Anders als die andern: wäre eine treffende Charakterisierung der Berlinale im Vergleich zu ihren weltweit kaum noch überschaubaren Konkurrenten an Filmfestivals. Wobei als Konkurrenz allenfalls die Namen von Cannes, Karlovy Vary, Locarno und Venedig stehen könnten, die es auch bei einem Wettbewerb, was die Dauer ihrer Existenz betrifft, mit Berlin aufnehmen könnten. In den vergangenen Februartagen präsentierte die Berlinale ihren 66. Jahrgang. Nebenbei bemerkt: Rückblickend auf ihre wechselhafte Geschichte sei daran erinnert, dass sie ein Kind des Kalten Krieges war, der Westberlin als Schaufenster des »freien Westens« funktionalisierte. Was eine Festivalteilnahme des »Ostblocks« lange ausschloss. Erst viel später mauserte sich die Berlinale zum größten Publikumsfestival und im positiven Sinne politischsten Festival, womit sie nun »anders als die andern« dasteht.
Wer bei dieser Charakterisierung an den Titel des ersten filmischen Homosexuellen-Dramas denkt, das Richard Oswald 1918/19 drehte, hat damit gleich eine der Berlinale-Besonderheiten getroffen, die in diesem Jahr schon 30. Geburtstag feiern konnte: den »Teddy-Award« für den besten schwul-lesbischen Film. Eine neunköpfige Jury hatte dazu 30 Berlinale-Filme gesichtet und mit dem Hauptpreis den österreichischen Beitrag »Kater« von Händl Klaus gekürt. Der Titel hatte mich Katzennarr ins Kino gelockt, wo mich der vierbeinige »Held«, auch in der Realität Haustier des Regisseurs, nicht enttäuschte, es aber natürlich um eine Krise in der Beziehung zweier schwuler Freunde ging, die vom Tod des Katers ausgelöst wurde.
Apropos: In einem dänischen Wettbewerbsbeitrag mit dem an die siebziger Jahre erinnernden Titel »Kollektivet« ging es um eine Ehekrise in einer ansonsten harmonischen gutbürgerlichen WG, die Trine Dyrholm unter der Regie von Thomas Vinterberg den Preis als beste Darstellerin brachte (Kinostart als »Die Kommune« am 21. April). Aber zurück zu den Berlinale-Besonderheiten: Da gab es noch ein Jubiläum. Seit zehn Jahren existiert die Reihe »Kulinarisches Kino«, wobei Filme über Essen mit Gourmet-Angeboten von Spitzenköchen kombiniert werden.
Über 400 Filme in elf Tagen beim Wettbewerb, in den Sektionen Panorama, Forum und, und, und – das überfordert immer wieder das Aufnahmevermögen und stellt vor die Qual der Wahl. Doch jedes Mal beweist der Publikumszuspruch, dass es offenbar ein Bedürfnis nach Flimmerkost jenseits des alltäglichen Zelluloid-Fastfoods gibt – 2015 wurden 335.979 Tickets verkauft –, denn wer würde sich sonst vor der Eröffnung des Ticket-Offices in einer Shopping Mall auf unbequemer Unterlage die Nacht um die Ohren schlagen, um sich nur ja die Eintrittskarten für seine Wunschfilme zu sichern.
Natürlich spielt bei dem Publikumsandrang auch der Eventcharakter eines Ereignisses wie des Filmfestivals eine Rolle. Weshalb dessen Leitung auch immer wieder um die Präsenz möglichst vieler Stars bemüht ist. Auch diesmal war wieder gleich bei der Eröffnung nicht die Qualität des Films, sondern die Quantität der Prominenz auf dem Roten Teppich wichtiger. Dabei passte die Persiflage der Brüder Joel und Ethan Coen auf das Hollywood der frühen fünfziger Jahre gar nicht so schlecht für einen Festivalauftakt, wenn auch der Titel »Hail, Caesar!« erst einmal an einen Sandalenfilm denken ließ. Die Dreharbeiten zu einem solchen liefern dann auch so etwas wie eine Rahmenhandlung mit bösen kommunistischen Autoren, die sich von den Studiobossen ausgebeutet fühlen und zur Lösegelderpressung den Star des Films (George Clooney) entführt haben. Doch der Genre-Mix aus Western, Film noir und Musical plus Klatschpressetanten ermüdet auf die Dauer, so dass ich nach der Schlussapotheose mit dem in römischer Legionärskluft vor einem riesigen Kruzifix knienden George Clooney (Generalprobe für seine Kanzlerinnen-Audienz?) erleichtert das Kino verließ und auf bessere Berlinale-Filme hoffte. Wovon hier nur Belege für Berlinale-Typisches erwähnt seien.
Wo könnte man beispielsweise sonst einen philippinischen Film sehen? »Hele Sa Hiwagang Hapis« (A Lullaby to the Sorrowful Mystery): Wer 482 Minuten ausharrte, erfuhr von Regisseur Lav Diaz etwas von der Geschichte seines Insellandes, reflektiert in kontrastreichen Schwarz-Weiß-Bildern von einem langen Marsch zweier Gruppen durch den Dschungel auf der Suche nach einem verschwundenen Revolutionsführer, den die spanischen Unterdrücker am 30. Dezember 1896 zuletzt hinrichteten. Heute ein Mythos. Die Berlinale-Jury verlieh dem exotischen Mammut-Epos den »Alfred-Bauer-Preis für einen Film, der neue Perspektiven eröffnet«.
Längster Film dieses Festivals blieb er trotzdem nicht. Mit ihrer 12-Stunden-Doku »Chamissos Schatten« im Forum stellte Ulrike Ottinger den Philippino in den Schatten. Wobei der titelgebende Forscher neben anderen wie Alexander von Humboldt, Reinhold und Georg Forster mit ihren historischen Berichten der Regisseurin die Anregung lieferte für ihre Reise zum Beringmeer. Zurück brachte sie nicht nur ethnographisches Material über nahezu unbekannte Landschaften und deren Bewohner, sondern auch faszinierende Bilder, wie sie auf dem Festival sonst leider zu selten waren.
Ähnlichen optischen Qualitäten begegnete ich in dem chinesischen Wettbewerbsbeitrag »Chang Jiang Tu« (Crosscurrent) von Yang Chao. Ein junger Kapitän fährt mit seinem Frachtschiff auf dem Jangtse flussaufwärts. Für mich auch eine persönliche Reminiszenz: Vor Jahren fuhr ich die gleiche Strecke in umgekehrter Richtung. Eine Stadt musste inzwischen dem Drei-Schluchten-Staudamm weichen und ist an anderer Stelle wiederauferstanden. Treffender Katalogtext: »In Yang Chaos Odyssee verschmelzen chinesischer Alltag, Politik und Poesie, Außen- und Innenwelt zu einem magischen Universum.«
Dass die Berlinale ihrem Ruf als politischstes Festival gerecht werden würde, verstand sich in der Zeit nahöstlicher Kriege und Fluchtbewegungen von selbst: Themen, denen ein großer Teil der Berlinale-Beiträge gewidmet war, allein sieben von 44 Forum-Filmen. Einer, »Ta'ang« von dem chinesischen Dokumentaristen Wang Bing, machte in 148 Minuten auf bei uns noch ganz unbekannte Flüchtlingsschicksale aufmerksam: die Flucht von vor allem Frauen und Kindern vor einem Bürgerkrieg in Myanmar über die Grenze nach China.
Den Goldenen Bären verdiente sich fast erwartbar der Italiener Gianfranco Rosi mit seinem Dokumentarfilm »Fuocoammare« (Feuer im Meer), der auch den Amnesty-International-Filmpreis und den Preis der Ökumenischen Jury erhielt. Ein Jahr hatte Rosi auf der Insel Lampedusa verbracht, wo tausende Flüchtlinge aus Afrika gestrandet sind, viele aber nicht gerettet werden konnten. Der Inselarzt untersucht auch die Toten. Die meisten Inselbewohner kommen mit den nach kurzem Aufenthalt in einem Aufnahmelager aufs Festland gebrachten Ankömmlingen gar nicht in Berührung, ihr Alltag geht weiter und wird von Rosi unkommentiert dem Ausnahmezustand gegenübergestellt mit einem zwölfjährigen Fischerjungen als Hauptperson. Sein Preisgeld stellte der Regisseur den Inselbewohnern als Dank für ihre Unterstützung seiner Dreharbeiten zur Verfügung.
Ihrem Ruf als politischstes Festival wurde die Berlinale aber diesmal nicht nur mit Filmen gerecht. Asylanten profitierten von einem Projekt »Patenschaften für Kinobesuche«, »Willkommensklassen« wurden zu Veranstaltungen eingeladen und mit Spendenboxen für die Unterstützung des Behandlungszentrums für Folteropfer geworben. So war die Berlinale nicht nur ein Forum für Filmkultur, Starrummel und Partytreffpunkt. Gerade notwendiger Kontrast zu Clausnitz und Bautzen.