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Titel616

Bemerkungen

flüchtlingsgepäck

einzig geschützt
unter nackter haut
die blinde hoffnung
vom besseren leben
flimmert im display
in den handflächen
wie feuer brennt es
das letzte gut der
entwurzelten ein
besseres leben
leben hinter all den
grenzen

oskar ansull


Der Haken an der Sache
Solidaritätskonzert sollte es nicht heißen. Das klingt vielleicht zu kommunistisch, aber ein Solidaritätskonzert war es. Die Staatskapelle Berlin, das Konzerthausorchester Berlin und die Berliner Philharmoniker hatten am 1. März 2200 Flüchtlinge und ihre Helfer zu einem gemeinsamen Sonderkonzert in die Philharmonie eingeladen. Martin Hoffmann, Intendant des Hauses, versicherte die Gäste der Solidarität und des Verständnisses der Musiker für ihre Sorgen. Die Chefdirigenten Daniel Barenboim, Iván Fischer und Sir Simon Rattle entboten ihr Willkommen in ihrer internationalen Sprache der Musik »für Menschen, die vom Schicksal schwer getroffen sind und die durch Krieg, Hunger und Verfolgung gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen«. Barenboim dirigierte und spielte das Klavierkonzert Nr. 20 von Wolfgang Amadeus Mozart, Sir Simon Rattle bot den 2. und 4. Satz aus Beethovens 7. Sinfonie. Aufgeräumte Stimmung erzeugte Iván Fischer mit Sergej Prokowjews 2. Sinfonie. Die wenigsten Flüchtlinge hatten schon ein Sinfoniekonzert erlebt oder einen Konzertsaal gesehen. Doch ihre Begeisterung war überwältigend. Für die Musiker waren es glückliche Momente. Sie empfanden mit Menschen in Not und taten mit dem Konzert ein gutes Werk.


Das Motto des Konzerts, »Willkommen in unserer Mitte«, war von den Musikern ehrlich gemeint. In unserer Mitte hieße: im Wohnhaus, in der Kita, in der Schule und in Lohn und Brot. Doch das hat einen großen Haken. Nach dem Asylpaket II der Bundesregierung werden Zehntausende Flüchtlinge gar nicht bis in unsere Mitte gelangen. Sie werden bereits in »besonderen Aufnahmeeinrichtungen« abgefangen, überprüft und abgeschoben.


Familiennachzug gibt es für zwei Jahre nicht mehr, Kranke werden nicht verschont. In Manching und in Bamberg wurden »Rückführungszentren« eingerichtet, im Volksmund genannt »Balkanlager«, die sich hauptsächlich gegen Sinti und Roma richten. Das geht »zügig und schnell«, wie Thomas de Maizière es nennt.


Täglich geschehen Grausamkeiten, um nicht zu sagen Verbrechen. In Brandenburg wird eine Roma-Familie Knall auf Fall ausgewiesen, die seit sechs Jahren hier lebt. Die Eltern haben Arbeit und eine Wohnung, die Kinder sprechen Deutsch als ihre Muttersprache. Nun sollen sie raus, weil Mazedonien neuerdings ein »sicheres Herkunftsland« sein soll. In der Heidelberger Straße in Berlin-Neukölln will der Wohnungsbau-Verein Neukölln eG Wohnhäuser mit 76 Wohnungen abreißen. Aber allein in Berliner Turnhallen hausen 10.000 Flüchtlinge. Der Appell der Initiative »Genossenschaft von unten«, die leeren Wohnungen Flüchtlingen zu geben, wird vom Vorstand der Genossenschaft ignoriert. Trotz der Not der Flüchtlinge hat die Bezirksbürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) den Abriss genehmigt. Baurecht geht vor Menschlichkeit. Das passiert »in unserer Mitte«. Ein Konzert ist gut. Es kann Illusionen nähren, es wäre alles gut. Ein Protest von der Bühne herab gegen die Anti-Asylpolitik, statt einer Huldigung für Frau Merkel als »Schirmherrin«, von der Digital Concert Hall in alle Welt übertragen, hätte einen Kontrapunkt gesetzt.

Sigurd Schulze

 


Nächste Nachbarn

In seiner Kindheit spielte er mit
Freunden in den Terrassengärten.
Von Orangen- und Feigenbäumen
erzählt er mit leuchtenden Augen.
Lange schon sind sie Hotelanlagen
gewichen, Wohnsiedlungen, Straßen.
Heimatland Jugoslawien – bis heute.
Deutschland kennt er recht gut,
war viel in der DDR, beruflich,
Maschinenbau.
»Die konnten feiern!«, lachend
schenkt er kroatisches Bier nach
und seiner Frau dalmatinischen
Wein. Auch sie spricht deutsch,
hat in Stuttgart gewohnt. Zuweilen
bereut sie die Rückkehr. Und dass
über Nacht aus serbischen Nachbarn
Feinde geworden sein sollen,
können beide bis heute
nicht fassen.

Renate Schoof

 

Aus: Renate Schoof: »Immer Meer«, Gedichte, Lyrikedition 2000, Allitera Verlag. Das Buch erscheint Mitte März (116 Seiten, 12,90 €).


Berlinale 2016
Unberührt von der Darstellung einer sadomasochistischen Ehe verließ ich das Zeughauskino: Fassbinders 1974 gedrehter Film »Martha« kam mir kalt und blutarm vor – was auch für die Kameraarbeit des später berühmten Michael Ballhaus galt. Auch Marcos Prados Dokumentation »Curumin« über den Verfall eines zum Tode verurteilten brasilianischen Drogendealers in indonesischer Haft weckte wenig Anteilnahme in mir: Drogendealer bleiben Drogendealer. Deren selbstsüchtige Geldgier und mein Wissen um das Unheil, das sie anrichten, ließen mich die Hinrichtung des Mannes relativieren. Da ging mir der Aids-Tod des Ausnahmefotografen Robert Mapplethorpe in Fenton Baileys und Randy Barbatos »Look at the Pictures« weitaus näher – ein genialer Künstler siecht dahin, bis er todkrank und ausgemergelt in einer Galerie Manhattans zwischen seinen Bildern hockt, die jedes für sich mit tausenden von Dollars dotiert sind. Dass er, der lange Jahre mittellos blieb, ein Millionenerbe hinterlassen wird, geht ihn nichts mehr an. So sehenswert wie »Look at the Pictures« erweist sich auch Michael Grandages Spielfilm »Genius« über den jungen Thomas Wolfe und dessen Glück, an den Lektor Max Perkins geraten zu sein, der aus einem ungeordneten 1000-Seiten-Manuskript ein geordnetes Ganzes zu formen verstand: »Look Homeward, Angel« (Schau heimwärts, Engel) wird Thomas Wolfe den Durchbruch bringen – aber auch zum Zerwürfnis mit seinem klugen, einfühlsamen geistigen Ziehvater führen: Wolfes Hochmut (oder ist es allein sein jugendlicher Überschwang?) kommt vor dem Fall. Und was das filmisch umgesetzte Gerichtsdrama »Shepherds and Butchers« des südafrikanischen Regisseurs Oliver Schmitz angeht: Erschütternd! Ein junger Gefängniswärter wird in einer stürmischen Regennacht sieben Mitglieder eines Fußballklubs erschießen und die Leichen in einem Steinbruch aufreihen. Was trieb den erst 19-Jährigen zu dieser Gewalttat? Und wie wird es seinem Verteidiger (hervorragend hier der Schauspieler Steve Coogan!) gelingen, die Todesstrafe abzuwenden – den, in seinen Augen, staatlich sanktionierten Mord. Nach »P.S. Jerusalem« von Danae Elon, Tochter des israelischen Oppositionellen Amos Elon, die den Versuch ihrer Familie darstellte, im gespaltenen, zerstrittenen Jerusalem heimisch zu werden – sie alle wandern am Ende nach Kanada aus –, sah ich mir Michael Moores »Where to Invade Next« an. Mich erstaunt nicht, dass dieser Film den Friedrichstadt-Palast bis auf den letzten Platz füllen konnte: Das Publikum jubelte, wie Moore seinen amerikanischen Landsleuten die Urlaubsregelung in Italien vorhält, das Schulessen in Frankreich, das Bildungssystem in Finnland, die Vergangenheitsbewältigung in Deutschland, die Gleichstellung der Frauen in Island – bei Gott, ja, hier wird den Amerikanern eine Lehre verpasst: Applaus für Moore! Und Applaus auch für Rafi Pitts und seinen Spielfilm »Soy Nero«, der zeigt, wie der Traum eines jungen Mexikaners, Amerikaner zu werden, an seinen Erfahrungen als »Green Card Soldier« im Mittleren Osten scheitert: Wofür kämpft er hier überhaupt, was ist das für ein Trupp, in den er da geraten ist: schwarze Rassisten, brutale Weiße, und jeder gegen jeden – für wen und für was verreckt er in dieser mörderischen Steinwüste weit weg von der Heimat?

Walter Kaufmann


Dada über alles
100 Jahre Gründung des »Cabaret Voltaire« sind eine Steilvorlage für Zürich, Kunstinteressierte in die Schweizer Metropole zu locken. War doch der dort mehr zufällig gegründete Dadaismus die einzige Kunstbewegung, die je von der Alpenrepublik ausging. Dummerweise waren fast nur kriegsmüde Ausländer beteiligt, deren Aufenthaltsstatus schon damals prekär war. Zudem nahm die Schweizer Öffentlichkeit nur wenig von den Dadaisten Notiz und wenn, dann eher amüsiert über den scheinbaren Klamauk. Eine Kunstrevolution vermutete damals niemand.


Die Ausstellung im Schweizer Landesmuseum »Dada Universal« rekonstruiert den zeitgenössischen Kontext zumindest teilweise, tobte doch um die Schweiz herum der Erste Weltkrieg, dessen Gräuel zumindest für die Handvoll Dadaisten die Grundfesten der europäischen Kultur erschütterten. Die meist jungen ausländischen Männer entzogen sich in Zürich ihrer angeblichen vaterländischen Pflichten.


Doch darin erschöpften sich auch schon die Gemeinsamkeiten. Hugo Ball, der als »magischer Bischof« Lautgedichte bis zum Umfallen rezitierte, wandte sich bald einem mystischen Katholizismus zu. Richard Huelsenbeck gründete später den linksradikalen Berliner Dadaismus, bevor er Psychoanalytiker in den USA wurde. Tristan Tzara beteiligte sich an Dada Paris, bevor ihm André Breton die Show stahl und aus den meisten Mitstreitern Surrealisten wurden.


Das Landesmuseum zeichnet nicht nur diese Entwicklungslinien nach, sondern verlängert sie auch noch unter anderem bis zum Situationismus Guy Debords, ein Anreger der Pariser Studentenbewegung 1968, und zu den Züricher Jugendunruhen 1980 mit von Dada inspirierten Aktionen. Den Kuratoren ist bewusst, dass es eine beträchtliche Spannung zwischen einer rebellischen Antikunstbewegung und einer musealen Ausstellung gibt. Videoinstallationen vermitteln zwar den Happening-Charakter vieler dadaistischer Aktivitäten. Zugleich wird aber klar, dass der Kunstmarkt auch seine schärfsten Gegner letztlich kooptiert.


Die Ausstellung »Dadaglobe« im Kunsthaus Zürich rekonstruiert ein Zeitschriftenprojekt Tzaras, der nach dem Ersten Weltkrieg von Paris aus weltweit Künstler einlud, sich an einer Anthologie zu beteiligen. Im Frühjahr 1921 scheiterte die Veröffentlichung an fehlenden Finanzen. Aber viele der Beiträge lagen bereits vor, so Max Ernsts Collage »Die chinesische Nachtigall« sowie Beiträge der New Yorker Dadaisten.


Sechs Jahre benötigte Adrian Sudhalter, die ausgestellten Bilder und Texte zusammenzutragen. Die Schau und noch mehr der Katalog, der sämtliche Texte enthält, machen klar, wie eng der spätere Surrealismus und der Dadaismus zusammenhängen. Nicht nur sind Louis Aragon und André Breton vertreten, auch bei Dada gab es schon die automatische Schreibweise und Traumtexte.


Zwar sind die beiden im Dada-Duktus gehalten Zeitschriften zu der Landesmuseum-Ausstellung wohl eher Dada gemäß, doch der Kunsthaus-Katalog, ein Meisterstück philologischer Kleinarbeit, zeigt, dass Dada nicht nur schon lange im Kunstmarkt angekommen ist, sondern es auch etliche Dada-Akademiker gibt. Die damaligen Dadaisten wären wohl erstaunt gewesen.


Bedauerlicherweise wird der linksradikale Hintergrund etwa von Dada Berlin ausgeblendet ebenso wie das linke Umfeld des Züricher Dadaismus. Unabhängig davon, ob Lenin tatsächlich von seiner nahegelegenen Wohnung aus gelegentlich ins Cabaret Voltaire ging – ein gern kolportierter Mythos, für den es aber keine Belege gibt –, für die Schweizer Behörden waren die Züricher Dadaisten nach der Russischen Revolution als Kommunisten verdächtig. Tristan Tzara etwa wurde wegen angeblicher bolschewistischer Umtriebe verhaftet (und wenig später wieder freigelassen). Vor allem aber gab es in Zürich in dieser Zeit eine aktive linke Arbeiterbewegung mit Kontakten in die Künstlerszene.


Neben den beiden Ausstellungen gibt es in Zürich weitere mit Bezug zu Dada – etwa zu Glauser, zu den wenigen Dadaistinnen und zum Einfluss außereuropäischer Kunst –, daneben Dada-Stadtführungen und Aufführungen im 2004 wieder eröffneten Cabaret Voltaire. Leider ist Zürich auch ein Zentrum des europäischen Finanzkapitals mit vielen teuren Geschäften, Hotels und Cafés – zumindest ein Quarzuhrenhersteller als Werbepartner der Dada-Ausstellung verspricht sich von den zahlreichen Dada-Spektakeln wohl eine gesteigerte Nachfrage.


Peter Bräunlein

Landesmuseum Zürich: »Dada Universal« bis 28. März; Kunsthaus Zürich: »Dadaglobe« bis 1. Mai.


Fußvolk
Den Unfug, den in großer Politik die kleinen Wichte / anrichten, nennt man Fußnoten der Geschichte. / Bei manchen aber, die die Welt verschandeln, / muss sich's um Schweißfußnoten handeln

Günter Krone


Von Annäherung und Demut
Fünf Tage lang gab Egon Bahr 2010 im Rahmen einer »Denkwoche« einem kleinen Personenkreis im Veranstaltungshaus Château d’Orion, einem gesellschaftlichen und kulturellen Zentrum im Département Pyrénées-Atlantiques im Südwesten Frankreichs, Einblick in seine Gedankenwelt. Mit dabei: die Journalistin und Buchautorin Dietlind Klemm, die das Thema der Tagungswoche »Lebenswerk – Wandel durch Annäherung« als Leitfaden für das vorliegende Buch nutzte.


Der Band mit Erinnerungen und Aufzeichnungen zu den persönlichen und politischen Wegstrecken und Weichenstellungen ist schon einmal erschienen, 2012 im Hamburger VSA-Verlag. Nach Bahrs Tod im August vergangenen Jahres (vgl. Ossietzky 17/2015) wurde er erneut zugänglich gemacht, erweitert um ein Exklusivgespräch zwischen Egon Bahr und Hans Modrow.


Natürlich kann das Buch nichts wirklich Neues bieten. Aber in dieser komprimierten Form ist die Geschichtslektion aus dem Munde eines wichtigen perspektivischen und strategischen Denkers der alten Bundesrepublik ein spannendes und lesenswertes Zeitzeugnis der Jahrzehnte zwischen dem Zweiten Weltkrieg und dem 21. Jahrhundert, ergänzt mit Fotos und einem Dokumentenanhang. Bahrs Credo: »Bitte keine Politik des Exports von Demokratie und unseren anderen Werten … Die Hoffnung auf eine friedliche Welt verlangt neben dem Stolz auf den eigenen Weg die Demut gegenüber allen, die eine andere politische Struktur und einen anderen Weg gehen wollen.«


Modrow und Bahr reflektieren in ihrer Unterredung auch gegenwärtige Zeitläufte – Frage Bahrs: »Wie siehst du die aktuelle Situation in Griechenland?« – bis hin zur neuen Lage zwischen Kuba und den USA. Bahrs knapper Kommentar dazu: »Die Methode ›Wandel durch Annäherung‹ scheint aktuell zu bleiben.« Modrow: »Vieles ist zwischen den USA, Kuba und Lateinamerika noch ungeklärt, aber eine wichtige Öffnung für ein ganz allmähliches Miteinander und gegen politische Konfrontation hat begonnen.«

Klaus Nilius

Egon Bahr: »Ostwärts und nichts vergessen – Politik zwischen Krieg und Verständigung«, Herder Spektrum, Band 6766, 271 Seiten, 14,99 €


Der Chronist

»Alles, was ich mache, ist mitleidslos genau aufzuschreiben, was ich gesehen, erlebt, erfahren habe.« So beschreibt Christoph Hein seine Arbeitsweise. Wer seine Bücher nicht kennt, könnte auf seriöse und trockene Reportagen schließen. Aber weit gefehlt, Hein ist ein Menschenfänger. Ihn interessieren Schicksale, und weil er so genau hinguckt, entstehen Romane mit einem ganz eigenen Sog. So sachlich, ja sogar trocken der Autor das Leben seines jeweiligen Protagonisten verfolgt, umso spannender und detailreicher werden die Kollisionen zwischen Charakter und Gesellschaft. So entsteht von Roman zu Roman eine immer dichtere Chronik von Lebensvarianten aus unserer Zeit.


Diesmal ist es also ein »Glückskind mit Vater«. Der Titel ist ironisch zu verstehen, denn der 1945 Geborene bewahrte zwar, wie die Mutter meint, sie als Hochschwangere vor den Zudringlichkeiten der russischen Besatzer, aber den Schatten seines Vaters, den er nie kennengelernt hat, wird er zeitlebens nicht los. Der Vater war Kriegsverbrecher, einer der Reichsten in der Stadt, in Polen zum Tode verurteilt. Obwohl die Familie den Namen ablegt und die Enteignung des Besitzes akzeptiert, obwohl Konstantin ein guter Schüler ist und auch wenn er sich zu wehren versucht und kurzzeitig nach Frankreich geht – immer spielt der Vater eine Rolle, nie kann er nur er selbst sein. Konstantin fügt sich schließlich in sein Schicksal.


Christoph Hein erzählt wieder einmal mitleidslos deutsche Geschichte. Das ist aufregend, unter anderem deshalb, weil die Zwänge der Zeit so normal wirken. Diesmal ist der Autor so sehr Chronist, dass er zu Beginn auf das Authentische des Falls hinweist: »Die Personen der Handlung sind nicht frei erfunden.«

Christel Berger

Christoph Hein: »Glückskind mit Vater«, Suhrkamp, 227 Seiten, 22,95 €


Unsere Zustände
Gemüseschriftsteller: Sind Tomaten gefragt, schreiben sie über Tomaten. Ruft das Leservolk nach Gurken, liefern sie Gurken. Ach, schrieben sie doch über Sauerkraut! Dass man ihre Bücher einstampfen könnte.

*

Er schrieb zehn blutige Krimis und brachte seinen Lesern das Gruseln bei. Dann wurde er eines Nachts überfallen, und ihn gruselte selber. Seitdem schreibt er Heimatromane. Und seine Leser gruselt es erneut.

*

In leisen Büchern muss man auf den Anschlag jedes Wortes hören. In lauten Büchern gehen die Sätze mit Pauken und Trompeten unter, die Kapitel scheppern vorbei, und die Figuren klingen schrill wie Trillerpfeifen.

Wolfgang Eckert


Zuschrift an die Lokalpresse
Jeden Tag beim Aufschlagen der Lokalseite die üblichen Katastrophen: Rentner zerschrotet mehrere Nobelkarossen bei Geisterfahrt, betrogener Liebhaber zerlegt Ex trotz Gegenwehr in mundgerechte Bissen, Bitterschokoladenfan findet in Praline angerostetes Hufeisen, »Hartz IV«-Bezieher verklemmt Stinkefinger im Fahrkartenautomat, Selbstmörder verletzt sich Sprunggelenk nach Sturz vom trockenen Eichenast, abonnierter Zeitungsleser nach Morgenlektüre vom Schlaganfall getroffen und so weiter.


Ich finde, man sollte auch solch unerfreuliche Nachrichten mit einem positiven Touch ausstatten, zum Beispiel: Versicherung übernimmt Bestattungskosten vom Geisterfahrer, verurteilter Frauenmörder verliebt sich im Knast in attraktive Justizangestellte, Schokoladenhersteller ersetzt angerostetes Hufeisen zum Zeitwert, digitale Fahrkartenautomaten reagieren jetzt auf Blickkontakt, verunfallter Zeitungsabonnent wird von Nachzahlung entlastet und so weiter.


Eine derartige Berichterstattung würde sich sowohl auf das Wohlbefinden der Bundesbürger auswirken als auch der Wissenschaft und Technik innovative Impulse vermitteln. – Robby Lautenschläger (46), Lokalreporter, 16230 Blütenberg

Wolfgang Helfritsch