Ohne jede Vorwarnung brach am 11. März 2011 die Dreifach-Katastrophe über Japan herein und forderte auf einen Schlag 19.000 Menschenleben: Die Hauptinsel Honshu wurde von einem Erdbeben der Stärke 9,0 erschüttert, der folgende Tsunami riß mit seiner bis zu 30 Meter hohen Flutwelle noch mehrere Kilometer landeinwärts alle Häuser, Fabriken, Fahrzeuge, Menschen und Tiere mit sich, und schließlich hielt das vor laufenden Fernsehkameras explodierende Atomkraftwerk Fukushima Daiichi die Welt tagelang in Atem. Inzwischen ist es ruhig geworden um diese Atomkatastrophe, und es scheint, als läge über Japan ein undurchdringlicher Nebel des Schweigens, der keinen Laut und keine Information mehr über die tatsächlichen und weiterhin bedrohlichen Folgen des Nukleardesasters an die Außenwelt dringen läßt.
Der Fotojournalist Alexander Neureuter besuchte im Sommer 2013 die betroffene Region zum zweiten Mal. Er begegnete 87 Menschen, deren Leben auf unterschiedliche Weise von der außer Kontrolle geratenen Kernspaltung in Fukushima gespalten worden war – in ein Leben vor und in ein Leben nach dem Atomunfall. Ich spreche darüber mit dem engagierten Journalisten, dem sich ein Vergleich aufdrängt: Ein derartiges Schweigen in der Bevölkerung, in den Medien und innerhalb der Regierung wie jetzt nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima habe es schon einmal gegeben, und zwar nach den Atombombenabwürfen im August 1945.
Ich frage Neureuter nach Parallelen zum heutigen Schweigen der Ärzte und der Medien. Er antwortet: »Als eine der ersten Amtshandlungen verhängte damals die US-amerikanische Besatzungsmacht eine strikte Zensur über Japan, so daß weder die Ärzte in Hiroshima und Nagasaki noch die Medien über das wirkliche Ausmaß der Atombombenfolgen berichten durften. Damals haben also die Menschen außerhalb von Hiroshima und Nagasaki überhaupt nicht verstehen können, welche grauenvollen Szenen sich in diesen beiden Städten abgespielt haben und wie die Atombombenopfer unter den gerne verschwiegenen Folgen der Atombombe litten und bis heute noch leiden.«
Nach der Katastrophe vom März 2011 äußerte sich einer sorglos, ja zufrieden: John Rich, der Generaldirektor des Weltverbands der Nuklearindustrie (WNA). Neureuter zitiert Äußerungen Richs vom September 2011: »Fukushima ist für uns ein Beweis der Zuverlässigkeit der Nukleartechnik. Schauen Sie: Wir hatten in Fukushima den schlimmsten anzunehmenden Unfall. Und was ist passiert? Nichts! Es gibt nicht einen einzigen Toten. Experten werden Ihnen bestätigen: Niemand wird durch freigesetzte Strahlung krank werden oder früher sterben.«
Was aber weiß man heute? Neureuter: »Laut eines Berichts des wissenschaftlichen Komitees der Vereinten Nationen zu den Folgen von Strahlung (UNSCEAR) vom Mai 2013 werden infolge der Atomkatastrophe weder Menschen sterben noch vermehrt an Krebs erkranken, und auch die Weltgesundheitsorganisation (WHO) kommt zu ähnlich optimistischen Prognosen. Andererseits beobachten die angesehenen Ärzte einer privaten, unabhängigen Strahlenklinik in Fukushima City schon jetzt in den Schilddrüsen von Schulkindern ungewöhnlich viele Fälle von Zysten und Knoten, die häufig eine typische Vorstufe von Schilddrüsenkrebs sind.«
Neureuter trägt weitere beunruhigende Tatsachen zusammen. »Da sind die 71 US-Navy-Angehörigen, die mit dem Flugzeugträger ›USS Ronald Reagan‹ nach dem Atomunfall drei Wochen lang vor der japanischen Küste lagen, dem radioaktiven Fallout und dem kontaminierten Wasser ausgesetzt waren und nun – drei Jahre nach diesem Himmelfahrtskommando – unter Leukämie, Hodenkrebs und Hirntumoren leiden. Da ist zum Beispiel auch der Professor, der gegen die landesweite Verbrennung radioaktiver Trümmer protestiert und von der Geheimpolizei inhaftiert wird. Da sind die beiden Bio-Bäuerinnen, die ungewollt zu den Galionsfiguren der neuen Anti-Atom-Bewegung werden. Ein Zahnarzt gründet ein privates Labor zur Messung der Radioaktivität in Lebensmitteln. Schließlich sind da die vielen verunsicherten Menschen, die wegen der unsichtbaren Strahlung zwar einerseits sehr besorgt um die Gesundheit ihrer Kinder sind, aber andererseits gutgläubig und unkritisch den Aussagen der Politiker, Bürokraten und Atommanager vertrauen.«
Neureuter spricht von einem »gespaltenen Japan«: In Tokio und den anderen Großstädten gehe das Leben wieder seinen gewohnten Gang: ›Business as usual‹. Hier herrsche die Meinung vor, Fukushima sei weit, weit weg und die Lage in den durchgebrannten Atomreaktoren wieder unter Kontrolle. Dieses wiedergewonnene, scheinbare Sicherheitsgefühl wurde kaum merklich erschüttert, als etwa eine Bürgerinitiative auf einem öffentlichen Baseballplatz im Tokioter Stadtteil Edogawa so hohe Strahlenwerte von Cäsium-137 maß, daß dieses Erdreich in Deutschland sofort als Atomabfall speziell entsorgt werden müßte.
Im Gespräch wie auch in einem kürzlich erschienenen Buch berichtet Neureuter viel Aufstörendes, das zu denken gibt. Nach einer Schadenersatzklage gegen den TEPCO-Konzern erließ ein Tokioter Gericht in erster Instanz das skandalöse Urteil, daß alle freigesetzten radioaktiven Partikel beim Verlassen des explodierten Atomkraftwerks auch die Eigentumsgrenzen von TEPCO verlassen hätten und zu einer herrenlosen Sache (res nullius) geworden seien, für deren Dekontamination der Betreiber der durchgeschmolzenen Atomreaktoren finanziell nicht aufkommen müsse. Inzwischen wurde dieses skandalöse Urteil aufgehoben. Die Regierung vertritt die Meinung, daß Strahlendosen von bis zu 100 Millisievert im Jahr für die Bevölkerung einschließlich aller Kinder gesundheitlich unbedenklich seien; in Deutschland hingegen liegt die jährliche Höchstdosis für Kernkraftwerksmitarbeiter bei 20 Millisievert im Jahr.
Ich frage nach den Plänen der japanischen Regierung, wieder möglichst viele Kernkraftwerke ans Netz gehen zu lassen, obwohl immer deutlicher wird, daß zahlreiche Reaktoren auf aktiven tektonischen Störungszonen gebaut wurden und das nächste große Erdbeben nur eine Frage der Zeit ist.
In repräsentativen Umfragen sprechen sich seit der Atomkatastrophe vom März 2011 regelmäßig über 70 Prozent der Japaner für einen schnellen Atomausstieg aus – und nehmen doch stillschweigend hin, daß die japanische Regierung an ihrem atomfreundlichen Kurs festhält.
Aus nächtelangen Debatten mit japanischen Journalisten, Politikern und Umweltschützern hat Neureuter mitgenommen, »daß der erst langsam erwachende Widerstand in der typisch japanischen Mentalität begründet liegt, die während der Edo-Shōgun-Zeit im 17. Jahrhundert zum eigenen Machterhalt geformt wurde. Seit damals gilt es als höchste Tugend, sich immer völlig unauffällig zu verhalten, sich so weit wie möglich anzupassen und den Mächtigen und Älteren so bedingungslos wie möglich zu folgen. Wer eine andere und vielleicht sogar unbequeme Meinung äußert, hebt sich damit von der Masse ab; er wird schnell als Sonderling gebrandmarkt und von der Gesellschaft ausgestoßen. Daher versucht jeder, sich möglichst wie sein Nebenmensch zu verhalten. Diese typisch japanische Mentalität hat sich seit Jahrhunderten nicht verändert. Ähnlich wie damals in Hiroshima und Nagasaki verwandeln die meisten Japaner auch nach Fukushima ihre Ängste nicht in lautstarke Proteste und ihr stilles Leiden nicht in Wut. Stattdessen folgen sie gehorsam und schweigend den Entscheidungen der Mächtigen. Und ebenda muß der japanische Atomwiderstand ansetzen. Die Anti-Atom-Aktivisten müssen den Menschen erklären, daß eine ausreichend große Masse von kritisch Denkenden ein politisches System sehr wohl nach dem unmittelbaren Wunsch des Volkes weiterentwickeln kann. Aber wird dieser Sinneswandel rechtzeitig vor dem ständig drohenden nächsten großen Erdbeben gelingen? Es ist ein Wettlauf gegen die Zeit.«
Auf meine Frage, wie es heute in Japan hinter dem Nebel des medialen Schweigens aussieht, hat Neureuter keine fertige Antwort: »Da stehe ich noch mitten in einem wüsten Fragenfeld: Welche historischen Wurzeln, sozialen Traditionen und politischen Konstellationen sind für den Umgang mit der Katastrophe verantwortlich? Welche wirtschaftlichen Motive stecken hinter den teilweise widersprüchlich anmutenden Handlungen der verschiedenen Akteure, die sich um Fukushimas Folgen kümmern? Und vor allem: Wie sieht der heutige Alltag der Bevölkerung in den betroffenen Gebieten aus, und welche teilweise unumkehrbaren Veränderungen hat die Atomkatastrophe für den Einzelnen gebracht? »Strahlenkranke oder Strahlentote habe ich auf meiner dreiwöchigen Reise – außer in Hiroshima – nicht gesehen«, sagt Neureuter. »Und doch habe ich nach meinen Recherchen erhebliche Zweifel, daß man in zehn oder 20 Jahren immer noch wird behaupten können, niemand sei in der Präfektur Fukushima aufgrund der allgegenwärtigen, signifikant erhöhten Strahlung erkrankt oder früher gestorben. Vor allem habe ich eine Frage mitgenommen, die wir uns auch hier in Europa und überall weltweit stellen müssen: Ab welchem Punkt werden die Risiken einer Technologie gesellschaftlich, wirtschaftlich und ethisch untragbar? Haben wir diesen Punkt mit der Atomtechnologie nicht schon längst erreicht; haben wir ihn, ohne es zu merken, vielleicht schon überschritten?«
Alexander Neureuter: »Fukushima 360º – Das atomgespaltene Leben der Opfer vom 11. März 2011«, 204 Seiten, 29,80 €, erhältlich beim Autor (www.neureuters.de), bei IPPNW (www.ippnw.de) und im Buchhandel