Sex and crime
Medien leben von Skandalen, lenken aber durch Fokussierung auf Verfehlungen von Personen und Organisationen von den eigentlichen Skandalen ab. Nur ein Stichwort: Millionenfache Kinderarmut in diesem reichen Land. Wenn Medien nach dem Rezept »sex & crime sells« solche Verfehlungen auswalzen, können sie die Konsumenten ermüden. Wen sollte zum Beispiel die Affäre zweier homo- oder bisexueller Schiedsrichter interessieren – nur weil alles, was mit Fußball zu tun hat, ohnehin viel zu viel Beachtung findet? Jetzt – warum jetzt? – dreht sich alles um den »Mißbrauch« in katholischen Heimen. Keine Talkshow ohne die immer gleiche Besetzung mit einem Pater oder Bischof, der mit frommem Augenaufschlag beteuert, von nichts gewußt zu haben. Ausgeklammert bleibt das Kernproblem: die Sexualfeindlichkeit der katholischen Kirche. Wurden pädophile Handlungen eines Priesters bekannt, versetzte man ihn einfach – auch wohl mal unter Mitwirkung des damaligen Erzbischofs Ratzinger; das war üblich. Ein Pater kam so nach Chile, wo die katholische Kirche zu den Stützen der Pinochet-Diktatur gehörte. Wer in den Medien empörte sich darüber? Der Leiter eines Priesterseminars teilte im Fernsehen mit, seine Zöglinge könnten »Keuschheit lernen«. Nun wüßten wir gern, ob die Kirche Keuschheitsgürtel liefert.
Heinz Kersten
Vom Teufel gestiftet
Gerhard Feldbauers Buch über Papst Benedikt XVI. ist zur rechten Zeit erschienen. Hier wird überzeugend nachgewiesen, daß es sich bei den nun bekannt gewordenen Verbrechen in kirchlichen Schulen und Heimen nicht um bedauerliche Einzelfälle handelt, sondern daß sie sich zwangsläufig aus der Struktur und Tradition der, wie sie sich selbst darstellt, »alleinseligmachenden Kirche« ergeben. Diese Tradition entwickelte sich aus dem Grundsatz »Die Kirche ist alles, und alles andere ist nichts«. Ihn formulierte im 3. Jahrhundert der Kirchenvater Cyprian, Leitfigur des gegenwärtigen Papstes. Als sie bald danach als »Staatskirche« installiert war, galt ihr Streben bis in unsere Tage ihrer Machtentfaltung und Machterhaltung. Dabei bediente sie sich in ihren Kreuzzügen, Ketzerkriegen, Hexenverfolgungen, Missionsfeldzügen, Inquisitionsverfahren der schlimmsten Verbrechen, wie sie die Welt bis dahin noch nicht gesehen hatte.
Als profunder Kenner der neuen italienischen Geschichte schildert der Verfasser mit vielen, bei uns weitgehend unbekannten Details eindrucksvoll auch die Geschichte der Kurie im 19. und 20. Jahrhundert, als sie mit der hochgerühmten Enzyklika »Rerum novarum« (1891) den Kampf gegen »jede Form des Sozialismus« aufnahm und später zur einflußreichen Komplizin der italienischen, deutschen und spanischen Faschisten wurde. Sie bejahte zum Beispiel die italienische Eroberung Äthiopiens (1936), bei der 750.000 Menschen ermordet wurden.
Nach der Niederlage der Faschisten 1945 half der Vatikan vielen von ihnen, sich in Sicherheit zu bringen, darunter Adolf Eichmann und Josef Mengele. Diese Rettungsaktion wurde von Kardinal Montini, dem späteren Papst Paul VI. (1963–1978), geleitet und lief unter dem Geheimcode »Rattenlinie«.
Nach Johannes XXIII. (1958–1963), der mit dem II. Vatikanischen Konzil und seinen Enzykliken als einziger Papst die reaktionären Traditionen der Kurie unterbrach, waren seine Nachfolger Paul VI., Johannes Paul II. und der gegenwärtige Benedikt darauf bedacht, dessen »Weltöffnung« (Toleranz unter den Religionen, Absage an den Antijudaismus, Einsatz für die Armen der Welt) zurückzudrängen. Sie förderten das faschistische Opus Dei, sprachen dessen Gründer, den Franco-Verehrer und »verständnisvollen« Freund Hitlers, Balaguer Escrivá, selig und heilig, ächteten die »Befreiungstheologie« und demütigten deren Vertreter, unter ihnen Ernesto Cardenal. Mit der Rehabilitierung der Piusbrüder zeigte Benedikt XVI., daß er sich in seinem Kampf gegen Aufklärung und Demokratie und seinem »Dominanzanspruch über das weltliche und religiöse Denken von heute« (Feldbauer) gern auch der Neofaschisten bedient. Das müßte ein Signal für alle Demokraten sein, der Kirche offen entgegenzutreten, die Abschaffung ihrer zahlreichen Privilegien zu fordern, wie sie unter anderem in dem immer noch rechtsgültigen »Reichskonkordat« von 1933 festgeschrieben sind, und mit Sachkunde darauf hinzuwirken, daß ihre Machtbasis durch Austritte geschmälert wird. Dafür liefert das besprochene Buch die nötigen Argumente.
Protestanten seien darüber hinaus an das Buch ihres Stammvaters Luther von 1545 »Wider das Papsttum vom Teufel gestiftet« erinnert. Es war die Antwort auf die Schaffung des »Heiligen Offiziums«, der Inquisitionsbehörde der Kurie, die 1965 in »Glaubenskongregation« umbenannt wurde und ab 1981 Joseph Ratzinger als Großinquisitor unterstand. Da heißt es: »Der Papst ist ein Teufelsgespenst, ... dem Teufel aus dem Hintern geboren, ... er ist das Haupt ... der allerärgsten Buben auf Erden ... er ist ein Hetzer zu allerlei Blutvergießen, ein Hurenwirt über alle Hurenwirte und aller Unzucht, ein Kind der Verderbens, ein rechter Werwolf.« Und es schließt mit den Worten: »Die teuflische Päpsterei ist das letzte Unglück auf Erden ... Gott helfe uns! Amen.«
Hartwig Hohnsbein
Gerhard Feldbauer: »Der Heilige Vater. Benedikt XVI. – Ein Papst und seine Tradition«, PapyRossa, 14.90 €
Gebete für Selbstmordattentäter
Bisweilen, aber immer seltener hört man den Wunsch nach Dialog und Toleranz zwischen den Religionen. Jedes Bemühen darum wäre zu begrüßen. Viele Menschen, Gläubige und Nichtgläubige, würde es interessieren, ob es in den Religionsgemeinschaften nennenswerte Bestrebungen gibt, gemeinsam der menschenverachtenden These abzuschwören, nach der kriegerische und terroristische Gewalt zulässig ist, weil die Täter – darunter auch Selbstmordattentäter – einen sicheren Platz im Paradies zu erwarten hätten. Oder ist diese These dem christlichen Abendland so fremd, daß sich eine Distanzierung erübrigt?
Im katholischen Feldgesangbuch, genehmigt von den Katholischen Feldbischöfen der Deutschen Wehrmacht am 24. August 1939 (eine Woche vor dem Überfall auf das katholische Polen!), heißt es in einem vorgeschriebenen Gebet: »An der Front ist mein Platz, und wenn es mir noch so schwer fällt. Falle ich dort, was macht das! Morgen läuten die Glocken das Auferstehungsfest ein – welch eine Hoffnung! Sterben müssen wir alle einmal, und einen Tod, der ehrenvoller wäre als der auf dem Schlachtfeld in treuer Pflichterfüllung, gibt es nicht.« (Seite 13) Es folgen Gebete für Führer, Volk und Wehrmacht: »Laß uns alle unter seiner (Hitlers) Führung in der Hingabe an Volk und Vaterland eine heilige Aufgabe sehen, damit wir durch Glauben, Gehorsam und Treue die ewige Heimat erlangen im Reiche Deines Lichtes und Deines Friedens. Amen.« (Seite 20) Oft lesen wir ähnliches aus der islamischen Welt.
Haben sich Kirchen oder islamische Instanzen je für derartige kriegstreiberische Aussagen, für solche Aufhetzung zu »Himmelfahrtskommandos« entschuldigt? Haben wir es nur nicht vernommen?
Ulrich Sander
Probates Mittel: Desertieren!
Die Deutsche Psychotherapeuten-Vereinigung hat sich angesichts steigender Zahlen traumatisierter Bundeswehrsoldaten in Afghanistan mit einem Hilferuf an zivile Psychotherapeuten gewandt, weil die Kapazitäten der Bundeswehr erschöpft sind. Mit der Verpflichtungserklärung soll der interessierte Arzt unterschreiben, daß er »den Aufgaben der Bundeswehr in ihren Auslandseinsätzen nicht ablehnend« gegenübersteht. Kein Arzt, der dem hippokratischen Eid verpflichtet ist, kann das unterschreiben. Wenn ein Alkoholkranker mit Depressionen zu ihm kommt, wird er ihn fragen, ob er bereit ist, mit ihm über die Ursache zu sprechen. Wenn der Patient das Gespräch über das Thema Alkohol ablehnt, ist der Arzt gezwungen, die Therapie abzubrechen, weil dem Kranken nicht zu helfen ist.
Eine Ärzteorganisation macht sich als williger Helfer neuer deutscher Kriegspolitik dienstbar. Und sie verlangt medizinisch Unmögliches.
Es gibt aber gegen psychische Verletzungen an Soldaten eine wirksame Prophylaxe, die auch Nichtmediziner verschreiben können: Desertieren! Das setzt allerdings Zivilcourage voraus. Das probatere Mittel: Rückzug der Bundeswehr aus Afghanistan!
Dietrich Schulze
Sie waren mal für den Frieden
Am Beginn des Schuljahres 1988/89 wurden wegen Ordnungsstörungen an der Ossietzky-Schule in Berlin-Pankow vier Schüler der Schule verwiesen. Sie konnten ihr Abitur erst nach der Wende nachholen. Was hatten sie im Sinne der DDR-Oberen verbrochen? Damals waren die Kirchen im Osten Schutz für die Friedensbewegten. Aus dem Westen kam Unterstützung ideeller und materieller Art. Und so ließen sich junge Leute begeistern. Die Losung »Frieden schaffen ohne Waffen« und das Nein zum paramilitärischen Unterricht leuchteten sofort ein. In der Ossietzky-Schule gab es keinen Erwachsenen, der die jungen Leute auf eventuelle Konsequenzen aufmerksam gemacht hätte. Man ließ sie sozusagen ins offene Messer laufen, auch einen Jungen, dessen Großvater Oberstleutnant der Staatssicherheit war. Seine Mutter tat alles, um die Sache publik zu machen. Und so kam es zum Eklat, weidlich im Westen ausgeschlachtet.
Was wurde seitdem aus »Frieden schaffen ohne Waffen«?
Heute wird mehr gerüstet als damals. Die Bundeswehr steht am Hindukusch. Sie schickt Offiziere in die Schulen, wir alle werden weiter auf militärische Operationen mit Kollateralschäden an der Zivilbevölkerung in den Einsatzgebieten vorbereitet. Und was denken die ehemals Friedensbewegten?
Kommen wir auf die oben erwähnte Mutter, Vera Lengsfeld, zurück. Sie erhielt 1990 den Aachener Friedenspreis, wurde Bundestagsabgeordnete der CDU. Ihr Sohn Philipp, damals relegiert, ist heute CDU-Schatzmeister in Berlin-Pankow. Hat jemand deren Protest gehört?
Thomas Schalop
Ziel erreicht
Wer sich in diesem eben zögernd weichenden Winter auf den Buckelpisten Berlins, unter denen sich Gehwege vermuten ließen, Arm, Bein, Becken, Ellenbogen oder Kniescheibe brach, der hatte, ungewollt zwar, Zeit gewonnen. Die konnte er in Rettungsstationen und Krankenhäusern, sodann in Wartezimmern von Ärzten und in seinen häuslichen vier Wänden verbringen. Die einen taten das gelegentlich leise oder laut vor sich hinfluchend. Stillere Naturen verfielen eher ins Grübeln. Gehörten sie zu den Älteren, die einst Bürger der DDR waren, mochten sie sich fragen, ob ihnen derlei Mißgeschick auch im untergegangenen Staat passiert wäre. Die Antwort wäre vielfach ein doppeltes Nein gewesen. Erstens, weil sie damals doch zwanzig Jahre jünger, beweglicher und reaktionsschneller waren, und zweitens, weil sich die sogenannten Bürgersteige damals bei ähnlicher Herausforderung in einem anderen Zustand befanden. Da hätten sich die Frauen und Männer aus den VEBs in Oberschöneweide auf der Wilhelminenhofstraße betätigt, und der Dreher, der schon lange mal mit seinem Betriebsleiter sprechen wollte, hätte die Gelegenheit genutzt, die sich ihm dazu beim gemeinsamen Schneeschippen bot – ähnlich wie Unter den Linden der Student, der seinen Professor sonst nur im Hörsaal hinter dem Pult sah und dozieren hörte. Kurzum, wer seine Zeit so nachdenkend nutzte, dem konnte Erkenntnisgewinn entstehen. Und er wäre, hätte ihn ein die Veränderungen im deutschen Osten erforschender Wessi oder ein damit Beauftragter aus der jüngeren Schar der seit Geburt Gesamtdeutschen nach seinen zurückliegenden Eindrücken befragt, ein verläßlicher Zeitzeuge gewesen. An Krankenstühlen und -betten war bequem und billig Gewißheit darüber zu gewinnen, daß es die ostdeutsche Gesellschaft von einst nicht mehr gibt, wirklich nicht.
Aber wer hätte diesen Winter 2009/10 auch vorhersagen können? Und mit ihm die Chancen, die sich durch ihn eröffneten. So wurde der Frage, ob sich jenseits der Elbe noch unvernichtete Reste des Denkens und Verhaltens aus DDR-Zeit auffinden ließen, auf anderen Wegen nachgegangen. Objekt der Feldforschung wurden die brandenburgische Stadt Wittenberge und deren Bewohner. Dorthin begaben sich 28 Forscher, manche von ihnen bezogen dort für fast ein Jahr Quartier, taten sich unter Rentnern, Arbeitslosen, Unternehmern, Pendlern und anderem Volke um und informierten sich darüber, was die so trieben, dachten, einst erwarteten und nun ernüchtert nicht mehr erwarten, was die einen gewonnen und die anderen verloren haben. Dirigiert wurde das Unternehmen von Heinz Bude, Professor an der Universität Kassel und dort Inhaber des Lehrstuhls für Makrosoziologie.
Jüngst konnte er das Ergebnis des Unterfangens vorstellen. Das Fazit geriet ihm in den Satz: »Vom einstigen sozialistischen ›Wir‹ ist in Wittenberge nichts mehr zu spüren.« Das wird die Altostdeutschen nicht überraschen und die Bundesregierung zufrieden stellen, die für diesen geistigen Zugewinn 1,7 Millionen Euro lockergemacht hatte. Das Forscherresultat kann samt entstandener Rechnungen – Ordnung muß sein, darauf hat der Steuerzahler ein Recht – in die Mappe »Ziel erreicht« abgelegt werden.
Kurt Pätzold
Walter Kaufmanns Lektüre
Als Landolf Scherzer bei der Rückkehr nach schier endlosen Fußmärschen durchs Ungarische, Kroatische, Serbische bis hin nach Rumänien der Frau eines Reiseunternehmens gesteht, er habe gegen ihren Rat auf rumänischen Feldern, in kroatischen Weinkellern, sogar bei serbischen Zigeunern geschlafen, schlägt sie die Hände überm Kopf zusammen und sagt: »Jesses Maria, da haben Sie aber Glück gehabt.«
In der Tat!
Was Scherzer sich zugemutet hatte, war nicht nur eine Mutprobe, es war auch eine Kraftprobe. Über staubige Landstraßen schleppte er sich dahin, bei strömendem Regen zwang er sich weiter, er strapazierte seine Beine, die Riemen des Rucksacks schnitten ihm ins Fleisch, der Rücken schmerzte ihn, aber er gab nicht auf, setzte Fuß vor Fuß und immer geradeaus. Morgens wußte er nicht, wo er in der Nacht sein Haupt betten würde, aber er muß eine Art haben, die ihm Türen öffnet: Fast immer fand er eine Bleibe und traf Männer und Frauen, Jungen und Mädchen, Greise und Greisinnen, die ihre Erinnerungen vor ihm ausschütteten.
Das mache ihm einer nach, der Ungarisch nicht, nicht Kroatisch noch Serbisch spricht, auch nicht Rumänisch, nur etwas Russisch – und Deutsch natürlich. Ein Minimum an Wörtern mußte genügen, meistens gelang die Verständigung. Lebensschicksale taten sich ihm auf und die wechselvollen Schicksale der Orte, Landstriche, Länder, durch die er zog. Wie war es früher, wie ist es heute, nach dem Sozialismus? Bringt die neue Zeit Fluch oder Segen? Und wie hat sich die Zersplitterung Jugoslawiens auf die Bevölkerung ausgewirkt, das Unheil all der Kriege, Mord und Massaker und NATO-Bomben? Auch wenn Scherzer Historisches einblendet, zwingt er keinem seine Meinung auf. Der Leser soll sie sich selbst bilden aus dem, was er durch die Augen des Autors wahrnimmt – und das ist viel. Scherzer sieht, was andere übersehen: ein blaues Dixi-Klo vor einem mächtigen Zementsilo, ein verlassenes Haus am Wegrand (warum verlassen? Scherzer findet es heraus), ein Stacheldrahtzaun vor einem Friedhof – den wird er sein Lebtag nicht vergessen. Denn vor diesem Zaun machte er Rast, als er überfallen, ihm sein Rucksack mit all seiner Habe geraubt wurde: Geld und Paß und sämtliche Notizen (für ihn wohl der schmerzlichste Verlust). Und dann ... genug! Man durchlebe selbst, wie Scherzer sich fühlte, als die bösesten Prophezeiungen wahr geworden waren: »Zieh nicht allein durch die Lande, sieh dich vor, trau nicht jedem.«
Der Leser wird nachvollziehen, wie es anmutet, wenn das Abenteuer ein jähes Ende nimmt und nichts mehr zu gehen scheint. Und beeindrucken wird ihn das Stehvermögen eines Mannes, der sich in den Arm beißt, um nicht aufzuschreien, sich schließlich aufrafft und weiterzieht, weiter und weiter – immer geradeaus.
Womit wir wieder beim Titel dieses Erlebnisberichts von bestechend schöner, ruhiger Prosa wären, einem Scherzer-Buch eben, das voller Geschichten ist, abenteuerlichen, besinnlichen, romantischen, auch haßerfüllten und bösen, und Einblicke gibt in eine Welt, die geographisch nicht weit ist und doch den meisten von uns sehr fern.
W. K.
Landolf Scherzer: »Immer geradeaus«, Aufbau-Verlag, 303 Seiten, 19.95 €
Sprachakrobatik und Hintersinn
Der Ostberliner Literaturkritiker Linus Cord wird 1961 – die Grenze ist noch offen – von einem und später drei Stasi-Offizieren besucht und beauftragt, in der Westberliner Wehrmachtsauskunftsstelle die Nummer seiner Wehrmachts-Erkennungsmarke zu erfragen. Cord lehnt, obwohl er sich zum Essayisten hocharbeiten will, die Zusammenarbeit ab. Die eigene Neugier treibt ihn dann doch zu dem Amt, das womöglich eine Nummer verwaltet, die ihm mit seinem Eintritt in die Kriegsgefangenschaft von den Sowjets abgenommen wurde. Sie könnte eine Lüge des damals sehr jungen Soldaten aufdecken. Daß Cord bei seinen Ausflügen nach Westberlin auffällig von Stasi-Genossen beobachtet, ja begleitet wird, gibt ihm zu denken.
Soweit die Handlung, die viele Möglichkeiten zum Nach- und Weiterdenken birgt: Künstler und Geheimdienste, Kriegserlebnisse und Soldatengeheimnisse, Literaturtheorie über den »allwissenden Autor« und die Geschichte von Datenaufbewahrung, die unterschiedliche Qualität von Fahrrädern in Ost und West und so weiter.
Kant nutzt all das weidlich im Stil »gewundener Wendungen«, der gekonnt alle Feinheiten der Sprache handhabt und bis zuletzt offenläßt, ob es sich um einen realitätsprallen Roman oder eine romanhafte Posse, ja auch ein Gleichnis über das Verhältnis zwischen Stasi und freiwillig/unfreiwilligen Dienstleistern handelt. Am Schluß weiß der Leser: Es ist beides! Glaubte Cord wohl, mit den geheimen Genossen Katze und Maus spielen zu können, sind die sich sicher: Sie sind die Igel im Wettlauf mit dem Hasen.
Wer sich in die Eigenarten Kantscher Sprachakrobatik einliest und sich den wunderbar zum Vorlesen geeigneten Text auf der Zunge zergehen läßt, wird Gewinn und Genuß haben. Man freut sich über Bonmots, Anspielungen, Sprachspiele, raffiniert legt der Autor Fährten, die zwar Wirkliches schildern und bedenken, aber auch große Umleitungen sind, um den hintersinnigen Spaß auf die Spitze zu treiben.
Christel Berger
Hermann Kant: »Kennung«, Aufbau-Verlag, 250 Seiten, 19.95 €
Politische Filmgeschichte
Gelehrige Schülerinnen und Schüler wissen es inzwischen: In der alten Bundesrepublik bestand politische Medienfreiheit, Zensur gab es nicht – ganz anders als in der DDR. Nun liegt ein »Werkbuch« zu einem alten Film vor, einem Klassiker historischer Dokumentation: »Der gewöhnliche Faschismus« des sowjetischen Regisseurs Michail Romm, 1968 in die Kinos gekommen, in der Thematik und Wirkung ähnlich wie »Nacht und Nebel« von Alain Resnais. Er erreichte Millionen Zuschauer in vielen Ländern. In Westdeutschland, auch daran erinnert das »Werkbuch«, wurde versucht, die Aufführung des Films zu unterdrücken. Der Publizist und ehemalige KZ-Häftling Eugen Kogon, der sich dafür aussprach, ihn auch hier zu zeigen, wurde als »Helfer für ein propagandistisches Stoßtruppunternehmen aus der Moskauer Sudelküche« angegriffen.
Noch schroffer, noch wirksamer hatte die politische Filmzensur in den 1950er Jahren gewütet, die Bundesregierung hatte eigens zu diesem Zweck eine Kommission etabliert. Ein kleines Beispiel: 1953 ermittelte die Staatsanwaltschaft gegen mich, weil ich in einer Studentengruppe die Aufführung des DEFA-Films »Der Untertan« arrangiert hatte, Regie Wolfgang Staudte, nach dem Roman von Heinrich Mann. Kritik des wilhelminischen »Nationalgeistes«, in den westdeutschen Kinos nicht zugelassen, sollte nicht einmal in »geschlossener Gesellschaft« gezeigt werden. Die alte Bundesrepublik – ein Hort der Medienfreiheit?
Arno Klönne
Wolfgang Beilenhoff, Sabine Hänsgen (Hg.): »Der gewöhnliche Faschismus«, Werkbuch zum Film von Michail Romm, Verlag Vorwerk 8, 355 Seiten, 24 €
Welt der Arbeit
»Die Presseerklärung scheint die schärfste Waffe des DGB zu sein«, schreibt Franz Kersjes in seiner Internetzeitung
weltderarbeit. Kein Gewerkschaftsverächter ist es, der sich so äußert; Kersjes hat sich sein Leben lang gewerkschaftlich engagiert, war leitender Funktionär der IG Druck und Papier und ihrer Nachfolgeorganisation IG Medien, die dann Teil der Gewerkschaft ver.di wurde. Er beschreibt den stetigen Machtverlust der organisierten Vertretung von Arbeiterinteressen: wie immer mehr Unternehmen sich dem Tarifvertragssystem entziehen, wie die bestehenden Tarife aufgeweicht oder unterlaufen werden, wie die Arbeitszeiten der Vollbeschäftigten ausgedehnt und zugleich Minijobs, Teilzeit und Leiharbeit als neue »Normalität« durchgesetzt werden. »Wo war der kämpferische Widerstand der Gewerkschaften?«, fragt Kersjes. »Bisher sind bei ihnen keine Ansätze für eine Mobilisierung festzustellen. Gewerkschaftliche Politik beschränkt sich auf die Intervention bei den herrschenden politischen Eliten.«
Welt der Arbeit – so hieß einst die große Wochenzeitung des DGB, als die Gewerkschaften im öffentlichen Streit um gesellschaftspolitische Weichenstellungen noch präsent waren. Kersjes‘
weltderarbeit kann nicht wettmachen, was der DGB versäumt; aber wer einer entschiedenen Gewerkschaftspolitik voranhelfen will, findet auf dieser Webseite regelmäßig nützliche Informationen zur Arbeits- und Sozialpolitik, zur Lage der Gewerkschaften und zu Arbeitskämpfen, ohne Leisetreterei (
www.weltderarbeit.de).
A.K.
Versager Westerwelle
»Richtig im Falschen« überschreibt Giovanni die Lorenzo, Chefredakteur der Wochenzeitung
Die Zeit, seinen Leitartikel zu Guido Westerwelles gesellschaftspolitischem Wirken. Durch seine Redeweise habe der FDP-Chef eine Partei in Verruf gebracht, »die jedes Recht dazu hätte, die Effizienz staatlicher Wohlfahrt zu bezweifeln, wenn sie nur andere Mittel der Auseinandersetzung suchte«, meint die Lorenzo, denn der Zweck sei durchaus richtig: eine »unerschrockene Prüfung der sozialen Netze«. Die nämlich verleiten, so sieht er es, zu massenhaftem parasitärem Verhalten: »sich in der Staatshilfe einzurichten« oder sich Sozialleistungen zu Unrecht anzueignen (20 Prozent »Leistungsbetrug« vermutet di Lorenzo unter Berufung auf Wolfgang Clement, »der es eigentlich wissen müßte«) oder in das Netze-Land einzuwandern ohne die Absicht, »durch eigener Hände Arbeit sein Glück zu finden«.
So kann es nicht weitergehen – aber Westerwelle hat die »Kurskorrektur« verpfuscht, die richtige Botschaft falsch intoniert. Einen intelligenten Berater hätte der Mann sich halten sollen, bei der
Zeit wäre einer zu finden gewesen.
Marja Winken
Die S-Bahn-Räder sind zu klein
Nachdem Galileo Galilei schon vor einiger Zeit zumindest die nicht streng katholische Menschheit darüber aufgeklärt hat, daß die Erde die Sonne umkreist, ist diese Information inzwischen allgemein bekannt und anerkannt.
Eine Frage von zwar lokaler, aber keineswegs geringer Bedeutung betrifft die Berliner S-Bahn, genauer gesagt: die S-Bahn-Räder, die sich schon seit langem nur sehr langsam oder unregelmäßig oder gar nicht um die Achsen drehen. Das Ergebnis dieses vom Obersten Bahn-Kommando befohlenen Ruhestands ist bekanntlich eine spinale Verkehrslähmung, welche den wirtschaftlichen Nutzen der S-Bahn ebenso beeinträchtigt wie ihren Renditefluß. Was sich nicht bewegt, bewegt auch nichts. Ein Kamel, das alle Transportgäste abwirft, wirft für den Kameltreiber nicht den geringsten Profit ab.
Die Leitenden Kamele der Bahn – also die zahlreichen Leitenden Kamele, von denen man nicht ahnte, wie viele es gibt – haben sich nun, was ihnen offensichtlich schwer fiel, Gedanken über die Gründe des Bahnstillstands gemacht. Irgendetwas mußten sie doch den Leuten erzählen! Heraus kam dies: »Die S-Bahn-Fahrzeuge und -Anlagen, welche uns (!) die DDR hinterlassen hatte, waren teilweise so verrottet, daß wir sie nicht unverzüglich fahrtüchtig machen konnten.«
Die von der DDR »hinterlassenen« Fahrzeuge und Anlagen hatten ihre Fahrtüchtigkeit zu DDR-Zeiten nicht annähernd so eingebüßt wie unter dem Nachlässigkeitsregime der DB-Verrottungshelfer. Bahn-Chef Mehdorn ließ streckenweise neben der funktionierenden S-Bahn ein drittes und zweites Gleis mit Starkstrom-Oberleitung und den dazugehörigen Masten installieren. Diese Luftblasen-Technologie wurde selbstverständlich nicht aus Mehdorns Portokasse finanziert, sondern aus den von ihm und seinesgleichen erbeuteten Kassen der »Deutschen Reichsbahn«.
Apropos »DR«. Nach Einverleibung der Reichsbahn in die gesamtdeutsche Bundesbahn mußten auf sämtlichen DR-Fahrzeugen und -Anlagen die DR-Kennzeichen in DB-Signaturen umgewandelt werden. Ein kaufmännisch sehr begabter Grafiker erhielt den Auftrag, das »DB«-Symbol zu gestalten, und entledigte sich dieser ungemein schwierigen Aufgabe, wie ich annehme, in etwa fünfzehn Minuten zwischen Frühstück und Kohlrouladen. Das Honorar ließ sich der Pinsel-Pfiffikus nicht für seinen einmaligen Entwurf auszahlen, sondern nach der Anzahl der Kopien berechnen.
Man bedenke: Das wichtige »DB« ziert mehrfach jeden Personen- oder Güterwagen, jede Lokomotive, jeden Bahnhof, jede bahneigene Streusandkiste und so weiter. Von seiner Millionen-Einnahme konnte der Fleißige einen personengebundenen Schrebergarten pachten – mit eigener Laube und Petroleumlampe!
Eine immer noch auf den Öffentlichen Personen-Nahverkehr angewiesene Bürgerin wies darauf hin, daß auf den Wagen inzwischen nicht mehr DB stehe. Nachdem einige Zeit mit dem Namen »Die Bahn« operiert worden sei, ziere jetzt »Bahn« die Waggons. Mag sein, mag nicht sein. Ich muß gestehen, daß ich, wenn ein Zug anrollt, darauf konzentriert bin, wie ich in diesen hineingelangen kann, falls sich die Türen öffnen, und nicht darauf, was an den Wagen angemalt ist.
Nachdem sich herausgestellt hatte, daß die oben erwähnten Zusatzgleise den Zweck, den sie nicht hatten, keinesfalls erfüllen konnten, wurden die Gleise und die Oberleitungskabel demontiert und verkauft. Buntmetall ist wertvoll.
Die Leitungsmasten stehen noch.
Was könnte man daran aufhängen?
Vielleicht Fotos jenes Experten, der unlängst den ganzen S-Bahn-Schlamassel fachmännisch damit erklärte, was er allein herausgefunden hatte: »Die S-Bahn-Räder sind zu klein.« So einfach ist das, und niemand vor diesem genialen Kenner ist darauf gekommen!
Ich schlage vor, die S-Bahn künftig ohne Räder zu betreiben.
Dann könnte man ihre Schienen auch noch verramschen.
Lothar Kusche