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Titel0612

Geheiligte Doppelmoral  (Hartwig Hohnsbein)

Für viele, die die »jüdisch-christlich-abendländische Tradition« als unverbrüchliche Gottesordnung beschwören, wurde die Nominierung von Joachim Gauck zum Bundespräsidenten zu einer rechten Anfechtung. Er möge seine »persönlichen Verhältnisse so schnell als möglich ordnen«, beschwor der Wertehüter der CSU, Norbert Geis, MdB, den Kandidaten, und er spielte damit darauf an, daß dieser, obwohl immer noch verheiratet, seit Jahren mit einer Lebenspartnerin zusammenlebt und mit ihr womöglich ein gemeinsames Schlafzimmer im Schloß Bellevue haben wird. Es sollen nun nicht die Schlafzimmerverhältnisse des 72jährigen beleuchtet werden; von Belang ist für den mündigen Bürger hingegen zu erfahren, welche politischen Haltungen der Erwählte bisher vertreten hat. Diese Haltungen sind in den letzten Wochen in Ossietzky 5/12, in dem soeben erschienenen Buch von Albrecht Müller »Der falsche Präsident«, in Artikeln des Freitags, der taz, der jungen Welt und etlichen Kommentaren dazu herausgearbeitet geworden. Es sollen vielmehr im folgenden aus gegebenem Anlaß die wesentlichen Vorstellungen der jüdisch-christlich-abendländischen Tradition von Ehe- und Sexualmoral dargestellt werden, mit deren Hilfe in den USA Präsidentschaftswahlen gewonnen werden können und die verstärkt im »alten Europa« wieder Einfluß gewinnen.

Am Anfang der Tradition steht die Bibel, und am Anfang der Bibel, aus der die abendländische Wertegemeinschaft ihre Orientierung, wie sie sagt, erhält, steht das Wort von der gottgestifteten Einehe. Doch schon bald, so erzählt die biblische Sage weiter, fanden es die Nachkommen von Adam und Eva angenehmer, neben der Hauptfrau noch Nebenfrauen zu haben. Abraham gab sich noch mit nur einer Nebenfrau zufrieden, sein Enkel Jakob hielt sich schon zwei Haupt- und zwei Nebenfrauen, und der König in Israel, Salomo, hatte später gar siebenhundert Hauptfrauen und dreihundert Nebenfrauen. Dem Volk und den Obersten des Volkes gefiel das so gut, daß sie ihren König den »Weisen« nannten und viele Weisheitssprüche auf ihn zurückführten. Doch den Schöpfergott verbitterte diese Eheauffassung. So gab er ein neues Testament mit verschärften Zusatzverordnungen heraus. Darin fordert der Allmächtige: zurück zur Einehe, striktes Scheidungsverbot, Unterordnung der Frau unter ihren Ehemann und für den das Verbot, auch nur einen begehrlichen Blick auf eine andere Frau zu werfen. Bei Übertretung, so ließ er durch seinen Sohn Jesus ausrichten, wären Höllenstrafen die Folge (Matthäus 5 Vers 29).

Doch auch bei seinen neuen Anhängern, die jetzt »Christen« hießen, riß bald wieder der alte Schlendrian in der Ehe- und Nebenfrauenfrage ein. »Gottes Ordnung und sein Gebot« werden durch den »päpstlichen Haufe« besudelt, der »den Ehestand verachtet« und »die Einfältigen mit lügenhaften Worten und Schein betrügt«. So schrieb Martin Luther in seinen Grundsatzaussagen zum »Sechsten Gebot« (»Du sollst nicht ehebrechen«) im »Großen Katechismus« von 1529 und offenbarte abermals den Willen seines Gottes, den er genau kannte. Der will »das junge Volk dazu halten, daß sie Lust zum seligen Ehestand gewinnen« und »mit ganzer Treue«, lebenslang, darin bleiben, denn außerhalb davon lauern »Hurerei« und »andere schändliche Laster«. An anderer Stelle stellt der Reformator mit Texten aus dem Alten Testament (zum Beispiel 5. Mose 22 Vers 24: Steinigungsstrafe für Ehebrecher) an die »Obrigkeit« die Frage: »Warum tötet man die Ehebrecher nicht?«

Eine Offenbarung etwas anderer Art hatte Luther dann aber auch noch. Die geschah, als sein Förderer, der Landgraf Philipp von Hessen, wegen seiner übermäßigen »Brunstigkeit« und wegen des »üblen Geruchs« der Landgräfin an ihn herantrat, er möge ihm doch bitte, natürlich insgeheim, eine zweite Ehefrau genehmigen. Diese Bitte seines Sponsors mochte der Reformator nicht enttäuschen. Er erinnerte sich an die alten Patriarchen in der Bibel, die alle auch ihre Haupt- und Nebenfrauen gehabt hatten und dennoch bei ihrem Gott »Anerkennung fanden«, und so stimmte er der »Doppelehe« zu. Dabei mag er an die Schlacht von Frankenhausen gedacht haben, in der sein landgräflicher Freund das Bauernheer besiegt und ihn dadurch von seinem ärgsten Kritiker, Thomas Müntzer, erlöst hatte. Freundschaftsdienste. Die Sache mit der genehmigten Doppelehe gefiel Luthers Nachfolgern nicht so gut. Deshalb griffen sie für die Glaubensorientierung des Volkes wieder auf den »Großen Katechismus« zurück, als sie 1580 ihre »Bekenntnisschriften« zusammenstellten, auf die die lutherischen Pastoren in Rostock wie in Hannover bis zum heutigen Tage bei ihrer »Amtsbestellung« (»Ordination«) im »Ordinationsgelübde« eine »Lehrverpflichtung«, oft sogar schriftlich, ablegen müssen. Und die gilt lebenslang.

Nach 1580 entwickelten die Theologen, selbstverständlich immer in Übereinstimmung mit der göttlichen Schöpfungsordnung, wie sie behaupteten, eine ausgefeilte Sexualmoral, die dabei half, ein Hauptanliegen lutherischer Theologie in das Verhalten der »Untertanen« einzupflanzen: den Gehorsam gegenüber der »Obrigkeit«. In einer Denkschrift zur »geschlechtlichen Sittlichkeit« um die Jahreswende 1932/33 werden, in klassischer Weise, die Bedrohungen der »göttlichen Schöpfungsordnung« genannt: Ehebruch, Schwangerschaftsunterbrechung, Geburtenbeschränkung, alle damals bekannten Verhütungsmittel, uneheliche Kinder, Homosexualität als »schwere Sünde«, die »strafrechtlich verfolgt« werden müsse, worauf sich das Naziregime mit seinen Gesetzen von 1935 und 1938 berufen konnte und damit viele Betroffene in den Tod schickte. Vor »einer schweren Versündigung an Gottes unverbrüchlicher Ordnung«, der Onanie, wurden im Konfirmandenunterricht und in der Jugendarbeit die Heranwachsenden immer schon nachdrücklich gewarnt (empfehlenswert dazu der Film »Das weiße Band«). Erst in den 1960er/70er Jahren konnte sich die evangelische Kirche den Erkenntnissen Sigmund Freuds und anderer Psychoanalytiker zur Ehe und Sexualität nicht mehr entziehen. Sie wickelte weite Teile ihrer geltenden Ehe- und Sexualmoral ab, die bis dahin als Ausfluß des heiligen Gotteswillens ausgegeben worden waren. Als es dann gar der damaligen lutherischen Bischöfin Margot Käßmann gelang, ihre Ehescheidung durchzuziehen, ohne dabei ihr Amt zu verlieren, was bis dahin für jeden lutherischen Pastor in gleicher Situation unabwendbares Schicksal gewesen war, war ein weiteres Stück repressiver Sexualmoral abgeräumt – vorerst, denn die evangelikalen Bibelverehrer, die in der evangelischen Kirche an Einfluß gewinnen, wollen wieder zurück zu Luthers »Großem Katechismus« und haben dabei in den Papstgläubigen starke Unterstützer. Das also ist die jüdisch-christlich-abendländisch-päpstlich-lutherische Tradition zum Thema Ehe- und Sexualmoral, wie die Welt sie kennengelernt hat: Sie ist widersprüchlich und doppeldeutig, verlogen und frauenfeindlich. Sie hat in der Vergangenheit viel Leid über die Menschheit gebracht. Sie muß im 21. Jahrhundert endlich überwunden werden!