Länder ihre Entwicklungshilfe mit hohen Zinsforderungen und asymmetrischer Arbeitsteilung aufrecht hielten (Rohstoffproduktion in der »Dritten Welt«, arbeitsintensive Verarbeitung im »Norden«), machten sie sich zu »Komplizen des Imperialismus«. Die solidarische Hilfe (militärische in afrikanischen Befreiungskämpfen, vor allem in Angola, aber auch in Asien und Lateinamerika; zivile vor allem in Afrika und Lateinamerika: Nikaragua, Grenada et cetera) wurde in verschiedenen Formen bis in die Gegenwart weiterentwickelt; inzwischen unterhält Kuba ausschließlich zivile Kooperationsprojekte.

Zum anderen hat die kubanische Regierung, teilweise aus Not nach dem Zerfall der Sozialistischen Staatengemeinschaft, ihre Investitionen in »Humankapital« (so der offizielle Terminus auf der Insel) systematisch ausgebaut. Derzeit leisten etwa 60.000 Kubanerinnen in den Bildungs- und Gesundheitssystem anderer Staaten ihre qualifizierten Dienste. Die genauen Bezahlungsmodalitäten sind öffentlich nicht bekannt, Ökonomen außerhalb Kubas gehen jedoch davon aus, daß die Erträge aus diesem Bereich etwa so bedeutend sind wie die der anderen drei Zugpferde der kubanischen Wirtschaft, nämlich Tourismus, Nickelexport und Überweisungen von Auslandskubanern.

Dank venezolanischer Erdölsubventionen im Rahmen des alternativen regionalen Integrationsprojekts ALBA vermag der kubanische Staat seine Leistungen zu unterschiedlichen Bedingungen anzubieten: Die Alphabetisierungsprogramme für die Urbevölkerung Kanadas und Neuseelands werden anders abgerechnet als diejenigen in Haiti. Mithin handelt es sich hier also um eine Art internationaler Umverteilung, an der bereits Ché Guevara arbeitete.

Trotzdem fehlt es in Kuba an (fast) allem, wie Raul Castro bemerkte. Die lokalen Bauernmärkte verfügen über relativ wenig Ware; schon vor der Öffnung bilden sich Schlangen, weil das Angebot oft nicht ausreicht. Kubas Landwirtschaft ist noch immer wenig effizient, mehr als 70 Prozent der Nahrungsmittel werden importiert. Dies liegt auch daran, daß die Insel nach 1959 zum zweiten Mal 1989/91 ihr gesamtes kommerzielles und produktives System umstellen mußte. Nach dem Zusammenbruch der Sozialistischen Staatengemeinschaft, mit der Kuba 85 Prozent seines Handels abgewickelt hatte, mußte es wieder von vorn beginnen. Zwei verheerende Stürme Ende 2008 zerstörten zudem etwa die Hälfte der Ernte.

Die großen staatlichen Produktionsgemeinschaften erfüllen ihre Sollerträge seit langem nicht mehr. Vor einem Jahr begann deshalb eine Landreform, die den Zugang privater Kleinbauern zu kleinen und ungenutzten Landparzellen erleichtert. Mehr als 100.000 Hektar Land wurden seitdem verteilt. Bremsend wirkt jedoch der weiterhin schwierige Zugang zu Produktionsmitteln (Arbeitsgeräte, Düngemittel etc.) wie auch die Pflichtabgabe einer bestimmten Menge zu festen, niedrigen Preisen an den Staat. Denn dieser bietet immer noch Lebensmittel zu einem stark subventionierten Tiefpreis an, die zentral über das Lebensmittelkartensystem, nicht über Marktmechanismen, verteilt werden. Lokalen Initiativen der ökologischen Landwirtschaft, die seit 1990 ausgebaut wurde, stehen jüngste Entwicklungsprojekte der international lukrativen Biotechnologie gegenüber. 2009 startete Kuba ein umstrittenes Pilotprojekt mit genetisch verändertem Mais auf einer 6000 Hektar großen Fläche.

Zunächst kaum von der kubanischen Öffentlichkeit bemerkt, bildet sich inzwischen zunehmend ein Bewußtsein für Ernährungssouveränität aus. Der von Fernando Funes auf der diesjährigen Buchmesse in Havanna vorgestellte Sammelband zu diesem Thema stieß auf großes Interesse und zeugte von den Spannungen zwischen der Biotech-Wirtschaft und der um Nachhaltigkeit bemühten Kleinbauernorganisation ANAP.

Aber auch in Zeitungs- und Fernsehberichten der staatlich kontrollierten Medien lassen sich ungewohnt kritische Töne über die Versorgungslage im Land vernehmen. Die Acht-Uhr-Nachrichten zeigten kürzlich leergefegte Märkte und interviewten die für die Versorgung Havannas verantwortlichen Behörden. Statt der täglich kalkulierten Menge von etwa 500 Tonnen Kartoffeln kann derzeit nur etwa die Hälfte in die Hauptstadt geliefert werden.

Das Problem ragt jedoch weit über den Nahrungsmittelsektor hinaus: Der kubanische Staat befindet sich in einem akuten Zahlungsnotstand und kann vorrangige Importe nicht mehr tätigen. Die Auslandsverschuldung bei mehreren Staaten mußte neu verhandelt werden. Gegenüber einigen Schuldnern erklärte Kuba sich bereits zahlungsunfähig – auch infolge der internationalen Wirtschaftskrise: Der Preis für Nickel, Kubas Hauptexportgut, ist seit 2008 um 50 Prozent gefallen; Einkünfte aus dem Tourismus bei etwa gleichbleibenden Besucherzahlen (rund zwei Millionen pro Jahr) sind gesunken; ebenso sind die Überweisungen der etwa eine Millionen Exilkubaner in den USA gesunken. Die Aufrechterhaltung des völkerrechtswidrigen Embargos durch die Obama-Regierung erschwert und verteuert Handel und Investitionen auf und mit der Insel. Kredite sind für die Castro-Regierung mehr als doppelt so teuer wie international üblich.

Der scheidende brasilianische Präsident Lula da Silva stellte Ende Februar während seines Inselbesuchs einen zusätzlichen Kredit von etwa einer Milliarde US-Dollar in Aussicht, davon will die kubanische Regierung allein 350 Millionen Dollar für Nahrungsmittelimporte nutzen, und sie bat bereits um einen weiteren Kredit in Höhe von 230 Millionen Dollar.

Dagegen sind die Handelsbeziehungen mit dem ehemaligen Bruder Rußland trotz eines großen, wenn auch komplizierten historischen Erbes weiterhin bescheiden: Laut Information der russischen Handelskammer beträgt das jährliche Handelsvolumen derzeit nur etwa 350 Millionen US-Dollar und umfaßt vor allem noch den Einkauf von für Kuba dringend benötigten Ersatzteilen vergangener Zeiten. Es sei allerdings eine verstärkte Zusammenarbeit im kubanischen Erdölsektor vorgesehen, nachdem zuletzt neue Vorkommen vor der Küste Kubas entdeckt wurden. Daran ist auch die vom amerikanischen Ex-Vizepräsidenten Dick Cheney mitgeleitete Erdölfirma Halliburton interessiert, die aus diesem Grunde einen Gesetzesantrag vorbereitet, im Erdölbereich Ausnahmen vom Embargo zuzulassen. Bereits heute sind die republikanisch geprägten Agrarstaaten der USA die Hauptlebensmittelimporteure der sozialistischen Karibikinsel. Wie Bertolt Brecht einst sagte: Widersprüche sind unsere Hoffnung.