Entnervt
In Spiegel online kann man lesen, wie schwer im Leben es Berufspolitiker haben. »Berufspolitiker stehen unter Dauerstreß – und kämpfen oft mit Depressionen, Angstzuständen und anderen psychischen Leiden. Im britischen Parlament kümmert sich schon bald ein neuer medizinischer Service um die mentalen Leiden ...« der Abgeordneten. Denn »immer mehr Mitglieder des britischen Parlaments quälen sich mit psychischen Problemen durch den Politikeralltag. Von Schlaflosigkeit über Angstattacken bis zu handfesten Depressionen reicht die Bandbreite der Erkrankungen.« Das ist sehr aufschlußreich. Wenn man weiß, daß viele Politiker behandlungsbedürftig sind, wird dem geistig Gesunden manches verständlich, wofür er sonst keine Erklärung findet.
Günter Krone
Peer verschenkt Rheumadecke
In Potsdam begann der Kanzlerkandidat der SPD mit seiner »Klartext«-Tour durch deutsche Lande, nach dem Rezept »BürgerInnen fragen, Peer antwortet«. Eingeladen werden dazu »Repräsentanten der regionalen Zivilgesellschaft«. Steinbrück trat launig auf und zeigte – wie pflichtgetreue Sozialdemokraten, voran die Parteigeneralsekretärin, zu rühmen wußten – »klare Kante«. Beispielsweise so: Was er von den Wahlergebnissen in Italien halte, wollte jemand wissen. Er sei »bis zu einem gewissen Grade entsetzt«, äußerte der Spitzenkandidat, »zwei Clowns« hätten gewonnen, »zwei Populisten«. Originell war diese Antwort nicht, denn ähnlich verstört hatten sich nahezu sämtliche deutsche Medien gezeigt. Wie kommen auch Massen von Italienern dazu, nicht so zu wählen, wie es die Finanzmarktstrategen und ebenso die deutsche Bundesregierung nebst ihrer staatstragenden Opposition ihnen ausdrücklich aufgetragen hatten? Da wird es am besten sein, noch einmal die Wahlurnen aufzustellen ... Aber zurück zu Steinbrück: Der italienische Staatspräsident wollte dann nicht mehr mit ihm plaudern. Diplomatisch also wieder einmal ein Steinbrückpatzer. Was treibt den Spitzensozialdemokraten? Leidet Steinbrück unter Coulrophobie? Offenbar ist ihm entgangen, daß Clowns ihre Rolle eben darin haben, auf skurrile Weise fragwürdige Realitäten erkennbar zu machen. Im Falle der italienischen Politik haben dies durchaus zielgerichtet der Künstler Grillo und eher nebenbei der Milliardär Berlusconi vollbracht. Dem politischen Emissär der Großbanken, dem Goldman-Sachs-Experten Monti, wollte die große Mehrheit der WählerInnen keinesfalls weiteren politischen Kredit geben. Nicht »Populismus« der Opponenten war dafür der entscheidende Grund, sondern der Blick auf die lebenspraktischen Folgen des Diktats jenes Machtkomplexes, den man verschleiernd »Finanzmarkt« nennt. Kein Wunder, daß Peer »entsetzt« ist, wenn auch nur »bis zu einem gewissen Grade«. Daß er nicht völlig in Schrecken geraten ist, wird auf seine Hoffnung zurückzuführen sein, des Volkes Unmut werde am Ende folgenlos bleiben. Steinbrück wurde auch gefragt, ob es unter seiner Kanzlerschaft beim Renteneintritt erst mit 67 bleiben werde. Ganz kantig sagte er: »Ja«. Nach Zeitungsberichten handelte es sich bei dem Fragesteller um einen der ersten drei Teilnehmer, die sich zu Wort meldeten, und denen hatte Peer ein Geschenk versprochen – eine Rheumadecke. So kann der Mann in seinen noch nicht rentenfähigen Jahren demnächst denn doch zufrieden sein, er hat es warm, dem Kanzlerkandidaten der SPD sei Dank.
Übrigens hat auch der amtierende Bundesfinanzminister das Resultat der Wahlen in Italien kommentiert. Schäuble sagte, nicht ohne Weltschmerz, aber doch besonnen: »Es hilft ja nichts, so ist die Demokratie.« Wobei hinzuzufügen wäre: Solange sie, wenn auch ziemlich angeschlagen, noch existiert.
M. W.
Peer als Inkarnation
In der jüngsten Ausgabe der
Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung macht sich, unter der Überschrift »Ansichten eines Clowns«, deren Politikredakteur Volker Zastrow über die SPD und ihr Steinbrück-Bild lustig. Anlaß bietet ihm dazu das sozialdemokratische Mitgliedermagazin
vorwärts. Das brachte als Titelbild die Abwandlung einer berühmten historischen Karikatur, 1890 in dem britischen Blatt
Punch erschienen. Darin kletterte der gerade aus dem Amt geschiedene deutsche Reichskanzler Bismarck etwas verdrossen eine Schiffsleiter hinab. Diese Szene drehte die
vorwärts-Redaktion um: Bei ihr steigt Steinbrück frohgemut nach oben, er geht sozusagen an Bord des Amtes eines Kanzlers. Die Bildunterschrift damals hieß in der deutschen Version. »Der Lotse geht von Bord«. Und nun hat es Deutschland besser, wenn wir dem vorwärts glauben können; der Lotse Steinbrück geht an Bord, ein Politiker mit Bismarck-Format. Zastrow kommentiert: »Schon mal was vom Sozialistengesetz gehört? Wie soll man begreifen, daß Sozialdemokraten ihren Verfolger von einst zum Leitbild für ihren Kandidaten heute stilisieren?«
Vielleicht so: Die gegenwärtigen SPDler haben den Unterricht in Geschichte versäumt. Das wollen wir ihnen jedoch nicht unterstellen. Dann so: Sie erinnern sich an das Bismarcksche Sozialistengesetz, denken aber: Wäre der Eiserne Kanzler noch lebendig und würde heutzutage Politik machen, käme er nicht auf die Idee, die Sozialdemokratie zu verfolgen. Der große Staatsmann wüßte ja: Die SPD hat alles mögliche im Sinn, aber gewiß nicht den Sozialismus. Steinbrück soll also Lotse werden. Das ist eine anspruchsvolle Tätigkeit, mit Demokratie allerdings hat sie funktional nichts zu tun, und Bismarck war alles andere als ein Demokrat.
P. S.
Schwejk trifft Candide
Kürzlich besuchte der brave Soldat Schwejk, der gerade die
Süddeutsche Zeitung vom 22. Februar gelesen hatte, seinen alten Freund Candide auf Wolke Sieben. »Was gibt es Neues auf der besten aller Welten?« empfing ihn der sanftmütige Sohn des westfälischen Freiherrn Thunderten-Tronckh. »No, da gibt es lustige Sachen«, erwiderte Schwejk. In Saudi-Arabien müsse König Abdullah um seinen Thron fürchten, obwohl er ein durch und durch guter Mensch sei. Zum Beispiel habe er einer verurteilten Journalistin 60 Peitschenhiebe erlassen. Was der König gegen so viel Undank mache, fragte Candide zurück. »Der König hat in Deutschland Waffen für mehr als eine Milliarde Euro bestellt, hauptsächlich das, was man Grenzsicherungssysteme nennt«, gab Schwejk zur Antwort. Candide runzelte die Stirn. Dann entsann er sich seines Hauslehrers Pangloß, der bekanntlich der größte Philosoph der Provinz und somit auch der ganzen Welt gewesen sei. Der habe ihm erzählt, daß jeder Staat, auch so einer wie der unter Hitler, das Recht auf Selbsterhaltung habe. »Das hat sich dein Meister Pangloß selbst ausgedacht«, unterbrach ihn Schwejk. Nein, nein, rechtfertigte Candide seinen alten Lehrer, in Deutschland seien ja gerade deswegen alle Nazirichter freigesprochen worden, und mit den Waffenlieferungen an Saudi-Arabien verhalte es sich genauso. »Dann sehe ich da ein Problem«, entgegnete Schwejk. »Besser gesagt ist es mehr eine Frage«, fügte er verschmitzt hinzu. »Hätte die DDR auch Waffen und Systeme zur Grenzsicherung geliefert bekommen?«
Conrad Taler
Zuverlässiger Partner
Das Emirat Katar ist ein Musterland der westlichen Wertewelt im Terrain des Nahen Ostens und Nordafrikas, stets zur Stelle, wenn es gilt, beim Regimechange im Sinne der NATO Hilfe zu leisten. Der Emir kann sich das leisten, dank der Öl- und Erdgasressourcen, über die er herrscht; Katar gehört zu den zehn reichsten Staaten der Welt. Und er verfügt über reichlich Waffen auf dem modernsten Stand, auch aus deutscher Produktion. Angesiedelt ist in Katar das militärische Hauptquartier der USA für Nahost. Politisch handelt es sich bei dem Emirat um eine Despotie, der Islam ist Staatsreligion. Auf der Internetseite des deutschen Auswärtigen Amtes ist zu lesen: »Die Beziehungen Katars zur Bundesrepublik sind traditionell gut. Sie haben sich durch eine stetige Besuchsdiplomatie noch intensiviert.« Demnächst will Katar sich aus der Bundesrepublik weitere 200 Leopardpanzer liefern lassen, es geht also voran mit der Partnerschaft. Gelegentlich gibt es lästige Meldungen, so jetzt: Das oberste Gericht in Katar hat einen seit 2011 in Haft befindlichen einheimischen Schriftsteller letztinstanzlich zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt. Der Mann hatte kritische Verse über Familienangehörige des Emirs veröffentlicht. Er vergeudet offensichtlich sein Talent, er hätte doch Lyrisches über die deutsch-katarische Freundschaft verfassen können. Auch die Firma Krauss-Maffei Wegmann hätte das sicherlich gesponsert.
P. S.
Sparfüchse und Streikende
Da ich die Angewohnheit habe, Rechnungen lange aufzuheben und in Aktenordnern abzuheften, hat sich in meiner Wohnung ein Regalmeter angesammelt, der allerlei enthält, unter anderem Stromrechnungen. Die älteste ist von 2004, und ich habe mir die Mühe gemacht, den Brutto-Preis pro Kilowattstunde von damals mit der Rechnung von 2011 zu vergleichen: Derselbe Anbieter hat in sieben Jahren den Strompreis um satte zweiunddreißig Prozent erhöht.
Anders formuliert: Hätte ich in diesen sieben Jahren meinen Stromverbrauch drastisch um ein Drittel reduziert, nur noch kalt geduscht, kalt aus der Dose gegessen statt warm aus dem Topf, Mineralwasser getrunken statt heißen Tee, einen neuen, stromsparenden Kühlschrank angeschafft, Sparglühlampen eingeschraubt – ich hätte 2011 genau so viel gezahlt wie 2004. Gesunkener Lebensstandard bei gleichen Kosten.
Selbstverständlich sind die Löhne in sieben Jahren nicht um zweiunddreißig Prozent gestiegen, sie stagnierten beziehungsweise fielen leicht. Die Wirtschaft blieb von Preissteigerungen für Strom verschont, sie profitiert von Rabatten und Sonderregelungen.
In Deutschland ist das kaum ein Thema, auch wenn der durchaus vorhandene Unmut über die steigenden Strompreise akut mit dem Thema »Energiewende« verknüpft wird. Die vorhergehende »Liberalisierung« des Markts wird bewußt ausgeblendet, sie wird im Gegenteil zum Vorteil des Verbrauchers umgedeutet: Er brauche sich doch einfach nur einen billigeren Anbieter zu suchen (und Glühbirnen zu wechseln und sich einen neuen Kühlschrank anzuschaffen).
Ein politisch-gesellschaftliches Problem – die Verteuerung lebensnotwendiger Grundversorgung – wird so zu einem privat-individuellen erklärt, und viele Deutsche folgen dem (noch) in biederem Gehorsam: Sie mutieren tatsächlich zu Sparfüchsen, während in Frankreich und südeuropäischen Ländern massiv gegen die Verschlechterung der Lebensumstände gestreikt und protestiert wird.
Stefan Hug
Der Gumbrecht-Preis
In diesem Jahr erhält der – wie er in der Pressemitteilung genannt wird – Philosoph Peter Sloterdijk den Ludwig-Börne-Preis. Es entscheidet über die Verleihung allein der jeweilige Preisrichter oder die Preisrichterin, diesmal war das der Literaturwissenschaftler Hans Ulrich Gumbrecht, US-Bürger mit Migrationshintergrund, er stammt aus der Bundesrepublik und genießt das Wohlwollen der internationalen kulturfeuilletonistischen Parallelgesellschaft. Rebellisches publizistisches und politisches Wirken kann man ihm, anders als dem Namensgeber dieses Preises, nicht vorwerfen. Dem Erfolgs-essayisten Peter Sloterdijk auch nicht. Weshalb wählte Gumbrecht nun Sloterdijk für den Börne-Preis aus? Vielleicht ist die Erklärung ganz simpel: Er ist mit ihm befreundet und wollte sich revanchieren, denn Sloterdijk hat dem jüngsten Gumbrecht-Buch hohen Respekt gezollt. Das wäre ein nicht weiter zu reflektierendes Motiv; Freundschaft will gepflegt sein. Oder hatte Gumbrecht sachliche Gründe? Die Börne-Stiftung nennt da, Sloterdijk erzeuge als Publizist »intensive Zustände intellektueller Wachheit«. Wer mag diesen Effekt festgestellt haben? Gumbrecht selbst etwa? Kaum denkbar. Denn der leidet doch, wie schon seine vielen Ehrendoktortitel belegen, durchaus nicht unter Schläfrigkeit bei seiner Profession. Also läßt sich vermuten, daß der Preisrichter den Preisträger ausgesucht hat in der Hoffnung, dessen Bücher oder Auftritte würden Menschen aufrütteln, die bei der Lektüre von Gumbrecht-Schriften sonst leicht ins Gähnen kommen könnten. Und Ludwig Börne? Der hat es gut, er muß sich weder Sloterdijk noch Gumbrecht antun. Hätte er es doch getan, wenn er Zeitgenosse wäre? Kann sein, denn er liebte es, polemisch zu werden.
M. W.
Rote Bastion
»93 Prozent Wahlbeteiligung ... im indischen Staat Tripura« lautet eine Überschrift in der renommierten
Hindustan Times, die ich am ersten Tag meines Indienbesuches am Kiosk kaufte. Es ist ein außerordentlich beachtliches Ergebnis für Indien mit seinen mehr als 1,2 Milliarden Einwohnern, das als größtes Land der Demokratie bezeichnet wird, besonders wenn es dann noch in dem Beitrag heißt, daß es während der Wahlen keinerlei Ereignisse gegeben habe, die zu beanstanden wären. Das ist leider für Indien nicht mehr das Normale, sondern das Außerordentliche, denn Wahlen werden durch Stimmenkauf, Korruption und zum Teil gewaltsame Auseinandersetzungen beeinträchtigt. Schon die letzte Wahl in Tripura – im Jahre 2008 – verzeichnete die bis dahin für Indien größte Wahlbeteiligung von 91 Prozent. Die Wahl gewann damals Manik Sarkar von der KP Indiens (marxistisch), der inzwischen seit 24 Jahren Tripuras Ministerpräsident ist. Siege der Linksfront waren jahrzehntelang in Indien nicht ungewöhnlich. Intrigen und Manipulationen gegen diese Linksregierungen, aber auch deren eigene Fehler, die das Vertrauen gegenüber den Parteien der Linksfront erschütterten, beendeten diese Ära. Erinnert sei hier nur an die Situation in Westbengalen: Die Errichtung von Sonderwirtschaftszonen hatte dort zur Folge, daß die Bauern ihr Land zu ungünstigen Bedingungen an den Staat verkaufen und schließlich ihr angestammtes Gebiet verlassen mußten. Es handelte sich zum Teil um Land, das ihnen vor vielen Jahren durch eine großzügige und der Gemeinschaft dienende Politik der Regierung der Linksfront erst zur Verfügung gestellt worden war. Das wurde von der Trinamool Congress Opposition unter Führung von Mamata Banerjee durch zusätzliche Falschmeldungen und Intrigen gegen die Linksfront ausgenutzt. Es kam damals sogar zu blutigen Auseinandersetzungen mit der Polizei, und es gab viele Tote. Inzwischen ist Mamata Banerjee seit der Wahl 2012 neue Ministerpräsidentin von Westbengalen. Auch wenn die Situation in Kerala damit nicht zu vergleichen ist, waren es nicht nur Intrigen, sondern massive Fehler, die dazu führten, daß auch hier die Linksfrontregierung weichen mußte. Ministerpräsident Sarkar hat in Tripura derartige Fehler nicht gemacht, sondern konnte durch eine kluge Politik das Vertrauen der Bevölkerung in einen erneuten überzeugenden Wahlsieg ummünzen. Selbst seine Gegner bescheinigen ihm, daß er ein unbescholtener und bescheidener Politiker ist. Das amtliche Wahlergebnis, das fast vier Wochen nach der Wahl in Tripura, am 28. Februar verkündet wurde, sieht wie folgt aus: Bei einer Wahlbeteiligung von 94 Prozent (also noch ein Prozent mehr als nach der ersten Hochrechnung) erreichte die Linksfront von den 60 Sitzen im Parlament 50 Sitze. 49 Sitze erhielt davon die KP Indiens (marxistisch) und einen Sitz errang die KPI. Nur zehn Sitze gingen an die Kongreßpartei, trotz massiven Werbens von Rahul Gandhi. Alle anderen Parteien blieben ohne Sitze. Manik Sarkar von der KPI (marxistisch) bleibt also weiterhin Ministerpräsident, und Tripura ist damit – allen Widersachern zum Trotz – rote Bastion in Indien
Manfred Uesseler
Wissenswertes über Bremen
Der Bremer Autor Johann-Günther König hat ein handliches, gut lesbares, unterhaltsames sowie informatives Bremen-Buch geschrieben; auf 126 Seiten liefert er viele wesentliche Fakten zur Geschichte, Politik, Wirtschaft und Kultur der »weltbekannt märchenhaften« als auch »älteste[n] noch bestehende[n] deutsche[n] Stadtrepublik«. Für Besucher wie Einwohner der Freien Hansestadt dürften viele Hinweise Königs von Interesse sein. Königs Darstellung weist jedoch eine Schwäche auf, die sie mit vielen Stadt- und Reiseführern sowie Studien zur Regionalgeschichte teilt: Manch kritische Aspekte bleiben auf der Strecke, obwohl sie das Schicksal der Stadt und ihrer Bewohner bestimmt haben. Einige seien hier hinzugefügt: Nach Rudolf Alexander Schröder (1878–1962), Bremer Ehrenbürger seit 1948, ist seit 1953 der Bremer Literaturpreis benannt. In seinen »Deutschen Oden« (1913) beschwor er Mannessinn, Treue und den heiligen Mut der Deutschen, und in dem 1914 erschienenen Gedicht »Heilig Vaterland« verherrlichte er den Krieg derart, daß es die »Nationalsozialisten« unter dem Titel »Deutscher Schwur« bei Feierstunden häufig vortrugen. Es wurde zum Bekenntnislied der Hitler-Jugend. Der Bremer Flugzeugkonstrukteur Henrich Focke (1890–1979), 1933 in die NSDAP eingetreten, lieferte in den folgenden Jahren vor allem Jagdflugzeuge; während des Krieges schufteten in seinem Betrieb rund 9.000 ausländische Zwangsarbeiter, vor allem die sogenannten Ostarbeiter wurden schlecht behandelt. Auch der Autofabrikant Carl Friedrich Wilhelm Borgward (1890–1963) verbesserte seit 1933 die Ertragslage seiner Firma, weil seitdem Militärlieferungen einen großen Teil der Produktion ausmachten (Lastwagen, Zugmaschinen, Torpedos und so weiter). Borgward wurde Wehrwirtschaftsführer und Obersturmführer des NS-Kraftfahrerkorps. Die Firma »Nordsee«, die heute noch einen Fischgroßhandel und Fischrestaurants betreibt, war »NS-Musterbetrieb«. Das Übersee-Museum hieß seit 1935 »Deutsches Kolonial- und Übersee-Museum«, wurde im NS-Sinne umgestaltet, es zeigte spezielle Ausstellungen zu den Kolonien sowie zur Rassenkunde. Eine weitere Bremer Institution ist der Rhododendronpark, dessen Gründung und Planung den Absichten des »Nationalsozialismus« entsprangen und entsprachen. Neuere, wissenschaftliche Arbeiten zum Haus Atlantis in der Böttcherstraße offenbaren die ursprüngliche Funktion des Himmelssaals: In der Mitte des sakralen, von Bernhard Hoetger (1874–1943) geschaffenen Raumes stand Hoetgers Skulptur »Der Tag«: ein nackter Jüngling, der auf einem Sockel, in den die Runen der SS eingraviert waren, in den erwachenden Tag hinein schreitet. In die Wände des Saales waren die Namen von 14 »großen deutschen Willens- und Tatmenschen« eingeschrieben: neben Siegfried, Hermann dem Cherusker, Luther, Friedrich »der Große«, Bismarck und Richard Wagner auch Hindenburg und Hitler.
Zurück zur Gegenwart: Die Bremer Lagerhausgesellschaft, deren größter Anteilseigner Bremen ist, bewirtschaftet zur Zeit nicht nur das größte Hochregallager in Europa, sondern exportiert auch Rüstungsgüter. Die Firma EADS stellt in Bremen zwar überwiegend zivil genutzte Güter her, europaweit aber eben auch militärische Güter wie den Eurofighter und den Kampfhubschrauber »Tiger«. So ist der Tod auch weiterhin ein Meister aus Deutschland und Bremen nicht nur »ein liebenswert-unverzichtbares Zukunftslabor«.
Ferdinand Krogmann
Johann-Günther König: »Bremen«, Hoffmann und Campe, 128 Seiten, 15 €
Felicia Langer
hat nur ein Thema: die Menschen in Palästina, ihr Schicksal, ihr Leiden, die Enteignung ihrer Geschichte, die Zerstörung ihrer Gegenwart und die Unsicherheit ihrer Zukunft. Das Thema ist so groß, daß es ihr ganzes Leben füllt. Alles steht im Dienste ihrer Mission für die Palästinenserinnen und Palästinenser.
Das ist auch so mit ihrem neuen Buch. Doch ist der schmale Band auf eine charakteristische Weise anders als die vorangegangenen, in denen es um Aufklärung und Information über die elende Lage der Palästinenser ging. Felicia Langer lebt seit Jahren in Deutschland, nicht mehr vor Ort, sie ist keine Zeitzeugin mehr. So hat sich ihre publizistische Arbeit in den letzten Jahren mehr auf ihren eigenen Kampf in der Bundesrepublik, die permanenten Auseinandersetzungen mit den unsäglich dummen Anwürfen und ihren zumeist aus dem Hinterhalt agierenden Gegnern konzentriert. Das Buch »Mit Leib und Seele« ist wie schon »Um Hoffnung kämpfen« aus dem Jahr 2008 vorwiegend autobiographisch. Es ist schon erstaunlich, mit welcher Kraft und Unerschrockenheit diese Frau den Aufgaben ihrer früheren Berufstätigkeit in Jerusalem und den besetzten Gebieten treu geblieben ist. Als Anwältin hatte sie die Verteidigung von Palästinenserinnen und Palästinensern vor den israelischen Militärgerichten übernommen, zumeist chancenlos. Lange Jahre hielt sie – nur zögernd unterstützt von wenigen Kollegen – der allgemeinen Feindseligkeit in der israelischen Gesellschaft ihr gegenüber stand. Bis sie resignierte und sich nach Tübingen zurückzog, nicht um sich zur Ruhe zu setzen, sondern um den Kampf an neuer Front wieder aufzunehmen. Ihre Gegner hier sind nicht weniger ätzend und beleidigend als in Israel, aber ihr gelang es, durch ihr überzeugendes, von unbestreitbarer Empathie für die notleidende palästinensische Bevölkerung erfülltes Auftreten, breite Sympathie, Solidarität und Unterstützung zu erreichen. Davon gibt auch das Buch wieder zahlreiche Beispiele, dessen zwölf Kapitel mit vielen Episoden, Begegnungen und Konfrontationen zugleich eine kleine Zeitgeschichte sind – ein eindringlicher Kommentar zur verklemmten deutschen Auseinandersetzung mit einem offensichtlich unangenehmen Kapitel der deutschen Gegenwartsgeschichte, welches den Namen Israel trägt. Man kann die Aktivitäten und Veröffentlichungen von Felicia Langer auch als einen unaufhörlichen Kampf um eine offene und unverstellte Auseinandersetzung der Deutschen mit einer in allen Aspekten völker- und menschenrechtswidrigen Besatzungspolitik der israelischen Regierungen seit 1967 verstehen. Ein Ziel, das wahrscheinlich erst mit der Beendigung der Besatzung selbst erreicht werden kann. Was nützt da das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse, wenn sich nicht die Politik der Bundesregierung ändert? Die Liste von Langners Auszeichnungen ist lang – bis hin zu einem Orden von Präsident Mahmoud Abbas. Sie braucht sie genauso wie ihre Feiern im Kreise der Familie und Freunde, ob zum 80. Geburtstag ihres Mannes Miecu oder zur diamantenen Hochzeit. Denn bei aller Vitalität und Unerschütterlichkeit der Autorin, der Kampf ist kräftezehrend, darüber kann auch ihr Optimismus in den Zeilen dieses lesenswerten Buches nicht hinwegtäuschen.
Norman Paech
Felicia Langer: »Mit Leib und Seele«, Zambon-Verlag, 149 Seiten, 10 €
Frust
Über die Protagonistin Mascha sind drei Themen miteinander verflochten: Trauer über den plötzlichen Tod des Geliebten Elias. Das Trauma einer Kindheit in einem Kriegsgebiet. Die heimatlose Existenz einer Immigrantin in Deutschland. Mascha ist (wie die Autorin) Aserbaidschanerin, Jüdin, Russin, Deutsche. Mit elf kam sie mit den Eltern aus Baku nach Deutschland. Sie spricht fünf Sprachen fließend, studiert Dolmetscherwissenschaft und ist eine etwas störrische und empfindliche Person. Nach jahrelangen Erfahrungen mit deutschen Ämtern und Institutionen, Gesetzen und Gepflogenheiten kann sie auf Fragen, begründet mit dem fremdländisch klingenden Familiennamen, ob sie Deutsch spreche und woher sie käme, aggressiv reagieren.
Olga Grjasnowa (geboren 1984 in Baku) zeichnet das Bild einer verletzten jungen Frau, die (zu) viel erlebt und gesehen hat, ohne soziale, nationale oder religiöse Wurzeln, mit Freunden aus verschiedenen Kulturen. Alles ist flüchtig. Genauso wie Mascha geht auch die Autorin nicht in die Tiefe, wenn es um Charaktere oder Schicksale der Eltern, Freunde und Bekannten geht. Sie ist zu sehr mit sich und ihren unverarbeiteten Problemen beschäftigt. Frust ist ein Dauerzustand. Die harten, kurzen Sätze kennen kein Erbarmen mit dieser Welt voller Gewalt und Verständnislosigkeit.
Olga Grjasnowa erhielt für diesen, ihren ersten Roman 2012 den Klaus-Michael-Kühne- und den Anna-Seghers-Preis.
Christel Berger
Olga Grjasnowa: »Der Russe ist einer, der Birken liebt«, Carl Hanser Verlag, 284 Seiten, 14,99 €
Zuschriften an die Lokalpresse
Am 28. Februar hat der Papst im Vatikan sein Licht ausgeknipst. Das ist auf dem Gelände des BER-Flughafens leider nicht möglich, da die dort installierten Anlagen eine solche technische Variante noch nicht zulassen. Dadurch wird das gesamte Gelände ununterbrochen beleuchtet und verkündet aller Welt, daß an diesem Brennpunkt noch viele Jahre lang ein Start- und Landeplatz von internationaler Dimension entstehen wird. Im Gegensatz zum verlassenen und dunklen Papstfenster, zu dem die Gläubigen mit Verzagtheit aufblicken, schöpfen die künftigen Schönefelder Jet-Passagiere durch die Erleuchtung der noch unbeflogenen brandenburgischen Flächen immer wieder neue Hoffnung! Der Umgang mit Energie darf eben nicht nur eine Angelegenheit schnöder Berechnung sein, sondern muß vor allem als soziale Komponente betrieben werden muß. – Hellmut Strahlemann (54), Schaltwart, 92705 Leuchtenberg
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Wow! Nach den ständigen Schreckensmeldungen endlich eine positive Wortmeldung zur Berliner S-Bahn! Wie verschiedene Tageszeitungen berichten, hat sich der Rockstar Iggy Pop (ich weiß nicht, wie man seinen Vornamen richtig ausspricht, deshalb schreibe ich ihn lieber) durch Fahrten mit den Hauptstadtzügen zu seinen berühmtesten Hits inspirieren lassen. Sein Song »The passenger« beispielsweise sei auf S-Bahn-Fahrten entstanden. Jetzt verstehe ich endlich, warum es in dem Hit plötzlich sehr laut wird, längere Pausen entstehen oder ab und zu von unten Rauch aufsteigt. Wegen der bisher kaum gewürdigten Bedeutung der Nahverkehrsmittel für das Musikschaffen habe ich auch Verständnis dafür, daß die Berliner Fahrpreise zweimal jährlich erhöht werden müssen. Oder hängt das damit zusammen, daß sich Iggy und andere Künstler ihre Beförderung »erschleichen«, weil ihnen wegen der Kosten ihrer Inspirationsfahrten Insolvenz droht? Ich fände es nicht gut, wenn der Steuerzahler auch dafür seinen Beutel hinhalten soll! – Filomena-Brigitte Lobgesang (42), freischaffende Outsiderin, 13059 Berlin-Wartenberg
Wolfgang Helfritsch