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Titel0612

Unerschrocken gegen soziale Gleichheit  (Arno Klönne)

Den Ludwig-Börne-Preis für politische Publizistik erhält in diesem Jahre Götz Aly (im Vorjahr war Joachim Gauck der dafür Auserwählte). Die Deutsche Presse-Agentur berichtete, Aly sei ausgezeichnet worden, weil er, den Gründen für den Holocaust nachforschend, »zu dem Schluß gekommen« sei, »daß das Streben nach sozialer Gleichheit, das sich seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland ausbildete, sich letztendlich gegen die Juden richtete«. Die Medien in der Bundesrepublik verbreiten nun diese Erklärung für den mörderischen Antisemitismus des Nazi-Systems. Die F.A.Z. fügte noch aktualisierend hinzu, Aly, »der Unerschrockene«, werde gewürdigt wegen »seines Plädoyers für Freiheit von Bevormundung«. Historisch verantwortlich für den Holocaust soll demnach die historische deutsche Sozialdemokratie sein, und die Lehre für die Gegenwart heißt: Raus aus der unmündig machenden Sozialstaatlichkeit.

Anlaß zur Preisverleihung an Aly ist vor allem sein Buch »Warum die Deutschen? Warum die Juden?« Er bringt darin durchaus lesenswerte Materialien zur Ideengeschichte des Antisemitismus im deutschen Kaiserreich, sucht nach Hintergründen dafür und wird fündig: Die Arbeiterbewegung war die Schuldige, mit ihrem »Gleichheitswahn«, der »Sozialneid« gegen das Judentum erzeugt habe. Der »soziale Egalitarismus« von links, so die zentrale These von Aly, habe – wenn auch ungewollt – die Voraussetzungen für das »Dritte Reich« und dessen vernichtenden Antisemitismus geschaffen.

Zur Verfahrensweise von Aly ein Börne-Zitat: »Die Wahrheit dient oft nur als Leiter zur Lüge. Man wendet ihr verächtlich den Rücken, sobald die Höhe erreicht ist.« Wer den Faschismus, auch den deutschen, als eine Variante sozialer »Gleichheitssucht« darstellt, fälscht Geschichte. Die Nazis erhoben vielmehr das Prinzip der Ungleichheit, die Lehre von »höherwertigen« und »minderwertigen« Rassen, Bevölkerungsgruppen und Individuen zur politischen Doktrin.

Götz Aly führt seinen Kampf nicht nur gegen die historische Arbeiterbewegung, er eifert auch gegen die neue Linke, die der 1960er Jahre und die von heute. Und da kommt ihm die Nominierung von Beate Klarsfeld zur Bundespräsidentschaft gerade recht. Deren handgreifliche Kritik am ehemaligen NS-Propagandisten Kiesinger als Bundeskanzler deutet er in einem aktuellen Zeitungskommentar als psychopathologische Tat: Klarsfeld, und darin sei sie typisch gewesen für andere Antinazis um 1968, habe sich »in die Identifizierung mit den Opfern des NS geflüchtet« und so die moralische Legitimation gesucht, »auf den westdeutschen Nachkriegsstaat verbal oder physisch einzuschlagen«. Im »Privaten« habe das Motiv gelegen, in der Unfähigkeit, den »innerfamiliären Nebel zu durchbrechen«, der über der Geschichte des »Dritten Reiches« gelegen habe, und so sei der altbundesrepublikanische Staat mitsamt Kiesinger zum »Ersatzobjekt« der Abneigung geworden. Folgt man dieser Deutung, ist die westdeutsche politische Klasse in der Zeit von Kiesinger und Co. reingewaschen. Es gab dann keinen Grund, sich mit der »unbewältigten Vergangenheit« in der damaligen Gegenwart auseinanderzusetzen, mit deren Machtstrukturen und deren Akteuren. Der erwähnte Kommentar von Aly erschien in der Frankfurter Rundschau. Wer sich die Mühe macht, in deren Ausgaben aus den 1960er Jahren nachzublättern, wird feststellen: Diese Zeitung, damals couragiert, brachte sonst kaum zu findende kritische Berichte über das ungehinderte Fortwirken von Funktionsträgern des NS-Systems in den Institutionen von Staat und Gesellschaft der Bundesrepublik. Und die meisten derjenigen, die gegen diese fatale Kontinuität angingen und deshalb vielfach als »Nestbeschmutzer« diffamiert wurden, hatten nicht etwa familienpsychische Probleme zu lösen. Sie kamen aus der Opposition gegen den deutschen Faschismus, hatten überlebt und mußten sich nun gegen die wieder etablierten ehemaligen NS-Parteigänger wehren. Das war die Ära, in der von gutbürgerlichen Politikern und Medien Widerstand gegen die hitlerdeutsche Politik ungeniert als »Landesverrat« geschmäht wurde. Götz Aly, der »Unerschrockene«, will dies vergessen machen.