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Titel617

Solidarität und Doppelmoral  (Conrad Taler)

Die Solidarität mit Deniz Yücel in allen Ehren – ich wünschte, politisch verfolgte Journalisten hätten zu allen Zeiten so auf die Solidarität ihrer Kollegen rechnen können. Nicht irgendwo in einem despotisch regierten Land, sondern hier in dieser famosen Bundesrepublik Deutschland, dem demokratischen Tugendbold par excellence. Ich erinnere mich an den Fall des Journalisten Herbert Jacobi, der als verantwortlicher Redakteur der Neuen Volkszeitung in Essen Anfang der 1950er Jahre wegen eines politischen Artikels ein ganzes Jahr in Untersuchungshaft saß, ohne dass das die Öffentlichkeit auch nur im Geringsten interessierte. Der Artikel war so harmlos, dass die Richter mit ihrem Strafmaß am Ende unter der Dauer der Untersuchungshaft blieben. Das wollte was heißen. Keine einzige Zeitung hat sich über diesen Skandal aufgeregt. Bei dem Betroffenen handelte es sich ja um einen Kommunisten, und es war eine kommunistische Zeitung, für die er im Gefängnis saß. So einer hatte kein Anrecht auf menschliches Mitgefühl.

 

Dabei ist das ein vergleichsweise harmloser Fall. Als am 11. Mai 1952 in Essen bei einer verbotenen Demonstration gegen die deutsche Wiederbewaffnung erstmals in der Nachkriegsgeschichte ein Demonstrant von einem Polizisten erschossen wurde, hat das führende Nachrichtenmagazin der Bundesrepublik Deutschland, Der Spiegel, darüber drei Wochen lang keine einzige Zeile veröffentlicht. Das Opfer hieß Philipp Müller. Ich habe den Chefredakteur des Blattes, Klaus Brinkbäumer, kürzlich darauf angesprochen. Er schrieb mir zurück: »Der Spiegel berichtete am 4. Juni 1952 über die Erschießung Philipp Müllers in Essen, nachdem der Dichter Johannes R. Becher dem jungen Kommunisten ein Sonett gewidmet hatte. Über dieses Gedicht entspann sich während des III. Deutschen Schriftstellerkongresses in Ostberlin ein Streit, der Gegenstand der Spiegel-Berichterstattung war.«

 

Der erwähnte Bericht über den Schriftstellerkongress ist 68 Zeilen lang, fünf davon handeln, wie es heißt, von den »Tumulten in Essen, bei denen die Polizei den 21-jährigen Kommunisten Philipp Müller aus München durch einen Schuss tödlich verletzte, als er bei einer verbotenen Kundgebung demonstrierte«. Das ist alles. Wer heute nach dem ersten Todesopfer bei einer Nachkriegs-Demonstration fragt, wird auf Benno Ohnesorg verwiesen. Der Student wurde 15 Jahre nach den Essener Vorgängen in Berlin bei einer Demonstration gegen den Schah von Persien von einer Polizeikugel getötet, und der Spiegel hat darüber seitenweise berichtet. War Philipp Müller ein Mensch minderen Rechts, dass so mit ihm und seinen Angehörigen umgegangen wurde?

 

Man muss nicht Rolf Gössners Buch über »Die vergessenen Justizopfer des Kalten Krieges« gelesen haben, um Abscheu zu empfinden über die Doppelmoral so mancher öffentlichen Diskussion in diesem Land. Der Medienanwalt Heinrich Senfft schrieb am 22. Juli 1994 in einer Rezension der Wochenzeitung Die Zeit: »Die von Gössner geschilderten Einzelfälle westdeutscher Urteile sind so hanebüchen, dass man bis zum Fall der Mauer hätte glauben mögen, es handle sich um bösartige Erfindungen östlicher Propagandisten.« Weiteren Lesestoff zu diesem Thema bieten »Die Republik vor Gericht« von Heinrich Hannover und »Anwalt im Kalten Krieg« von Diether Posser. Was das alles mit dem Fall Deniz Yücel zu tun hat? Wer im Glashaus sitzt, sollte nicht mit Steinen werfen. Wer es dennoch tut, sollte – vorausgesetzt er weiß überhaupt etwas davon – zugeben, dass Vieles von dem, was jetzt in der Türkei passiert, in der Bundesrepublik Deutschland gängige Praxis war und deshalb ebenso verurteilt werden muss. Der eingesperrte Deniz Yücel hätte bestimmt nichts dagegen.