Es ist fast müßig zu fragen – und niemand fragt –, ob Angela Merkel bei ihrem letzten Türkeibesuch auch den Kurdenkonflikt angesprochen hat. Und wenn ja, dann sicher nur, um ihre Bemühungen herauszustreichen, mit Verfassungsschutz, Polizei und Justiz gegen Kurdinnen und Kurden wegen Unterstützung der PKK auch in Deutschland vorzugehen.
Seit fast 30 Jahren herrscht faktisch Bürgerkrieg in der Türkei. Er frißt sich wie ein Krebsgeschwür durch die türkische Gesellschaft und hinterläßt eine blutige Spur von Tod und Zerstörung, Folter und Vertreibung. Keine der Regierungen war bisher bereit, der kurdischen Bevölkerung die gleichen Rechte einzuräumen wie der türkischen. Auch die jüngste Geste, drei kurdischen Abgeordneten der BDP einen Besuch bei Abdullah Öcalan auf der Gefängnisinsel Imrali zu erlauben, täuscht über die wahren Absichten und die Stärke des neuen osmanischen Herrschers offensichtlich hinweg.
Denn gleichzeitig gehen die Militäroperationen im Südosten der Türkei, dem Norden Kurdistans, und die Luftangriffe auf Südkurdistan jenseits der irakischen Grenze weiter. In den vergangenen Wochen flogen türkische Kampfflugzeuge nach Nordirak und bombardierten die Meder-Gebiete, in die sich die Guerilla zurückgezogen hat. Der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan handelt nur scheinbar aus einer Position der Stärke. Die zahlreichen Gerichtsprozesse gegen Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte, Journalistinnen und Journalisten, Gewerkschafterinnen und Gewerkschafter, die täglichen Verhaftungen, die überfüllten Gefängnisse und die vielen Hungerstreiks signalisieren, daß es in der Gesellschaft gärt. Die Nervosität der Regierung zeigt sich an dem politischen Auftrag der Anklagen, die sich in der Mehrzahl auf die Unterstützung oder die Mitgliedschaft in einer Organisation (KCK oder PKK) beziehen und nur in den seltensten Fällen ein konkretes strafbares Delikt zum Gegenstand haben. Die Situation an der syrisch-türkischen Grenze und die Drohungen gegen den Nachbarn zeugen ebenfalls nicht von einer Position der Stärke, selbst wenn die NATO ihre Unterstützung mit Patriotraketen bekundet. Denn die Gefahr geht nicht von den Truppen Assads aus, sondern von den Autonomiebestrebungen der syrischen Kurden und ihrem Sezessionsanreiz für die eigene kurdische Bevölkerung.
Doch wo liegt der Schlüssel zu einer politischen Lösung dieses über hundertjährigen Konfliktes?
Nelson Mandela mußte 27 Jahre auf Robben Island vor der Küste Südafrikas warten, ehe die südafrikanische Regierung unter Frederik de Klerk die Realität anerkannte, daß es ohne die unumstrittene Führungsfigur des mächtigsten Gegners keinen Frieden im Lande geben werde. Öcalan ist jetzt bereits 13 Jahre auf Imrali, und Erdoğan scheint es allmählich zu dämmern, daß der schwelende Krieg im eigenen Land nicht ohne die zentrale Persönlichkeit der Kurden befriedet werden kann. Und diese Persönlichkeit ist nach wie vor Abdullah Öcalan. Man hat immer wieder versucht, ihn durch verschärfte Isolierung aus dem Gedächtnis der Kurdinnen und Kurden zu streichen – vergebens. Wie oft hat man versucht, ihn durch andere Personen zu ersetzen – und es gibt hervorragende Persönlichkeiten zwischen Istanbul und Diyarbakir. Aber niemand hat die Ausstrahlungskraft, die historische und charismatische Legitimation eines Abdullah Öcalan. In ihm bündeln sich die verschiedenen Strömungen und Kräfte der Kurden. Er hat es verstanden, aus dem Gefängnis heraus durch historische und programmatische Schriften sich Gehör zu verschaffen und die Widerstandskraft seines Volkes zu stärken. Niemand kommt an ihm vorbei, kein Friedensplan kann ohne ihn erstellt werden – das sollte die Lehre aus jetzt bald 30 Jahren erfolgloser militärischer Auseinandersetzung und über zehn Jahren vergeblicher Verbannung Öcalans sein.
Seit Öcalan am 2. August 1999 von Imrali aus einen Wechsel der Strategie des bewaffneten Kampfes verkündet hat, wurden die Guerillaeinheiten der PKK weitgehend von türkischem Territorium abgezogen und ausschließlich auf Selbstverteidigung verpflichtet. Dies war der zweite große Schritt auf die Regierung zu, nachdem der 5. Kongreß der PKK bereits am 24. Januar 1995 auf die Forderung nach einem eigenen kurdischen Staat verzichtet hatte und auf Autonomie und Selbstverwaltung innerhalb der Grenzen der Türkei setzte. Die bestehenden Staatsgrenzen werden anerkannt und sollen somit unberührt bleiben. Dies waren substantielle Angebote an die türkische Regierung zu ernsthaften Verhandlungen, die diese allerdings nie wirklich angenommen hat. Denn trotz verschiedener Gesprächskontakte mit Regierungsvertretern in New York, Oslo und selbst auf Imrali, hat sich Erdoğan nie auf die Forderungen nach Demokratie und Selbstbestimmung eingelassen.
Das Lösungsmodell der »demokratischen Autonomie«, welches Abdullah Öcalan der Regierung Erdoğan für ernsthafte Verhandlungen unterbreitet, ist in seinen Grundzügen bekannt und enthält kaum neue oder überraschende Vorschläge. Es ist in vielfältiger Form von unterschiedlichen kurdischen Organisationen bereits vorgetragen worden. Ob 2006 vom Koma Komalên Kurdistan (Gemeinschaft der Kommunen Kurdistans) als »Deklaration zur demokratischen Lösung der kurdischen Frage« oder 2011vom Kongreß für eine demokratische Gesellschaft (DTK) als »Vorlage eines Modellentwurfs für ein Demokratisches Autonomes Kurdistan«. Es hält sich ganz im Rahmen der Kopenhagener Kriterien, die auch die EU an den Beitritt der Türkei als Voraussetzung anlegt: Anerkennung der kurdischen und aller anderen ethnischen Identitäten, Gleichberechtigung der kurdischen Sprache und Kultur in allen gesellschaftlichen Bereichen, Anerkennung freier politischer Betätigung und Organisation sowie Freilassung der politischen Gefangenen einschließlich Öcalans. Im Zuge derartiger Verhandlungen ist auch immer wieder die Entwaffnung der Guerilla angeboten worden, wenn gleichzeitig die Regierung ihre Truppen aus Kurdistan abzieht und das Dorfschützersystem abschafft.
Die Umsetzung dieses demokratischen Konföderalismus erfordert in der Tat tiefgreifende Reformen der staatlichen Verfassung, die Erdoğan offensichtlich noch nicht bereit ist, voranzutreiben. Dahinter stehen die traumatische Erfahrung der Zerschlagung des Osmanischen Reiches und die Angst, daß Autonomie und Selbstverwaltung nur der erste Schritt zu weiterer Aufteilung und Sezession sind. Die zunehmende Unabhängigkeit und Selbständigkeit der Kurden im Norden Iraks und Syriens nähren diese Befürchtungen natürlich. Doch Erdoğan kommt aus diesem Dilemma, nicht heraus, wenn er weiterhin den Dialog verweigert.
Solange den Völkern in der Türkei und vor allem den Kurden nicht ihre vollen Rechte eingeräumt werden, herrscht ein latenter Bürgerkrieg im Lande, der jeder Zeit in Aufstände und Gewalt ausbrechen kann. Eine Regierung, die dieses Problem nicht löst, bleibt in ihrem politischen Handeln gelähmt und muß immer wieder zu Mitteln der Repression und Gewalt greifen. Wenn jetzt eine erste Delegation von kurdischen Politikern nach Imrali reisen kann, ist das ein überfälliger Schritt politischer Vernunft. Doch Öcalan bleibt ein Gefangener und beansprucht nicht das Recht, für alles und alle zu sprechen. Erst wenn er das Gefängnis verlassen und sein Volk in Istanbul, Diyarbakir oder Hakkari treffen kann, wird die Regierung den verantwortlichen und verläßlichen Verhandlungspartner haben, den sie immer fordert. Denn ohne Öcalan geht nichts.