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Titel615

Berliner Theaterspaziergänge  (Jochanan Trilse-Finkelstein)

Auf zum Maxim Gorki Theater, kurz MGT: Früher bin ich gern da hingegangen: Im Gebäude der ehemaligen Singakademie wurde meist ein gutes ausgewogenes Ensembletheater gespielt. Der Gründer Maxim Vallentin sowie der spätere Fortsetzer-Intendant Albert Hetterle (ab 1955 als Schauspieler, seit 1968 kom. Direktor, 1976–94 Intendant, also 26 Jahre Theaterleiter) haben das auf die Bühne gebracht, mit einer guten Schauspielertruppe. Sicher gab es da kein Spitzentheater à la Brecht; es gab kaum Stars, dafür aber ein ausgeglichenes Ensemble, mit dem man wie auf einer kleineren Orgel gediegen musizieren konnte. Alles passé! Schon Armin Petras hatte spürbar das Niveau gesenkt, und das scheint die neue Intendanz mit dem klangvollen Namen Langhoff, Shermin fortsetzen zu wollen und zwar mit Entschiedenheit. Klingt nicht gut als Beginn!


Versuchen wir also zunächst einige positive Gesichtspunkte des inzwischen nicht mehr ganz neuen Neuanfangs zu erinnern: engagiertes Zeittheater, was nur zu begrüßen ist; Internationalität im Spielplan, vorausgesetzt, man kann sie halten; reicher Spielplan mit Genre-Vielfalt, wenn man Klarheit über Genre-Begriffe hat; weiß, was Genres sind. Was finden wir als Spielplan vor: ein schwer übersehbares Kuddelmuddel – das ist Volksmund, sagen wir genauer: Wirrwarr! Das fängt mit puren Äußerlichkeiten an: Der Name des Theaters, also Maxim Gorki Theater, erscheint in riesigen Lettern nur noch als GORKI. Das R wird aber ersetzt mit dem kyrillischen Schriftzeichen Я für den Laut [ja], den ich im Text bestenfalls handschriftlich eintragen kann, es spräche sich aus: Gojaki. Wenn ein Schelm es für ein umgedrehtes R sehen will, könnte gefragt werden: Wozu solcher Werbequatsch? Man kann alles maßlos übertreiben, eine vorgehabte Universalität auch lächerlich machen!


»Dede Korkut – Die Kunde von Tepegöz«, worin uralte Turkvölker-Geschichte wie -Mythen erzählt werden, mit Instrumenten aus Kasachstan und Turkestan, kann fast nur in Ärger und Chaos enden. Wer kann hier schon diese Geschichte nachvollziehen, die auf der Bühne konnten es sichtbar nicht, und das Publikum ist überfordert. Der Völkermord der Türken an den Armeniern bedarf bei künstlerischer Darstellung tiefster historischer Kenntnis wie allerhöchster Erkenntnis und Ästhetik. Das konnte auf europäische Weise bislang in hoher, doch allgemeinverständlicher Darstellung und Breite nur Franz Werfel in seinem Roman »Die vierzig Tage des Musa Dagh«, und selbst dagegen haben Historiker Einwände. Auf der Bühne sollte man in so simpler Weise die Finger davon lassen! Das ergibt und ergab nur politischen Ärger bis auf Botschafterebene.


Auf Werbezetteln erscheint die längst der deutschen Sprache ausgetrieben geglaubte »Rückantwort«: Als ob die Silbe »ant« (von lat. anti) nicht hinreichend genüge! Wie auch weitere Beispiele zeigen, scheint man die deutsche Sprache im Gorki nicht zu mögen! Da lauten Titel für Stücke etwa so: »Small Town Boy«, »Common Ground«, »Warm-Up«, »Europe 14/14«, »The Rise of Glory«, »After the Fire«, »The Night of Gavrilo Princip«, »Skate 14/14«, »HistoryCampus – After Work«, »Cheerleader of Europe!«, »Giving Contours to Shadows. Performing and Embodying History«; selbst ein nach der Ankündigung ganz einfaches Stücklein nennt man »Die golden Gorkis«!? Bin ich in Los Angeles? Sicher ist Englisch heute die führende Welt- und Kommunikationssprache, aber ist es in jedem Falle, so hier in einem deutschen Theater, wirklich nötig? Internationalität und Vielfalt in allen Ehren, doch nicht so – man landet schnell in Provinzialität, wenn man aus purem Ehrgeiz alles machen will, allen etwas bieten will. Man landet schnell im Gegenteil. Und wo bleibt das Theater selbst? (Dieser Einwand trifft übrigens andere Häuser auch, etwa in der Volksbühne Polleschs »House of Sale«.)


Wir können wenigstens von drei Fällen ernsten Bemühens berichten: Man hatte Tschechows »Kirschgarten« angekündigt. Gut, daß dieser – übrigens fast zeitgleich an anderen Bühnen Berlins gespielte – unter dem Genre Komödie lief, es ist eine, wenn auch ernste. Was in der Regie von Nurkan Erpulat herauskam, war eine absurde Mischung von Blödsinn, Provokation und Miß-, gar Unverstand. Was hieß hier denn Tschechow? Man konnte allenfalls 25 Prozent des Textes merken, alles übrige war zusammengesudeltes sinnloses Zeug für Billiglacher. Da kann man, wenn man so etwas will, doch gleich Klamotte spielen und der Brüder Schönthans Schmierentheaterdirektor Striese aus dem Schwank »Der Raub der Sabinerinnen« zum Theaterdirektor machen: Die hatten mit dem »Römertragödien-Jux« wirklich Jux gemeint und eine Bombenrolle für große Komödianten angeboten. Hier gab es nicht mal die; was der Spieler, der an seiner Hose herumgriffelte, von sich gab, reichte nicht mal für Biertischwitze. Warum traut man nicht dem Autor, einem der weltweit größten Dramatiker der Welt? Er wußte bereits fast alles über die Krise von moderner Gesellschaft und modernem Menschen, weit über das hinaus, was er in Rußland und am russischen Menschen vorgefunden hat, er hatte hinreichende Kenntnis vom Westen. Er gab atemberaubende Analysen, verbunden mit etwas Prinzip Hoffnung, war überzeugt von der Notwendigkeit des Veränderns, ohne Zerstörnis, die er vorgefunden hatte – alles das, was heute so nötig gebraucht wird. Der Kirschgarten ist eine Metapher für eine Welt, die abzugehen hat – für eine neue. Tschechow bewahrte das Humanum, das ist seine Botschaft. Nichts davon in der Produktion von Herrn Erpulat, die Zerstörnis galt dem Stück. Dabei gibt es im deutschen Theater eine gute Tschechow-Tradition. Von den Schauspielern sei hier nur Ruth Reinecke aus der alten Gorki-Linie als Ranjewska löblich genannt: Bei ihr spürte man in der trostlosen Inszenierung noch einiges an Kunst und Menschlichkeit. Alle andern waren den Rollen nicht gewachsen.


Eine nicht ganz so schlimme, doch nicht beglückende Begegnung gab es mit Volker Brauns »Die Übergangsgesellschaft«, die ich vor etwa 30 Jahren am gleichen Ort in einer Inszenierung von Thomas Langhoff gesehen hatte, brandheißes Zeittheater, besonders durch einem Satz über »Revolution und Diktatur« als sich ausschließende Kategorien, also Demokratie wie auch Tragik implizierend. Das war uns angegangen; die heutige Inszenierung vom Sohn Lukas geht uns nichts an. Sie geht am Stück vorbei, ist wenig intelligent und neigt zum Zynismus. Sicher, im herrschenden System gibt es fast nur Hoffnungslosigkeit, aber bei Braun gibt es doch feine Sinnhaftigkeit darüber hinaus, er ist Dichter – als solcher mehrdeutig. Eigentlich habe ich mich gelangweilt – über die Bühnenvorführung – und liebe dabei das Stück immer noch.


Abschließend fand ich im Theater am Kupfergraben doch noch etwas Feines, nicht dort Produziertes, sondern Importiertes aus dem alten Österreich: Die Israelin Yael hat mit ihrer Company »Hakoah Wien« ein Stück gemacht über die Auswanderung eines jungen Juden 1930 nach Palästina und Rückkehr eines jungen Juden 2013 nach Wien – zweimal der gleiche Vorgang und doch völlig andere Umstände. Dabei spielt Hakoah (hebr. Kraft), der 1909 gegründete jüdische Sportklub, der zugleich Sammelpunkt für beginnendes, inzwischen zionistisch beeinflußtes Bewußtsein und Aktionsfeld für die zunehmenden Alijot (hebr. Alija – wörtlich Aufstieg, hier Plural »Alijot«, allgemein für Einwanderung) geworden war. Fabelbestimmend treten beide Ausreiser auf. Bereits in Wien war diese Produktion des Schauspielhauses in der szenischen Ausstattung von Fatima Sonntag, der Choreographie von Moria Zrachia und fünf überaus spielfreudigen, aktiven Spielern durchaus erfolgreich. Hier auch, leider nur als einmaliges Gastspiel.