Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs hat sich die Informationsexplosion der vorangegangenen Dezennien noch einmal rasant beschleunigt. In Deutschland erscheinen derzeit pro Tag 200 neue Bücher. Laut einer quantifizierenden Studie aus dem Jahre 2003 stieg das Wachstum an gespeicherten Informationen zwischen 1999 und 2002 jährlich um 30 Prozent; allein im Jahre 2002 wurden fünf Exabyte (eine Zahl mit 18 Nullen) an neuer Information produziert. Alle fünf bis sieben Jahre verdoppelt sich das weltweit verfügbare Wissen.
Die prinzipielle Verfügbarkeit von Wissen ist aber rein theoretischer Natur. Niemand »verfügt« hier abschließend über etwas, nicht einmal diejenigen Institutionen, die Wissen monopolisieren. Aus Sicht des Individuums bewirkt die Informationsexplosion eine dramatische Fragmentierung beim Zugang zu Wissensbeständen. Ein unendlicher Perspektivismus tritt an die Stelle eines seit jeher bloß angemaßten »Überblickswissens«. Heute kann man sich kaum noch vorstellen, daß es einmal Menschen gab, die an so etwas wie eine »Universalgeschichte« glaubten. Goethe, der manchmal als letztes »Universalgenie« gefeiert wird und im Briefwechsel mit Schiller gegen den »Dilettantismus« zu Felde zog, dilettierte selbst bei vielen seiner »wissenschaftlichen« Forschungen.
Das Wissen über den fragmentarischen Charakter beim Zugang zu den allermeisten Wissensressourcen, abgesehen von einem winzigen Spezialgebiet, führt zu der Auffassung, daß wir in aller Regel und weiter zunehmend Dilettanten sind und bleiben. Diejenigen, denen das bewußt ist, sind offenbar gegenüber den allzu selbstgewissen »wissenden Profis« im Vorteil. Daß sich noch einmal ein System von Meinungen zu einem »dogmatischen Gebäude« zusammenzufügen vermöchte – dagegen sind bekennende Dilettanten immun. Der Wahlspruch solcherart aufgeklärter Dilettanten könnte lauten: »Wage zu dilettieren! Habe Mut, dich deines Dilettantismus zu bedienen!« Denn Dilettantismus (italienisch: »dilettanti« = Liebhaber), produktiv gefaßt, bedeutet: Obwohl ich nicht die letzten Gründe erkundet, die vollständigen Argumentationsketten in einem Themengebiet nachvollzogen habe, wage ich doch, tätig zu sein, mich einzumischen, politische Aktivität zu entfalten. Man merkt schon: Zu einem »den Deutschen« nachgesagten zwanghaften Perfektionismus (mit der Folge einer Handlungshemmung – denn wer vermag schon zu sagen, ab wann etwas als »perfekt« bezeichnet werden kann?) steht das aufgeklärte Dilettantentum quer.
Aufgeklärter Dilettantismus: Erkenntnistheoretisch ein neuer Skeptizismus, praktisch eine Einladung zum Pfusch? Das läßt sich nicht ganz von der Hand weisen. Aber wie viele – theoretische und praktische – Einsichten haben ihren Ursprung in kaum Bewußtem, Improvisiertem oder waren ungewollte Nebeneffekte einer Liebhaberei mit ganz anderer Absicht? Zu denken, grundlegende Erkenntniszuwächse seien nach einem vordefinierten Plan verlaufen, verkennt die wirklichen windungsreichen, oft zufällig erkannten Zusammen- und Auseinanderhänge. Zuwächse an praktischer Erkenntnis gewinnt man vor allem im Widerstreit der Meinungen. Hier gibt Nicht-Wissen, Anders-Wissen, Perspektive den entscheidenden Schwung, Neues, Konstruktives gemeinsam und für die Gemeinschaft in Erfahrung zu bringen und danach zu – handeln!
Ja, mischen wir uns ein! Denn andernfalls wäre es mit dem Anspruch auf demokratische Verhältnisse bald endgültig vorbei. Dann könnten zum Beispiel Finanzminister, unbelästigt vom gemeinen Bürger, über ihre Krisenlösungskompetenz schwadronieren und ihre Masterpläne von hochbezahlten Beratern entwerfen lassen, die allerdings Profis darin sind, dem Finanzkapital weiterhin prächtige Profite zu sichern.
Die Dringlichkeit, in einem emanzipatorischen (und das heißt: dem Menschen und seiner Lebensumwelt dienlichen) Sinne tätig zu sein, wächst immer mehr in Anbetracht der sich zuspitzenden Weltlage. Stichworte mögen reichen: Kollaps der Finanzmärkte, Klimakatastrophe, Bevölkerungsexplosion und so weiter. Die Zuständigkeit dafür sollten wir nicht den »Experten« aus Politik, Wissenschaft oder Wirtschaft überlassen. – Also: Vorwärts, ihr liebhabenden Stümper! Die anderen wissen es auch nicht besser.