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Titel062013

Der Dichterfürst und die Gewerkschaftsführer  (Ralph Hartmann)

Schon immer sind die Gewerkschaftsführer für soziale Gerechtigkeit eingetreten. Angesichts der sich vertiefenden Kluft zwischen Arm und Reich, der wachsenden Zahl von befristet Beschäftigten, Niedriglöhnern, Aufstockern und anderen kraß sozial Benachteiligten verfolgen sie noch stärker, wortgewaltiger dieses hehre Ziel.

Im Frühsommer des Vorjahres schlugen die »führenden Gewerkschafter und Gewerkschafterinnen Europas, die im Europäischen Gewerkschaftsbund vereint sind«, einen »Sozialpakt für Europa« vor. In ihrem Appell stellten sie unter anderem »eine wachsende Ungleichheit, eine Zunahme der Armut und der Ausgrenzung, rasant steigende Arbeitslosenzahlen, mangelnde Arbeitsplatzsicherheit« fest. Der Forderung nach wirtschaftlicher und sozialer Gerechtigkeit widmeten sie ein ganzes Kapitel. Anläßlich des 50. Jubiläums des Elysee-Vertrages fand in Paris das 5. Deutsch-Französische Gewerkschaftsforum statt, das eine Weiterentwicklung des Sozialpaktes forderte, um soziale Gerechtigkeit zu garantieren. Kurz danach beschloß der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) seine politischen Anforderungen an die Parteien zur Bundestagswahl 2013, in denen soziale Gerechtigkeit einen zentralen Platz einnimmt. Der DGB und seine Einzelgewerkschaften erklären sich dabei zur »Stimme für Arbeit und soziale Gerechtigkeit«. Die mitgliederstärkste Einzelgewerkschaft, die Industriegewerkschaft Metall (IG Metall), wandte sich in einem Aufruf »Nein zur sozialen Spaltung in Europa« gegen soziale Ungleichheiten und soziale Ausgrenzung.

Forderungen nach Gerechtigkeit wurden schon immer erhoben, im Altertum, im Mittelalter und auch im Übergang zur Neuzeit. Der große deutsche Dichter, der Weimarer Geheime Rat Johann Wolfgang von Goethe, selbst nicht gerade in Armut lebend, hat sie wiederholt gestellt. In seinem dramatischen Meisterwerk »Faust« läßt er in der Tragödie zweiter Teil den ersten Berater des Kaisers, er nennt ihn Kanzler, im Thronsaal der Kaiserlichen Pfalz mit einer harten Kritik der gesellschaftlichen Umstände und eben der Forderung nach Gerechtigkeit zu Wort kommen:

Die höchste Tugend, wie ein Heiligenschein,
Umgibt des Kaisers Haupt; nur er allein
Vermag sie gültig auszuüben:
Gerechtigkeit! – Was alle Menschen lieben,
Was alle fordern, wünschen, schwer entbehren,
Es liegt an ihm, dem Volk es zu gewähren.
Doch ach! Was hilft dem Menschengeist Verstand,
Dem Herzen Güte, Willigkeit der Hand,
Wenn’s fieberhaft durchaus im Staate wütet
Und Übel sich in Übeln überbrütet?
Wer schaut hinab von diesem hohen Raum
Ins weite Reich, ihm scheint's ein schwerer Traum,
Wo Mißgestalt in Mißgestalten schaltet,
Das Ungesetz gesetzlich überwaltet
Und eine Welt des Irrtums sich entfaltet.

Lassen wir den Kaiser, der sowieso kein historischer, sondern lediglich ein symbolischer Herrscher ist, beiseite, so haben das Verlangen nach Gerechtigkeit, die »alle Menschen lieben ..., fordern, wünschen, schwer entbehren«, und die scharfe Kritik an den gesellschaftlichen Verhältnissen nichts an Aktualität verloren. Es wäre nur allzu schön, wenn unsere führenden Gewerkschafter die kapitalistische »Welt des Irrtums« mit der gleichen Schärfe anklagen würden. Dem allerdings ist nicht so, denn, um bei »Faust«, allerdings Teil 1, zu bleiben, bei nicht wenigen wohnen, ach, »zwei Seelen in der Brust«. Mit der einen streiten sie für soziale Gerechtigkeit, mit der anderen verteidigen sie die herrschende Ungerechtigkeit. Dabei geht es nicht nur um ihre allgemeine Treue zum herrschenden Gesellschaftssystem, sondern um recht konkrete Handlungen, die ihr Eintreten für soziale Gerechtigkeit doch ein wenig in Zweifel ziehen.

Es muß, gelinde gesagt, doch nachdenklich stimmen, daß gerade führende Gewerkschaftschefs die amoralisch hohen Gehälter der sogenannten Topmanager in den DAX-Unternehmen, in deren Aufsichtsräten sie Sitz und Stimme haben, verteidigen. So rechtfertigte zum Beispiel der nimmermüde Streiter für soziale Gerechtigkeit, Ver.di-Chef Frank Bsirske, die 6,4 Millionen Jahres-Vergütung des im Sommer des Vorjahres zurückgetretenen RWE-Vorsitzenden Jürgen Großmann, da »für gute Leistung auch gute Gehälter gezahlt werden« müßten. Und IG-Metall-Chef Berthold Huber blies in das gleiche Horn, als er gegenüber dem ARD-Politikmagazin »Report Mainz« erklärte, daß er das Jahres-Rekordgehalt des VW-Chefs Martin Winterkorn in Höhe von 17,5 Millionen Euro für in Ordnung halte. Kein Wunder, schließlich hatte auch er im Aufsichtsrat für diese Vergütung gestimmt.

Im Vergleich dazu nehmen sich die Einkommen der leitenden Gewerkschaftsfunktionäre regelrecht bescheiden aus. Bsirske verdiente 2007 – neuere Angaben sind nicht bekannt – 175.500 Euro plus 50.900 Euro einbehaltene Tantiemen für Aufsichtsrats-Mandate. Sein Kollege Huber in der IG Metall muß sich gegenwärtig mit einem Jahresverdienst von 260.000 Euro begnügen. Das ist lediglich das Neunfache des durchschnittlichen deutschen Brutto-Jahreslohnes, der laut Angaben des Bundesministeriums der Finanzen im Jahr 2011 rund 28.300 Euro betrug. Hinzu kommt, daß das spartanische Einkommen der Hubers und Bsirskes glücklicherweise nicht aus dem Staatssäckel des Herrn Schäuble, sondern von den treuen Gewerkschaftsmitgliedern bezahlt wird.

So also sind sie, zumindest nicht wenige unserer führenden gewerkschaftlichen Vorkämpfer für soziale Gerechtigkeit: Mutig verteidigen sie die Millionen-Gehälter von Winterkorn & Co., und höchst bescheiden verhalten sie sich, wenn es um das eigene Einkommen geht. Das kann nur Johann Wolfgang von Goethe gebührend würdigen: »Mut und Bescheidenheit sind die unzweideutigsten Tugenden; denn sie sind von der Art, daß Heuchelei sie nicht nachahmen kann.«

Unzweideutig hat er recht, der deutsche Dichterfürst.