»Flackernd steigt die Feuersäule,
Durch der Straße lange Zeile
Wächst es fort mit Windeseile,
Kochend wie aus Ofens Rachen
Glühn die Lüfte, Balken krachen,
Pfosten stürzen, Fenster klirren,
Kinder jammern, Mütter irren,
Tiere wimmern
Unter Trümmern,
Alles rennet, rettet, flüchtet,
Taghell ist die Nacht gelichtet …«
So habe ich »Das Lied von der Glocke« noch nie gehört. Die Ohren stellen sich im Dunkel des Theaterraums auf. Das Gehirn arbeitet: Das kennt man doch, diese Worte, diesen Reim, diesen Rhythmus. Ist das wirklich dieser alte Klassenhauer, dessen wort- und ton- und effektgetreue Wiedergabe Generationen von Lehrern penibel überwachten?
Aber wie das alles intoniert und inszeniert ist und wie diese Zeilen passen! Mitten in dem dunklen Theaterraum steht ein halbhohes Gerüst, auf dem, über und um das sich etwa ein Dutzend junger Schauspielerinnen und Schauspieler windet wie, ja wie dem Mythos zufolge die Schlangen um den trojanischen Priester Laokoon und seine Söhne. Das stimmlich dumpfe Klangbild liegt wie der drohende Chor der griechischen Erinnyen, der Eumeniden, der römischen Furien über dem Geschehen. Aus dem Off szenische Effekte, Raumklang. Panzerketten rasseln, Motoren dröhnen, Bomben bersten, füllen den kreisrunden Raum unter der Kuppel des Mediendoms der Fachhochschule Kiel: Es ist Krieg. S´ brent! briderlekh, s´brent! Über das Himmelsrund eilen die Körper der Schauspieler in einem multimedialen Kaleidoskop wie Schattenwölfe.
»Flucht« heißt das Theaterstück über »Verlust oder Gewinn von Heimat«. Aufführungsort ist das Planetarium der Hochschule, Mediendom genannt, eine neue Art von Kuppeltheater mit Multimedia-Ausstattung, das im letzten Jahr mehr als 40.000 Besucherinnen und Besucher zählte – bei nur 64 Sitzplätzen. Sein reger Direktor Eduard Thomas erweitert zusammen mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und mit dankenswerter Unterstützung des Präsidiums der größten Fachhochschule in Schleswig-Holstein seit längerem das übliche Sternen- und Planetenprogramm (»Schönheit und Tiefe des Alls«) um Tanz-, Theater- und Musikveranstaltungen, auch für Kinder und Jugendliche. Das neue Projekt entstand fast gänzlich ohne Bühnenbild und aufwändige Kostümierung als experimentelle Spielform der »Schule für Schauspiel« in Zusammenarbeit mit dem »musiculum«, der Lern- und Experimentierwerkstatt für Kinder und Jugendliche, beide in Kiel ansässig.
An diesem Premierenabend im Februar ist auch der schleswig-holsteinische Innenminister Stefan Studt (SPD) zu Gast, mit einer kleinen, wohlwollenden Rede. Das ist kein Zufall: Gerade hat er einen dreimonatigen Abschiebungsstopp für afghanische Flüchtlinge erlassen. Länger können Bundesländer ohne Zustimmung des Bundes einen solchen Stopp nicht erteilen. Scharfe Kritik an der schleswig-holsteinischen Landesregierung kam prompt von Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU).
Flüchtlinge und Flucht, das ist das Thema des Abends. Allerdings »seitenverkehrt«. Die Flüchtenden sind Deutsche, ihr Ziel ist ein arabisches oder afrikanisches Land jenseits des Mittelmeers. Denn im Jahr 2030, dem verorteten Zeitpunkt des Theaterstücks, haben, ich zitiere aus dem Programmflyer, »nationalistische Regimes in Europa zur Auflösung der EU geführt. Es entbrennt ein Wirtschaftskrieg mit unkalkulierbaren Folgen, klimabedingte Katastrophen mehren sich, in Deutschland sind Millionen – zumal junger Leute – arbeitslos, ein rechtsextremer Teil der Bundeswehr putscht und errichtet ein diktatorisches Regime, es herrschen Bürgerkrieg, Flucht und Vertreibung«.
Die Zuschauerinnen und Zuschauer, »mittendrin«, dem kleinen Kuppelraum geschuldet, begleiten eine Gruppe junger Menschen auf ihrer Flucht in eine andere Welt. Dort angekommen, begegnen sie – Zitat – »einer undurchschaubaren Bürokratie und zum Teil unverhohlenen Abwehr durch die Mehrheit der Einheimischen, die neue Fremdheit und Einsamkeit auslöst«.
Mir fällt ein: 20 Jahre bevor Friedrich Schillers »Glocke« erstmals im »Musenalmanach für das Jahr 1800« veröffentlicht wurde, schrieb 1778 der im damaligen holsteinischen Reinfeld geborene Dichter Matthias Claudius sein »Kriegslied«:
»'s ist Krieg! 's ist Krieg! O Gottes Engel wehre,
Und rede du darein!
's ist leider Krieg – und ich begehre
Nicht schuld daran zu sein!«
Das passt zu der Thematik des Abends, zu den hoffnungsvollen jungen Leuten und ihren Mentoren, das ist ihr Appell: Wir sollen gegenüber Menschen in Not nicht schuldig werden, um nicht schuld zu sein an dem, was daraus entsteht.
»Flucht – Ein 360°-Theaterstück«; Projektleitung: Wolfram D. Kneib, Eduard Thomas, Bernd-Günther Nahm; Regie: Hanne Moll, Tina Wagner; Textvorlagen in Eigenarbeit aller Mitwirkenden; Auszüge aus Friedrich Schillers »Die Glocke« und »Der Taucher«; weitere Aufführungen: 21. März, 11. April, 9. Mai, 13. Juni; Tickets: www.mediendom.de