In jüngster Vergangenheit immer auffälliger zu vernehmen ist der schriftliche oder mündliche Bezug auf das gute Leben. Diese hippe verbale Verheißung, diese an positivem Ausstoß und progressiver Assoziationskraft nicht zu überbietende Floskel soll in ihrer öffentlichen Verwendung jedoch vor allem den sozial Abgekoppelten eine wie auch immer zu erreichende Modellhaftigkeit gesellschaftlicher Gerechtigkeit vorspiegeln. Das gute Leben, dessen Bedeutung allenfalls semiotisch oder neurolinguistisch darstellbar wäre, hat es, ob nun als sozioökonomische Projektion oder idealgesellschaftliche Zielvorgabe, in die Seiten der Feuilletons, auf die Sofas der Talkshows, in die Vorlesungsverzeichnisse deutscher Universitäten oder gar – wie vor wenigen Wochen – in die Parlamentsansprache der Bundeskanzlerin geschafft.
Merkwürdig ist dabei allerdings die scheinbar stillschweigende Akzeptanz der Rede vom guten Leben bei denjenigen, die als institutionelle, politische oder wissenschaftliche Akteure dem geradezu unwissenschaftlichen Terminus des guten Lebens zu einer scheinbar wissenschaftlichen Begrifflichkeit verhelfen wollen. Viele Fakultäten sehen sich gegenwärtig veranlaßt, das gute Leben als transzendentes Leitbild ihrer geisteswissenschaftlichen Teildisziplinen zu bemühen. Da werden geschichtsphilosophische Herleitungen (Robert Pfaller), theologische Erwägungen (Magnus Striet), sozialkritische Untersuchungen (Hartmut Rosa) oder gar psychiatrisch-neurowissenschaftlich motivierte Symptombeschreibungen (Malek Bajboui) bemüht, um den gesellschaftlich oder sozial Ausgegrenzten und den von Degradierung bedrohten sogenannten Leistungsträgern (also noch in Lohn und Brot stehenden Menschen) die eigene Wertigkeit und Daseinsberechtigung innerhalb der sogenannten Leistungsgesellschaft angeblich meßbar zu vermitteln. Da wir Westeuropäer uns in einem postideologischen und postreligiösen Zeitalter befinden, fällt es Sozialkritikern und Gesellschaftsforschern relativ leicht, die seit über einhundertfünfzig Jahren bekannten Phänomene spätkapitalistischen Strukturwandels wie Entfremdung der Arbeit (Karl Marx), rationale Entzauberung (Max Weber), Monotonisierung des Erfahrbaren (Stefan Zweig) oder gesellschaftliche Beschleunigung (Paul Virilio) in unseren heutigen Lebens- und Konsumgewohnheiten oder in unseren politischen und kulturellen Orientierungen immer detaillierter zu beschreiben.
Sie tun dies allerdings auch, ohne auf Alternativen zu den gesellschaftlichen Konstituenten eines ungerechten Lebens zu verweisen. Dabei geht es gar nicht darum, verbeamteten Wissenschaftlern den Rollenwechsel zu fahnenschwingenden Sozialrevolutionären zu oktroyieren. Wahre sozialkritische Erneuerer gibt es im Zeitalter der machbarkeitsrelevanten, zielorientierten oder innovationsgesteuerten Wissenschaftlichkeit gegenwärtig nicht, weil die geistige Selbstzensur dafür Sorge trägt, daß kritische Theorie und sozialwissenschaftliches Studium nur in dem Maße das System hinterfragen, wie es die ökonomischen Herrschaftsstrukturen in Hinsicht auf unmittelbare Profitoptimierung gutheißen. Die im herrschaftsinternalisierten Diskurs unserer intellektuellen Eliten zur sofortigen Diskreditierung führenden Verweise auf die Wirksamkeit religiöser oder zumindest spiritueller Konzepte moralischer Verantwortung, auf weiterhin gültige Mechanismen der etwa in Marx‘ »Das Kapital« beschriebenen politisch-ökonomischen Marktmechanismen, auf die Hinterfragung des Privateigentums an Produktionsmitteln, auf welche ideengeschichtlichen Potentiale auch immer: Sie schlummern weiter in der immer beliebiger werdenden Rhetorik einer sich kritisch gebenden poststrukturalistischen Kapitalismusanalyse.
Bei aller Sympathie, die man einem Sozialkritiker wie Hartmut Rosa entgegenbringen möchte, wie einleuchtend auch die in seinem Buch »Beschleunigung und Entfremdung« aufgelisteten Distorsionen unserer gesellschaftlichen Gegenwart dargestellt werden: Auch er verbleibt im Modus des Unverbindlichen, wenn er in seinem Vorwort konstatiert, »daß unser persönliches und gesellschaftliches Leben unter den gegenwärtigen Bedingungen dringend reformbedürftig ist«. Doch konzeptionelle Unverbindlichkeit führt dann eben auch zu abenteuerlichen Schlußfolgerungen. So definiert er, viele Seiten später, den folgenden motivationalen Impuls eines sozialen Wandels hin zu einem guten Leben: »Infolgedessen können und sollten soziale Verhältnisse, welche unsere Fähigkeiten zur Selbstbestimmung untergraben und unsere Potentiale zur Ausübung individueller und kollektiver Autonomie erodieren, identifiziert und kritisiert werden, weil sie Menschen systematisch daran hindern, ihre Vorstellungen des Guten zu verwirklichen.« Hier spricht ein Sozialwissenschaftler, dem man die Hand reichen will, weil man seine Intention, für eine sozial gerechtere Welt – ein sozial gerechteres Deutschland allzumal – einzutreten, als die eigene anerkennt. Nur: Mit eben dieser Begründung ließ auch Hitler die Reichsarbeitsfront errichten, lieferte dem Arier den Spaten und vorgebliche Vollbeschäftigung an die Hand, während er das »Weltfinanz-judentum« zum zersetzend-erodierenden Element der Volksgemeinschaft erklärte. Und nur wenige Deutsche – Kommunisten, Sozialdemokraten und Christen zumeist – erkannten, daß das »gute Leben«, wie es Hitler wohl tatsächlich so verstand, im Nazideutschland dabei war, in sein glattes Gegenteil zu pervertieren. Daß diese wenigen Deutschen über eine innere Widerstandskraft, über eine Idee von sozialer Gerechtigkeit, eine humanistische Überzeugung, eine Vision jenseits des Nationalsozialismus verfügten, machte sie zu gefährlichen Instanzen, ließ sie folgerichtig zu den ersten Opfern des Regimes werden.
Was aber meint diese Provokation, die Rosasche These anhand des dunkelsten Kapitels deutscher Geschichte zu überprüfen? Nun, nachdem linke, religiöse oder ganz allgemein weiterreichende ethisch-moralische Leitideen zum guten Leben – selbstverschuldet oder nicht – im besänftigenden Dusel des technologischen Spielkonsolen- und Medieneinerleis ein eher oppositionell-reaktives Dasein fristen, darauf wartend, wieder aufgegriffen zu werden, sollten wir uns bewußt werden, daß ein gutes Leben zuallererst ein humanistisch geprägtes Lebenskonzept sein müßte. Dessen Sinn aber kann eben nicht im grenzenlosen Wachstum und Wettkampf bestehen, sondern in der solidarischen Bereitstellung oder gelenkten Umverteilung ökonomischer Mittel, um allen Menschen – weltweit – möglichst gleichen Zugang zu Brot, Bildung, Arbeit und Gemeinschaft zu ermöglichen. Dies sehr zu Lasten der globalen Wirtschafts- und Finanzeliten, zu Lasten derer, die uns eine falsche Idee vom guten Leben verkaufen, um ihr falsches Leben fortzusetzen.