Am 23. Juni 2016 – an einem spielfreien Tag kurz nach der Gruppenphase der Fußball-EM 2016 der Männer, bei der auch England, Wales und Nordirland auf ein Weiterkommen hoffen – werden die Briten die Frage beantworten: »Shall the United Kingdom remain a member of the European Union?« (Soll das Vereinigte Königreich Mitglied der Europäischen Union bleiben?) Sie tun das an einem Tag, an dem zugleich 135.000 Fans von Pop und Rock ihr alljährliches Openair-Vergnügen beim seit 1970 etablierten Glastonbury Festival in Somerset genießen. Eine Wahlkabine gibt es am Veranstaltungsort übrigens nicht. Die Fans werden deshalb von den Organisatoren gebeten, doch vorher per Brief oder proxy vote ihre Stimme abzugeben. (Beim proxy-voting nimmt ein anderer registrierter Wähler für eine ihn beauftragende Person das Ausfüllen des Wahlzettels vor.) Ach ja, eine zusätzliche und womöglich pekuniär lohnende Teilnahme am Referendum gewähren die Buchmacher Großbritanniens. Fragt sich nur, was wird mehr Geld ins Portemonnaie spülen – das Votum NO oder YES?
Angenommen, die Briten sagen mehrheitlich NO. Dann bliebe Premier Cameron nichts anderes übrig, als ein Procedere in Gang zu setzen, zu dem es im gültigen Lissaboner Unionsvertrag (EUV) in Artikel 50 heißt: »(1) Jeder Mitgliedstaat kann im Einklang mit seinen verfassungsrechtlichen Vorschriften beschließen, aus der Union auszutreten. (2) Ein Mitgliedstaat, der auszutreten beschließt, teilt dem Europäischen Rat seine Absicht mit. Auf der Grundlage der Leitlinien des Europäischen Rates handelt die Union mit diesem Staat ein Abkommen über die Einzelheiten des Austritts aus und schließt das Abkommen, wobei der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt werden. Das Abkommen … wird vom Rat im Namen der Union geschlossen; der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit nach Zustimmung des Europäischen Parlaments. (3) Die Verträge finden auf den betroffenen Staat ab dem Tag des Inkrafttretens des Austrittsabkommens oder andernfalls zwei Jahre nach der in Absatz 2 genannten Mitteilung keine Anwendung mehr, es sei denn, der Europäische Rat beschließt im Einvernehmen mit dem betroffenen Mitgliedstaat einstimmig, diese Frist zu verlängern.«
Kurz, es könnte durchaus noch bis zum Ende dieses Jahrzehnts dauern, bis sich das Vereinigte Königreich aus den völkerrechtlich bindenden EU-Verträgen gewunden hätte, wenn sich die Briten am 23. Juni mehrheitlich für den Brexit entscheiden. Das Referendum über die britische EU-Mitgliedschaft selbst geht auf eine im Oktober 2011 erfolgte Abstimmung im Unterhaus zurück, bei der mehr als hundert konservative Abgeordnete es dem Premier Cameron abtrotzten. Spätestens seit der sogenannten Europawahl im Mai 2014, aus der die rechtspopulistische UK Independence Party (UKIP) als stärkste britische Partei hervorging, steht allerdings nicht die zunächst von der Regierung geforderte institutionelle EU-Reform im Vordergrund der Debatte, sondern die Einwanderung. UKIP-Chef Nigel Farage behauptet, Großbritannien werde seine eigenen Grenzen und Sozialsysteme nur dann wieder in den Griff bekommen, wenn es aus der EU austritt. Besonders die Arbeitnehmerfreizügigkeit, die vor allem viele eine auskömmliche Beschäftigung suchende Unionsbürgerinnen und -bürger der Mitgliedstaaten Polen, Bulgarien und Rumänien nach England lockte, ist Brexit-Befürwortern ein Dorn im Auge. Zwar fände in vielen Städten und Gemeinden – nicht zuletzt in London – so gut wie kaum ein handwerklicher Auftrag ein zufriedenstellendes Ende, wenn etwa die polnischen Spezialisten nicht dafür sorgen würden. Nicht zuletzt immer mehr Romane hervorragender britischer Literaten lassen daran keinen Zweifel. In der populistischen Realität und der dominanten Boulevardpresse aber wird die Begrenzung von Sozialleistungen für die arbeitenden Unionsbürgerinnen und -bürger vom Kontinent so vehement gefordert, als gäbe es schon heute keine Verpflichtung der Briten, sich an die vertraglich fixierten Freizügigkeitsmaximen der EU zu halten.
Nicht wenige Insulaner – vor allem in England – stehen der EU aus diversen Gründen misstrauisch gegenüber. Die reichweitenstarken Boulevard- und teils auch die seriös genannten Medien speisen den Unmut gegenüber »Brüssel« und den immer neue Direktiven und »Diktate« ausheckenden Bürokraten im »Lügenschloss« zudem seit Jahrzehnten mit häufig völlig abstrusen Geschichten. Unvergessen etwa die haltlosen Behauptungen, Brüssel wolle die Uniformität von Weihnachtsbäumen erzwingen, die quadratische Gin-Flasche verbieten und Bierdeckel aus den Pubs verbannen. Als 1996 die Einführung des Euro auf die Tagesordnung kam, sorgte das vor allem im konservativen politischen Lager für heftigen Unmut und Widerstand. Der Verzicht auf Souveränität ging vielen Tories entschieden zu weit. Sie wollten Mutter Britannien nicht in Euro-Ketten sehen und setzten sich durch. Zudem bildete sich bereits in jenen Tagen eine Gruppe aus politischen Funktionsträgern und Journalisten heraus, die seitdem immer lauter die Trommel für den Austritt aus der EU schlagen. Einer von ihnen heißt Boris Johnson, kurz »Bo Jo«. Der einflussreiche und beliebte Tory wirkt gegenwärtig als Bürgermeister der Megametropole London und wirkte in den 1990er Jahren unter anderem als Brüsseler Korrespondent und Top-Kolumnist des Leib- und Magenblatts der Konservativen, des Daily Telegraph. Er zeigte der Öffentlichkeit bereits damals, was eine europhobische Harke ist. Sein viel Staub aufwirbelnder journalistischer Ein-Mann-Feldzug zur Rettung des typisch britischen rosa Würstchens vor den »Fleischwölfen der EU-Bürokratie« war so etwas wie der massenmediale Startschuss zur jetzt heftig Fahrt aufnehmenden Brexit-Kampagne.
Die von Premier David Cameron geführte Tory-Regierung hat nach dem EU-Gipfel vom 18./19. Februar beschlossen, sich für ein Verbleiben Großbritanniens in der Union einzusetzen. Cameron hatte bei den zähen Verhandlungen etwas mehr erreicht, als manche ihm zugetraut hatten. Im Wesentlichen die Aussetzung von Sozialleistungen, wenn durch einen »außergewöhnlich großen Zustrom« in einem EU-Mitgliedstaat dem Gesundheitssystem, sozialen Sicherheitsnetz und Arbeitsmarkt »Überlastung« drohen. Sie kann nun nicht nur von Britannien, sondern von allen 28 Mitgliedstaaten beantragt werden – allerdings müssen die übrigen 27 dafür ihr Plazet geben. Diese »Notbremse« soll nur für zukünftig neu hinzuziehende EU-Bürgerinnen und Bürger gelten. Und zwar für maximal vier Jahre, nachdem diese eine Arbeit aufgenommen haben (insgesamt bis zu sieben Jahre). Die größte Veränderung gibt es im Bereich der Leistungen für Kinder. Für den Nachwuchs von neu hinzuziehenden Migranten, der in einem anderen EU-Land zurückgeblieben ist, werden künftig die Leistungen an den dort üblichen Beträgen ausgerichtet, sprich im Regelfall verringert. Ab 2020 soll diese Maßnahme auf alle Migranten angewendet werden dürfen.
Nun dürften die vereinbarten Einschränkungen der Sozialleistungen für die EU-Migranten an dem Einwanderungswunsch nach Großbritannien und in andere wirtschaftlich starke EU-Mitgliedstaaten wenig ändern. Auch ist ihr finanzieller Entlastungseffekt für die Sozialkassen gering. Symbolkräftig sind die Entscheidungen des EU-Rates vom Februar dennoch. Zum einen legen sie die Axt ausgerechnet an die ohnehin sträflich vernachlässigte und wohlfahrtsblinde EU-Sozialpolitik. Für die Nöte von immer mehr Unionsbürgerinnen und -bürgern fühlt sich der überwiegend aus neoliberalen und auf gnadenlosen ökonomischen Wettbewerb setzende Rat der Staats- und Regierungschefs offensichtlich nicht zuständig, und davon kann beileibe nicht nur die griechische Bevölkerung ein garstig Lied singen. Zum anderen ist die ausschließlich für Großbritannien getroffene, rechtlich verbindliche Entscheidung, der Mitgliedstaat sei nicht länger an den in der Präambel der EU-Verträge stipulierten »Prozess der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas« gebunden, alles andere als der vielbeschworene akzeptable Kompromiss.
Ganz im Gegenteil. Dieses Zugeständnis stellt genau den historisch mühsam erreichten politischen Prozess in Frage, der 1993 mit der Gründung der EU die nationalen Egoismen zum Wohle der Menschen im »europäischen Haus« ein für alle Mal aushebeln sollte. Es liegt zudem auf einer Linie mit den politischen Entscheidungen, die seit dem Aufkommen der Finanzkrise im Jahre 2008 besonders die von 19 Mitgliedstaaten gebildete Eurozone in die Dauerkrise getrieben haben und die seit dem Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise die Union in einen zerstrittenen Haufen ahistorisch nationalistisch agierender Einzelstaaten zersplittern. Die eigentlich verbindliche Charta der Grundrechte der Europäischen Union (mit der für Polen und Großbritannien bezeichnenderweise keine »einklagbaren Rechte« geschaffen wurden …) steht angesichts der inhumanen Praxis gegenüber hilflosen Menschen auf der Flucht offenbar nur auf sich rasant schwarz einfärbendem Papier.
Die »Schaffung einer immer engeren Union« ist besonders für 19 Mitgliedstaaten der Eurozone ohne Alternative. Wenn nicht alles täuscht, wird sich die Einheitswährung als extrem bedrohlicher wirtschafts- und sozialpolitischer Sprengsatz erweisen – es sei denn, die Politik rafft sich noch gerade rechtzeitig zur Etablierung einer tatsächlichen Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialunion auf. Mit 19 unterschiedlichen Staatshaushalten, Verschuldungsgraden und Zinssätzen für Staatsanleihen sowie 19 sich heftig unterbietenden Unternehmenssteuersätzen kann es keine vielversprechende Zukunft geben.
Eine Union der Völker wird nur gelingen, wenn Bauernopfer unterbleiben und es ein gemeinsames Wohlfahrtsziel und dafür zweckdienliche gemeinschaftliche Institutionen und eine gewählte Regierung dieses föderalistischen Gebildes gibt. Ein demokratisch fundiertes europäisches Haus ohne Schlagbäume vor den Zimmertüren, mit einem Binnenmarkt und einer Gemeinschaftswährung wird schließlich erst dann zu einem schützenden Dach über dem Kopf, wenn neben dem Wirtschafts- und Finanzsystem auch das Bildungs-, Beschäftigungs- und Vorsorgesystem für die gegenwärtig mehr als 500 Millionen Bürgerinnen und Bürger mit EU-Pass wasserdicht und sturmfest ist. Nun ist mit der Etablierung der sogenannten Währungsunion bereits eine Zweiteilung der EU erfolgt – müssen die Interessen der 19 Euroländer zwangsläufig andere sein, als die der Nicht-Euroländer wie Großbritannien und Dänemark. Seitdem nun Großbritannien nicht einmal mehr dem vagen Ziel einer »immer engeren Union« verpflichtet sein muss, haben wir eine Dreiteilung: 19 EU-Mitgliedstaaten in der Eurozone, acht im eurolosen Raum, und ein weiteres euroloses Land mit dem »pfundigen« Sonderrecht zum ausschließlichen Rosinenpicken im »gemeinsamen« Markt. David Cameron brachte sein Anliegen jüngst treffend wie folgt auf den Punkt: »I’m interested in Britain’s ability to bend the world to our way of thinking.« (Klartext: Mir geht es darum, dass Britannien die Welt nach eigenem Bilde formen kann.)
Ob sich die britischen Bürgerinnen und Bürger am 23. Juni für oder gegen den Verbleib in der EU entscheiden, ist historisch gesehen gewiss von Bedeutung. Wenn sie YES sagen, heißt das aber nicht, dass die EU damit gestärkt wäre. Schließlich stünde damit fest, dass der ambitionierte Lissabonner EU-Vertrag ein historisches Auslaufmodell ist. Die europäische Idee verdampft zusehends im Kessel nationaler Süppchen, die Hoffnung auf eine gelingende Union stößt an stacheldrahtbewehrte Grenzen, und die Spekulanten und Buchmacher wittern reiche Beute. Gute Nacht EU?