Die Weimarer Republik sei an zuviel Toleranz gegenüber ihren Feinden von links und rechts zugrunde gegangen. So ist es zu lesen auf den Websites deutscher Verfassungsschutzämter. Beim mecklenburg-vorpommerschen Amt beispielsweise heißt es, die Weimarer Reichsverfassung sei »vom idealistischen Demokratiemodell der ›reinen Toleranz‹ geprägt« gewesen. Dabei sollte angeblich »jede politische Strömung ... die Möglichkeit haben, sich durchzusetzen, soweit sie nur die erforderliche Mehrheit im Parlament erreichen konnte«. Deshalb habe man auf effektive Instrumentarien gegen Verfassungsfeinde verzichtet. Die Vorlage zu diesem Text findet sich beim Bayerischen Landesamt für Verfassungsschutz: »Die Weimarer Republik hat bei der Bekämpfung der Feinde der Demokratie versagt. Die erste freiheitliche Verfassung Deutschlands, die Weimarer Reichsverfassung, war vom Demokratiemodell der reinen Toleranz geprägt. Gegenüber den Feinden dieser Staatsform sollte Nachsicht geübt werden, ihre feindliche Haltung gegenüber dem Staat sollte hingenommen werden. Den Feinden der Weimarer Republik wurde hierdurch ermöglicht, völlig legal an die Macht zu kommen.«
Es war also die übertriebene Begeisterung deutscher Polizeipräsidenten, Bürgermeister und Minister für die Demokratie, die den Faschisten den Weg ebnete?
Wie und wo Toleranz geübt und nicht geübt wurde und wie es aussah mit der Liebe zur Demokratie bei denen, die am Ende der Weimarer Republik das Sagen hatten, erfährt man am Beispiel Regensburg aus dem Buch »Der Fall Maldaque – Ein Willkürakt mit Todesfolge«, das soeben im Verlag Friedrich Pustet erschienen ist. Elly Maldaque war Volksschullehrerin in der von der Bayerischen Volkspartei (BVP) regierten Bischofsstadt. 1930 wurde sie von einem Spitzel der Politischen Polizei als angebliches Mitglied der KPD denunziert, fristlos aus dem Schuldienst entlassen und zwangsweise in eine psychiatrische Klinik verbracht, wo sie elf Tage später starb.
Das Schicksal der bei ihren Schülerinnen und deren Eltern beliebten 36jährigen Lehrerin erregte einst ganz Deutschland und war auch in jüngerer Zeit Gegenstand von Kontroversen. In der gesamten Presse (auch in der Weltbühne) wurde der Fall diskutiert. Ödön von Horváth schrieb darüber ein Dramenfragment, der Regensburger Schlossermeister, Schauspieler und Bühnenautor Josef Wolfgang Steinbeißer ein Theaterstück, Walter Mehring eine Ballade und Franz Hummel die Oper »An der schönen blauen Donau«. Seit 2007 bemüht sich das Regensburger »Theater an der Uni« darum, den Namen »Elly Maldaque Theater« zu erhalten; Studentenwerk und Uni-Verwaltung zeigen dafür keinerlei Verständnis. 1982 veröffentlichte der Tübinger Literaturwissenschaftler Jürgen Schröder sein Buch »Horváths Lehrerin von Regensburg – Der Fall Elly Maldaque«, in dem er der Frage nachging, inwieweit Horváth sich an die historischen Tatsachen gehalten hat. Noch nie zuvor sind jedoch die Ereignisse, die zum Tod von Elly Maldaque führten, so umfassend recherchiert und so sorgfältig im Kontext des politischen Umfeldes verortet worden wie in der neuen Publikation des Autorenquartetts Waltraud Bierwirth, Luise Gutmann, Klaus Himmelstein und Erwin Petzi.
Im ersten Teil des Buches beschreibt der Erziehungswissenschaftler Klaus Himmelstein »das kurze Leben der Elly Maldaque«: ihre Kindheit in Erlangen, wo Kaserne und Exerzierplatz das Lebensumfeld der beiden Kinder des königlich-bayerischen Fachoffiziers Wilhelm Maldaque bildeten; ihre bayerisch-patriotische und deutsch-nationale Erziehung und Ausbildung; ihre Lehrtätigkeit an der (damals) protestantischen Von-der-Tann-Schule in Regensburg; ihre Auseinandersetzung mit dem fanatisch-religiösen Vater und ihre Hinwendung zu sozialen Fragen. Sehr differenziert zeichnet Himmelstein Maldaques Begegnungen mit Persönlichkeiten wie dem Armenarzt August Kerscher in Nittenau, dem französischen Dichter, Pazifisten und Kommunisten Henri Barbusse, den sie zusammen mit ihrer Freundin Irene Neubauer in Frankreich besuchte, oder dem Regensburger KPD-Stadtrat Konrad Fuß, auf dessen Bitten sie hin und wieder bei Parteiveranstaltungen Klavier spielte. Zur aktiven Kommunistin sei Maldaque damit nicht geworden, schließt Himmelstein: »Vergleicht man Maldaques Weg mit dem der 16 Jahre älteren Sozialistin Antonie (Toni) Pfülf, die sich ebenfalls aus einem konservativen Offiziersmilieu befreite, Volksschullehrerin in München wurde, aus der Kirche austrat und schließlich Reichstagsabgeordnete der SPD für den Wahlkreis 25, Niederbayern und Oberpfalz, also auch für Regensburg, wurde, dann fällt auf, daß hier die Abkehr vom ›Alten‹ und die Wendung zum Sozialismus in konkrete politische Arbeit mündete. Maldaques schwärmerisches, idealistisches Bekenntnis zum Kommunismus läßt noch keine reale politische Konsequenz erkennen.« Aber schon Elli Maldaques Suchen außerhalb eingefahrener Wege, ihre Unvoreingenommenheit und ihr solidarisches Verhalten auch gegenüber gesellschaftlichen Außenseitern, ihr Bemühen um eine eigenständige emanzipatorische Entwicklung waren zu viel für die Weimarer Toleranz. Von Spitzelberichten über die Anwesenheit einer Lehrerin mit französisch klingendem Namen bei KPD-Veranstaltungen führte der Weg zur »bayerischen Entlassung« wegen angeblicher kommunistischer Betätigung und Freidenkertum und zum Tod der Maldaque in der Heil- und Pflegeanstalt Karthaus-Prüll.
Konrad Fuß und dem Umgang mit ihm von Seiten der guten Regensburger Gesellschaft ist ein eigenes Kapitel gewidmet. Der KPD-Stadtrat, Sozialpolitiker und Freidenker überlebte das KZ Dachau und den Krieg, zu dem der »Wehrunwürdige« 1943 noch eingezogen wurde, und kehrte 1946 aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft nach Regensburg zurück. Bei der Kommunalwahl 1952 wurde er wieder in den Stadtrat gewählt. »So wie in den Jahren der Weimarer Republik profilierte sich Konrad Fuß erneut als engagierter Sozialpolitiker. Sein Kontrahent war ein alter Bekannter: Hans Herrmann, einst unwiderruflicher BVP-Bürgermeister, dann Nazi-Bürgermeister, jetzt CSU-Oberbürgermeister. Er ging mit den beherzten Dringlichkeitsanträgen des Stadtrats Konrad Fuß so um, wie er es früher handhabte: Ablehnung oder Überweisung an den Ausschuß, in dem das Anliegen nicht mehr zur Sprache kam.«
1968 gehörte Konrad Fuß zu den Gründungsmitgliedern der Regensburger DKP. Für die jungen Linken in und außerhalb der Partei war der alte Kommunist eine wichtige Informationsquelle über die Stadtgeschichte. Luise Gutmann, damals junge Lehramtsstudentin in Regensburg: »Von ihm erfuhren wir auch die Geschichte Elly Maldaques, was im Januar 1977 zur szenischen Lesung des Dramenfragments von Ödön von Horváth im Augustiner führte.«
Aktueller Grund für die Wiederentdeckung des »Falles Maldaque« durch die Studenten war die Praxis der Berufsverbote aufgrund des sogenannten Radikalenerlasses von 1972. Waltraud Bierwirths Kapitel »Über die Kontinuität von Gesinnungsschnüffelei und Obrigkeitsstaat« ist – neben Klaus Himmelsteins Schilderung der Lebensgeschichte Elly Maldaques – der spannendste Teil des Buches. Gibt es noch eine Erinnerung in der Stadt an die grausame Geschichte von 1930? Ehemalige Schülerinnen erinnern sich gern an ihre Lehrerin mit den ungewohnt modernen Lehrmethoden. Andere wollen sich nicht erinnern, wollen auch die Erinnerung nicht wieder hochkommen lassen. Aufschlußreich die Tendenz, Elly Maldaque, für deren Tod Politiker der gutbürgerlich-katholischen BVP verantwortlich waren, als »erstes Opfer der Nazis« hinzustellen. Verbirgt sich dahinter die Ahnung, wie tolerant der Umgang der Obrigkeit mit den Nazis, wie groß die antikommunistische Gemeinsamkeit mit ihnen war? Oder soll mit der BVP einfach nur die Partei entlastet werden, in deren Nachfolge sich die CSU heute versteht?
Urkomische Episoden aus der Geschichte der Regensburger Universität hat Bierwirth bei ihren Berufsverbote-Recherchen erfahren. Und auch Geschichten wie die des Diplomsoziologen Fred Karl, den der Freistaat Bayern wegen seines linken Engagements einer wissenschaftlichen Laufbahn für unwürdig hielt und der es unter ungeheurem Kraftaufwand in einem anderen Bundesland dann doch schaffte und zum international renommierten Pionier auf dem Fachgebiet der Sozialen Gerontologie wurde.
Ein umfangreicher Dokumententeil, eine Zeittafel, ein hauptsächlich von Erwin Petzi sorgsam zusammengestelltes Kompendium mit Kurzbiographien von Personen und Organisationen, die im Leben von Elly Maldaque eine Rolle gespielt haben, sowie ein ausführliches Literaturverzeichnis ergänzen den Band.
Als Werbung für eine Stärkung des bestehenden »Verfassungsschutzes« ist das Buch nicht brauchbar, wohl aber als Anregung zu Überlegungen, welche Toleranz notwendig und welche ungeeignet ist, um Demokratie und Menschenrechte effektiv zu schützen.
Waltraud Bierwirth, Luise Gutmann, Klaus Himmelstein, Erwin Petzi: »Der Fall Maldaque – Ein Willkürakt mit Todesfolge«, Verlag Friedrich Pustet, 302 Seiten, 29,95 €