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Titel614

Was Mein ist, geht dich nichts an  (Volker Bräutigam)

Es ist genau sechs Jahre her, daß Klaus Zumwinkel, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Post AG, als Steuerhinterzieher aufflog und die Strafjustiz an ihm ein Exempel statuierte. Weitere Namen nenne ich hier nicht. Wir haben uns gar sehr an Meldungen über Schwarzgeldbunker in Steuerparadiesen gewöhnt, an Berichte über den staatlichen Ankauf elektronischer Steuerbetrüger-Dateien und daran, daß ab und zu ein Prominenter am Pranger steht. Wir erleben den jeweils folgenden Schwall einer hohlen Debatte, die zwar keine neuen Einsichten fördert, dafür jedoch umso aufgeregter geführt wird. Sie hat eine politische Funktion. Für das dankbare, zugleich von weit wichtigeren Fragen abgelenkte Publikum produzieren medial wirksame Selbstgerechte heiße Entrüstungsluft über den kriminellen Umgang einiger reicher Leute mit dem Fiskus. Der penetrant moralinsaure Mief ist das Deodorant der Merkel-Republik.

Inzwischen hat das heuchelnde Geplätscher in den politischen Talkshows sogar einen Trend zu »sozialer Ausgewogenheit«. Man dürfe nicht nur die reichen Steuerbetrüger brandmarken, sondern müsse auch an den Beschiß des kleinen Mannes erinnern, an Schwarzarbeit, an Otto Normalverbrauchers faule Tricks bei der Einkommensteuererklärung. Der Staat verfolge Steuerbetrug generell nicht konsequent genug.

Zielkonflikte
»Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat«, lautet Artikel 20 Absatz 1 des Grundgesetzes. Im Demokratiegebot steckt zwar der Verzicht auf jede Heimlichkeit, weil das Volk schlechterdings seinen Willen nicht geltend machen kann, wo man vor ihm etwas verbirgt. Doch von entsprechender Konsequenz kann keine Rede sein. Unser Steuerrecht ist so komplex und hermetisch gefaßt, daß selbst Fachleute es nicht mehr in Gänze durchschauen. Wir haben begleitend dazu ein in Paragraph 30 der Abgabenordnung festgeschriebenes Steuergeheimnis. In Deutschland macht sich strafbar, wer die Steuererklärung eines Dritten veröffentlicht. In Schweden stehen die Steuerdaten eines jeden Bürgers im »Taxeringskalender«, jeder kann nachschauen, was andere verdienen und welches Einkommen sie versteuern.

Weiter im Grundgesetz, Art. 14 (2): »Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.« Es »soll« dienen. Ganz zwanglos. Weshalb ein Reicher seinen Wohnsitz ins steuerlich günstigere Ausland verlegen und dennoch, trotz dieser legalen Steuerflucht, zur staatlich ausgehaltenen Entourage der Bundeskanzlerin auf deren Auslandsreisen gehören kann. Wie viele Namen von Multimillionären fallen Ihnen auf Anhieb ein? Ich denke da spontan an einen bayerischen Repräsentanten des Massensports.

Aber ach, wenn es doch nur bei dieser kleinsten Form legaler Steuerflucht bliebe! Denn die Eigentumsgarantie macht Schlimmeres möglich, zum Beispiel daß Kapitalisten ganz legal nicht nur »Steueroptimierung« betreiben, sondern mit Produktion und Produkt die Umwelt versauen. Das Grundgesetz schützt ihren Reichtum unabhängig von den Methoden, mit denen sie ihr Geld zusammenraffen: mittels Angriff auf die physische, psychische und mentale Gesundheit ihrer Mitmenschen. Antibiotika, Hormone, Chemikalien, Keime und Dreck vergiften die Lebensmittel. Verlogene Werbung verleitet zu unsinnigem, gefährlichem Konsum. Halbwahrheiten und Falschinformationen füllen die Hirne an. Waffenbau und -handel verbreiten Tod und Elend in der Welt. Alles legal.

Gelebter Verfassungsbruch
Das Grundgesetz postuliert den Sozialstaat. Unsere Steuergesetzgeber kriegen aber nicht einmal eine halbwegs vernünftige, geschweige denn gerechte Eigentumsverteilung auf die Reihe, versuchen es nicht einmal. Das Netto-Privatvermögen in Deutschland (Stand: 15.2.2014) beträgt nach konservativster Schätzung 7,72 Billionen Euro, davon 4,95 Billionen im Besitz der reichsten zehn Prozent unserer Mitbürger. Bei den ärmsten zehn Prozent haben sich hingegen 15,5 Milliarden Euro Schulden aufgehäuft. Die Staatsverschuldung beläuft sich auf 2,09 Billionen Euro. All diese Berge wachsen, der Geldberg der Reichen rasend schnell und überproportional. Unterdessen leben in Deutschland 2,6 Millionen Kinder in Armut, mehr als eine Million Alte ebenfalls – letztere mit hoher Dunkelziffer, Zunahme und Tendenz zur Verelendung. Derart asoziale Güterverteilung dokumentiert den Kotau der Politik vor dem Geldadel. Wohin führt diese systemische Verfassungswidrigkeit? Zu noch mehr Reichtumskonzentration, zur Implosion des Ganzen?

Unser Besteuerungswesen ist hochkomplexer Volksbetrug. Sich ihm mit betrügerischen Mitteln zu entziehen ist weiterhin justiziabel. Aber nicht einzelne, besonders auffällige Steuerhinterzieher gehören an den Pranger, sondern die Gestalter des Unrechtssystems und ihre Auftraggeber. Deren Abträglichkeit fürs menschliche Zusammenleben, ihre Schädlichkeit in sozialstaatlichem, rechtlichem und in humanitärem Sinne sind jedoch kein Thema in Fernsehdebatten. Mit gleicher Sorgfalt, und das ist noch schlimmer, wird übrigens die mörderische Asozialität unseres steuerlich begünstigten Handels mit der Dritten Welt vor öffentlicher Aufmerksamkeit bewahrt.

Auch die Debatte über die strafbefreiende Selbstanzeige des Steuerhinterziehers versimpelt gefährlich. Pro: Lediglich aufgrund des totalen staatlichen Sanktionsverzichts seien Steuerhinterzieher bereit, sich zu offenbaren und mit Nachzahlungen die öffentlichen Kassen zu befüllen. Contra: Das für alle geltende (Straf-)Recht werde beliebig gebeugt und rein fiskalischem Zweckmäßigkeitsdenken unterordnet.

Steuerhinterzieher offenbaren sich jedoch aus Furcht vor Entdeckung, öffentlicher Bloßstellung und drohender Strafe, nicht aus reuiger Einsicht und erst recht nicht aus Dankbarkeit wegen der Strafverschonung. Sie stellen sich, weil sie aufgrund der Verjährungsregeln von Teilen ihrer Steuerschuld befreit sind und somit allemal ein gutes Geschäft machen.

Strafwürdig, aber nicht strafbar
Der Verzicht auf Bestrafung hat andererseits den Vorzug, daß dem Selbstanzeiger kein Recht auf Zeugnisverweigerung mehr zusteht. Er könnte folglich, wenn ihm bei garantierter Straffreiheit der Prozeß gemacht würde, zur Preisgabe seiner kriminellen Helfer sowie ihrer Mittel und Methoden gezwungen werden. Der Staat hat diese Verfahrensweise aber nicht geregelt und führt keine solchen Prozesse. Er verzichtet darauf, kriminelle Strukturen öffentlich zu machen und zu zerschlagen. Mache sich jeder selbst einen Reim darauf.

Warum bestraft man einerseits die Steuerhinterzieher, schont aber andererseits die regierenden Steuerverschwender? Obwohl die es viel schändlicher treiben? Kanzlerin, Kriegsminister, Finanzminister, Regierender Bürgermeister, Ministerpräsident: Milliarden haben sie in marode Privatbanken verschoben, Millionen in faule Rüstungs-, Flughafen-, Bahnhofs-, Rennstrecken- und Musiktempelprojekte versenkt. Mediale Eintagsfliegen, schon morgen wird die nächste Sau durchs Dorf gejagt.

Nicht mehr als lediglich vorübergehende Kurzkritik müssen die politisch Verantwortlichen hinnehmen. Obwohl ihnen unermeßliche Schädigung des Volksvermögens vorzuwerfen ist, brauchen sie keine Strafe zu fürchten! Aufgrund gewollt unpräziser Gesetze ist ihre Untreue ja nur strafwürdig, nicht zwingend strafbar. Die Herrschaften sitzen nicht im Knast, sie sitzen aus, und zwar alles. An Rücktritt, tätige Reue, Wiedergutmachung nicht zu denken. Der Geruch nach Fäulnis und Unrecht entsteigt nicht nur dem Milieu der parasitären Steuerhinterzieher. Es ist der Gestank ihres Erzeugers, unseres gnadenlos kapitalistischen und damit notwendigerweise korrupten politischen Systems.