Für die Kaffeesatzleser beginnt jetzt eine schöne Zeit. Über einige Monate hinweg können sie spekulieren, ob das Bundesverfassungsgericht die NPD verbieten wird oder nicht. Als das Thema vor etwa 40 Jahren diskutiert wurde, habe ich in der Halbmonatsschrift der bekennenden Kirche Stimme bezweifelt, dass es jemals zu einem Verbot der Nationaldemokratischen Partei Deutschlands kommen wird. »Warum die NPD nicht verboten wird« lautete die Überschrift des Artikels. Zum Beweis meiner These führte ich damals an, dass von den rechten Rändern der CDU/CSU her oftmals dieselben Töne zu vernehmen seien, wie von der NPD. Inzwischen haben sich die Zeiten geändert, aber die Grenzen zwischen Rechtsaußen und der Mitte der Gesellschaft sind fließend geblieben, wie gewisse Reaktionen auf den Zustrom von Flüchtlingen zeigen.
Die Frage, ob ein Verbot der NPD sinnvoll ist, wird seit jeher kontrovers diskutiert. Auch bei der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht Anfang März nahmen die gegensätzlichen Positionen breiten Raum ein. Gemessen an der Mitgliederzahl und am Abschneiden der NPD bei Wahlen stellt die Partei keine Gefahr für die freiheitlich demokratische Grundordnung dar. Gefährlich ist das rassistische fremdenfeindliche Gift, das sie absondert, ohne dass es immer und in jedem Fall von denen als solches erkannt wird, die sich in einer bedrängten Situation fühlen.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich gegenüber rechtsextremistischen Hetzern bisher großzügig verhalten. Als die Bundesregierung zu Beginn der 1970er Jahre verlangte, dem Herausgeber der Nationalzeitung, Gerhard Frey, das Grundrecht der Meinungs- und Pressefreiheit zu entziehen, weil seine Publikationen einen »aggressiven Antisemitismus« offenbarten, scheiterte sie an Karlsruhe. 2004 machte das Bundesverfassungsgericht der NPD den Weg frei für eine gegen den Bau einer Synagoge in Bochum gerichtete Kundgebung, die von der örtlichen Polizei und dem zuständigen Oberverwaltungsgericht verboten worden war. Begründung: Die Ausübung der Meinungsfreiheit dürfe nicht unter den Vorbehalt gestellt werden, »dass die geäußerten Meinungsinhalte herrschenden sozialen oder ethischen Auffassungen nicht widersprechen«. (1 BvQ19/04)
Drei Neonazis, die »Ausländer raus« gefordert hatten und von zwei Gerichten wegen Volksverhetzung verurteilt worden waren, blieben am Ende ungeschoren, weil das Bundesverfassungsgericht entschied, ein Angriff auf die Menschenwürde sei nur dann gegeben, wenn der angegriffenen Person ihr Lebensrecht als gleichwertige Persönlichkeit in der staatlichen Gemeinschaft abgesprochen und sie als unterwertiges Wesen behandelt werde. Zwar mache ein Plakat mit der Aufschrift »Ausländer raus« unmissverständlich deutlich, dass die dafür verantwortliche »Aktion Ausländerrückführung« Ausländer »rückführen« wolle, der Umfang und die Mittel würden jedoch nicht benannt. »Dem Plakat ist daher nicht ohne weiteres zu entnehmen, dass Ausländer entrechtet oder zum Objekt gemacht werden sollen beziehungsweise als rechtlos oder Objekt angesehen werden.« (Beschluss vom 5.3.2010)
Wenn es stimmt, dass das Bundesverfassungsgericht das Menschenwürdeprinzip aller Voraussicht nach zum Fundament des Verfahrens gegen die NPD machen wird, wie die Süddeutsche Zeitung nach Abschluss der ersten Karlsruher Verhandlungsrunde mutmaßt, dann müsste sich das Gericht mit seiner eigenen Rechtsprechung auseinandersetzen und für den Fall eines Verbots über seinen eigenen Schatten springen. Einer der es wissen muss, der ehemalige Richter am Bundesverfassungsgericht Martin Hirsch, urteilte einmal über seine Berufskollegen: »Juristen sind zu allem fähig.« Warten wir’s ab.