Vielfach wird behauptet, Deutschland sei bis 1945 in borniertem Nationalismus befangen gewesen und habe sich erst dann der Europa-Idee geöffnet. Das ist eine Unwahrheit, eigentlich eine Verleumdung. Wahr hingegen ist, daß maßgebliche Kräfte der deutschen Führungsschichten schon seit Beginn des Jahrhunderts nach Möglichkeiten gesucht haben, Europa wirtschaftlich und politisch enger zusammenzuschließen. Sie wollten Europa — freilich nicht irgend ein Europa, sondern ein ganz bestimmtes.
1904 – Deutschland war bereits die stärkste Industriemacht in Europa – wurde mit Unterstützung des Centralverbandes deutscher Industrieller und des Bundes der Industriellen der »Mitteleuropäische Wirtschaftsverein« gebildet, dessen Ziele von seinem Initiator Prof. Julius Wolf so formuliert wurden: Die »große Frage der Zukunft« werde »in dem Kampf um den Weltmarkt« Antwort finden. Dabei sei »Amerika der stärkste Konkurrent«. Das effektivste Gegenmittel wäre eine europäische Zollunion, die wegen des Mißtrauens der Nachbarstaaten gegenüber dem Deutschen Reich leider nicht möglich sei. Die Vorstufen aber seien erreichbar: »größere Rechtseinheit, größere Einigkeit der sozialpolitischen und anderen Lasten, Vereinfachung der Grenzkontrollen«, sogar »gemeinsame Organe« bei der Vertretung im »ferneren Ausland« sowie ein »ständiges Schiedsgericht«. Um die »Produktionskosten« zu senken, sei eine »Arbeitsteilung« nötig zwischen den Ländern, die Rohstoffe und Nahrungsmittel liefern, und denen, die industrielle Güter produzieren und exportieren. Allein Deutschland und das Habsburger Reich mit seinen slawischen Völkern im Osten und Südosten bilde einen Markt von 104 Millionen Menschen. Am Ende werde sich auch Frankreich zum Anschluß an dieses »Mitteleuropa« bewegen lassen.
Die Hoffnung der deutschen Industrie, auf so sanftem Wege ihren Vorstellungen von Europa näher zu kommen, wurde in der Folgezeit arg enttäuscht. Deswegen packte man mit Kriegsbeginn 1914 die Europafrage energischer an. Die Rede soll hier nicht von den gigantischen Annexionsplänen der Alldeutschen sein, sondern von den zukunftsweisenden Konzepten der eher liberal orientierten Teile der deutschen Wirtschaft, also besonders der Elektro- und Chemiekonzerne.
Am 7. September 1914, wenige Wochen nach Kriegsbeginn, reichte Walther Rathenau, führender Repräsentant der deutschen Elektroindustrie, dem Reichskanzler Bethmann Hollweg eine Denkschrift ein, in der er die wünschenswerten Kriegsziele Deutschlands darlegte. Rathenau hatte die Globalisierung bereits fest im Blick. »Die Zukunft zeigt uns den Aufstieg des angelsächsischen und den des östlichen Wirtschaftskörpers; es ist die deutsche Aufgabe, den alt-europäischen zu verwalten und zu stärken.« Am besten wäre natürlich »die politische und wirtschaftliche Deklassierung Frankreichs und Englands«› die aber außerhalb des Möglichen liege. Erreichbar sei hingegen der Zustand, »der allein ein künftiges Gleichgewicht Europas bringen kann: Mitteleuropa geeinigt unter deutscher Führung«. Diese »endgültige Führung Europas« hätte »den Völkerkreis Karls des Großen« zu vereinigen. Das wäre ein politischer Bund, in dem »Deutschland eine stärkere Stellung beanspruchen könnte, als Preußen sie im Bundesrat« des Deutschen Reiches einnahm. Der Begriff »Gleichgewicht« erhielt hier einen hintergründigen Sinn. […]
Dieser Beitrag erschien am 6.12.1997 unter dem Titel »Deutschland und Europa« in der Null-Nummer unserer Zeitschrift; er erweist sich im »Gedenkjahr 2014« als aktuell. Wir halten damit den Autor in Erinnerung; er ist am 10. Februar in Marburg nach langer Krankheit gestorben. Reinhard Kühnl gehörte zum Kreis der Ossietzky-Gründer und war einige Jahre Mitherausgeber. Er stand in der ersten Reihe derjenigen, die in der Altbundesrepublik über den Charakter und die Herkünfte des deutschen Faschismus aufgeklärt haben, mit zahlreichen wissenschaftlichen Werken und ebenso unermüdlicher Mitarbeit in der Praxis politisch-historischer Bildung. Die Auseinandersetzung mit faschistischen Ideen und den damit verbundenen Interessen verstand Reinhard Kühnl als eine Aufgabe, die nicht nur mit Geschichte zu tun hat, sondern auch mit den Konflikten in der Gegenwartsgesellschaft.
Eine Anmerkung noch zu dem oben zitierten Walther Rathenau:
Dessen Engagement für die Wünsche des deutschen großen Kapitals schützten ihn nicht vor dem Haß der Demokratiefeinde, nachdem er sich in den Dienst der Weimarer Republik gestellt hatte. Rathenau wurde 1922 ermordet. Die Täter kamen aus jenem »Paradefeld reaktionärer Kohorten«, das Carl von Ossietzky schon 1920 warnend beschrieben hatte.
»Der Feind steht rechts« – so nach dem Mord an Rathenau der Zentrumskanzler Joseph Wirth. Diese Einschätzung der Lage in der Weimarer Demokratie bestätigte sich endgültig 1933. Wer Näheres darüber lesen will – wir empfehlen, die Schriften von Reinhard Kühnl wieder hervorzuholen.
Red.