»Macht hoch die Tür, die Tor macht weit« – ist eigentlich ein Kirchenlied, das vor allem zur Adventszeit gesungen wird, aber in diesen Tagen könnte es auch in Berlin-Tiergarten, im weitläufigen Gelände des Schlosses Bellevue erklingen. Ein Wunder geschieht: Ein kleiner Bub aus Rostock, zum Manne gereift, als Pastor im klandestinen Kampf für die Freiheit, gegen das Böse gestählt und als Aktenverwalter gehärtet, wird hineinschreiten als erster Mann des Staates. Als Erlöser von den Untaten seines Vorgängers wird er seine Amtsgeschäfte aufnehmen und, wie er selbst bezeugte, »die Sehnsucht der Menschen nach einem, dem sie vertrauen können, nach Verläßlichkeit und Glaubwürdigkeit« stillen.
Seit langem preisen ihn die Medienkonzerne und die schwarzen, gelben, rosaroten und grünen demokratischen Parteien als »herausragende Persönlichkeit«, »Freiheitskämpfer«, »Selbstdenker«, »Menschenfischer«, »Wanderprediger in Sachen Freiheit und Demokratie«, »Versöhner der Nation«, »richtigen Demokratielehrer«, »unabhängigen, intellektuellen Kraftmensch«, »Überzeugungstäter ohne Parteibuch«, »überparteilichen politischen Mensch«, »politischen Aufklärer und Freiheitsdenker«. Nur die Ganzroten wollen partout nicht in die Lobgesänge einstimmen und nennen ihn gar einen »Präsidenten der kalten Herzen« und »Spalter der Gesellschaft«. Skrupellos überziehen ihn seine Widersacher mit einer schier endlosen Kette von haltlosen Vorwürfen, und so wird es Zeit, daß endlich auch in Ossietzky einer ihm zur Seite springt.
Was wird Joachim Gauck nicht alles unterstellt! So wird behauptet, er habe als Pfarrer in Rostock mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) gekungelt, das ihm außergewöhnliche Privilegien eingeräumt und ihm zum Beispiel für seinen Beitrag zum störungsfreien Ablauf des DDR-Kirchentages 1988 ausdrücklich belobigt habe. Infam weisen sie darauf hin, daß das MfS ausgerechnet 1988, als der Widerstand gegen die SED-Herrschaft anwuchs, den fünf Jahre zuvor angelegten Operativen Vorgang zu seiner Beobachtung mit dem Decknamen »Larve« mit der Begründung geschlossen habe, daß von Gauck keine »Aktivitäten« ausgehen, und gleichzeitig prüfte, den Kirchenmann als »Informellen Mitarbeiter« zu gewinnen? Na und? Gerade in dieser unruhigen Zeit hat Gauck beispielhaften Mut bewiesen. Als sein Kirchenchef, Landesbischof Christoph Stier, es nach eigener Aussage kategorisch ablehnte, mit der SED und »mit der Stasi erst recht nicht« Gespräche zu führen, hat er sich eben heimlich mit einem MfS-Offizier in seiner Privatwohnung getroffen und laut dessen Aktenvermerk seinen Glauben unterstrichen, daß das MfS einen echten positiven Beitrag zur Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft einbringen werde. Er konnte doch damals nicht wissen, daß der Arbeiter- und Bauernstaat und mit ihm das MfS so schnell den Bach runtergeht und erst recht nicht, daß er eines Tages als Bundesbeauftragter Herr über die Akten des DDR-Geheimdienstes werden würde.
Behauptet wird gar, der zukünftige Bundespräsident sei kein »Bürgerrechtler« gewesen und nur im letzten Moment auf den Zug des Neuen Forums aufgesprungen. Was für eine Infamie! Zu ihr läßt sich ausgerechnet das CDU-Mitglied, der Rechtsanwalt Peter-Michael Diestel, der unter Lothar de Maizière der letzte Innenminister der DDR war, hinreißen, um zu behaupten, Gauck sei »nie Bürgerrechtler gewesen ... Daß er mit der Bürgerrechtsbewegung in der DDR nicht das Geringste zu tun hat, weiß kaum jemand besser als ich.«
Nein, alles was Recht ist! Die Behauptung, daß Gauck »nie Bürgerrechtler gewesen« sei, ist ebenso eine böswillige Unterstellung wie die Mär von einer Zusammenarbeit mit dem DDR-Geheimdienst. Schließlich hat er seine Akte ohne Aufsicht sorgfältig durchgesehen, nichts dergleichen gefunden und zehn Jahre später eine eidesstattliche Versicherung abgegeben, in der er betont, »zu keinem Zeitpunkt bewußt und gewollt mit dem Staatssicherheitsdienst zusammengearbeitet« zu haben. Eine solche Erklärung eines durch und durch rechtschaffenen Bürgers hat natürlich Gewicht. Notgedrungen sahen sich seine Widersacher deshalb offenbar gezwungen, seine aktuellen Reden und Publikationen zu durchforsten, um andere Angriffspunkte zu finden, und sie meinen, fündig geworden zu sein. So nörgeln und beanstanden sie, daß unser zukünftiges Staatsoberhaupt Thilo Sarrazin als »mutig« lobte und den Begriff »Überfremdung« »bewußt« verwendet, die deutsche Kriegsbeteiligung in Afghanistan rechtfertigt, »Hartz IV« und die Agenda 2010 verteidigt, die Occupy-Bewegung, die gegen die Macht der Finanzmärkte kämpft, als »unsäglich albern« bezeichnet, die anlaßlose Vorratsdatenspeicherung billigt, DDR-Unrecht und Drittes Reich gleichsetzt und die Bespitzelung der Linkspartei für rechtens hält.
Nicht genug damit. Selbst Kirchenleute sticheln gegen den Freiheitsdenker: »Er singt ein Loblied auf die Freiheit. Ich vermisse das Loblied auf die Gerechtigkeit«, meint Friedrich Schorlemmer, um noch eines draufzusetzen und zu erklären, daß sich Gauck »zur Erlöserfigur stilisieren« lasse, gegen den »unser Herr Jesus Christus klein (erscheint)«. Die Schriftstellerin Daniela Dahn ist gar der Auffassung, daß der »Demokratielehrer« ein »konservatives, teilweise reaktionäres Weltbild« habe. Besonders geschmacklos äußerte sich die bekannte Kabarettistin Christine Prayon, die sich zu dem makabren Scherz verstieg: »Gauck findet Hartz IV prima, Occupy albern, Sarrazin mutig und die Entscheidung, aus der Atomkraft auszusteigen, gefühlsduselig. Was lernen wir daraus? Aus der Kernkraft auszusteigen schützt leider nicht vorm Super-Gauck.«
Ja, wo leben wir denn! Hat denn Gauck als »Lehrer der Freiheit« nicht das Recht auf eine eigene Meinung, schließlich ist Meinungsfreiheit ein hohes vom Grundgesetz geschütztes Gut. Warum soll das ausgerechnet für einen Bundespräsidenten nicht gelten? Von seinen Kritikern wird völlig außer acht gelassen, daß er sich flugs auf neue Situationen einstellen kann und über nahezu prophetische Gaben verfügt.
Als Gauck erstmals von der Absicht erfuhr, in Berlin eine zentrale Gedenkfeier für die Opfer der Neonazi-Morde auszurichten, sprach er sich gegen einen Staatsakt aus. Eine Einladung lehnte er wegen eines »anderen Termins« ab. Nachdem er jedoch unerwartet noch einmal zum Kandidaten für das höchste Staatsamt ausgerufen worden war, revidierte er blitzschnell seine Haltung und nahm, weil es für ihn »eine »Selbstverständlichkeit« war, teil. Hellseherisch verhielt er sich gegenüber der Ikone der friedlichen Revolution Bärbel Bohley. Bereits im Herbst 1990 beantragte er ihren Ausschluß aus dem Neuen Forum, da diese wider allen Rechts die Besetzung der MfS-Zentrale initiierte, um eine Auslagerung der Akten in das Bundesarchiv nach Koblenz zu verhindern. Zwar wurde sein Antrag abgelehnt, aber schon damals hatte er offenkundig vorausgesehen, daß die Bohley das Erbe der Freiheitsrevolution verraten würde, was in deren berüchtigtem, glücklicherweise noch immer wenig bekanntem Rückblick auf das Jahr 1989 gipfelte: »Wenn ich an mich denke, dann setzte ich alles daran, eine andere Gesellschaft zu erreichen, und ich merke heute: Das ist ja alles noch viel schlimmer, perspektivloser, ressourcenvergeudender und unsozialer als damals.«
Eine solche Fehleinschätzung wird Gauck nicht unterlaufen. Für ihn war und ist die Bundesrepublik, wie er unermüdlich hervorhebt, ein »sozialer Rechtsstaat«. So zieht er denn mit Glanz und Gloria durch das weit geöffnete Tor in das Präsidentenschloß ein, auch wenn die wachsende Zahl seiner Widersacher Ermutigung bei Marie von Ebner-Eschenbach suchen wird: »Über das Kommen mancher Leute tröstet uns nichts als die Hoffnung auf ihr Gehen.«