Lyrik ambulant: Leichtfüßig eilt er dahin. Mit wehendem Mantel? Vielleicht auch das. Auf alle Fälle ein junger Mann, groß und blond. Mal trifft man ihn in der U-, mal in der S-Bahn. Zuletzt bin ich ihm am Alexanderplatz unten auf dem Bahnsteig der U8 begegnet. Mit halblauter Stimme bietet er etwas höchst Ungewöhnliches an; bis wir dummes Volk begriffen haben, worum es geht, ist er schon wieder woanders. Aber er reagiert sofort, wenn man ihm hinterherruft, kehrt umgehend zurück: Er verkauft kleine Zettel mit selbst gefertigten Gedichten; für 50 Cent, das ist der Mindestpreis, bekommt man einen Achtzeiler. Beim letzten Mal hat er mir sogar den Inhalt erklärt, aber ich habe alles gleich wieder vergessen. Ein bisschen wirken seine Sachen wie mit dem Zufallsgenerator zusammengeschüttelt. Es macht auch Mühe, sie zu entziffern. Denn er druckt sie nicht aus, kopiert sie nicht, sondern schreibt sie mit der Hand, und zwar, wie es aussieht, in ziemlicher Eile. Kann es sein, dass er nicht viel verkauft? Muss er leben vom Erlös? Oder sind das zu intime Fragen an einen jungen Dichter?
Weiße Wäsche: Neben vielerlei neueren, zumeist nicht weiter bemerkenswerten Läden gab es auf der Schönhauser Allee lange Zeit noch etliche erheblich ältere, die alle irgendetwas Besonderes an sich hatten. Hut-Kranold zum Beispiel mit der altmodischen Schaufensterarchitektur. Dann den Laden, wo ein Kunstmaler seine Werke verkaufte. Oder eben dieses Wäschegeschäft, von dem nun die Rede sein wird, ein Überbleibsel, so schien mir immer, aus Zeiten, da die Wäsche noch der Stolz der Hausfrau war. Es lag, wenn man stadtauswärts fährt, auf der linken Seite, kurz vor der Ecke zur Bornholmer Straße. Zwar versorge ich mich mit Weißwaren normalerweise billig in Einkaufsmärkten, doch als ich eines Tages wieder einmal Unterhemden brauchte, kam mir dieser Laden in den Sinn, und ich dachte … ja, was ich dachte, weiß ich nicht mehr, es gibt wohl vielerlei Gründe, gerade in solch ein Geschäft zu gehen und Hemden zu kaufen. Sie seien, so sagte die ältere Frau oder Dame hinterm Ladentisch, die wahrscheinlich zugleich die Inhaberin war, sie seien Markenware, daher etwas teurer, aber, so fuhr sie fort, Sie werden daran sicherlich viele Jahre Freude haben. Es gibt nur wenige Sätze aus Verkaufsgesprächen, die sich mir derart eingeprägt haben wie dieser. Zu DDR-Zeiten hatte ich einmal im Einrichtungshaus am Alexanderplatz einen sehr schönen und teuren vietnamesischen Teppich gekauft. Wir danken Ihnen, sagte mir der Verkäufer zuletzt, für Ihren Einkauf. Das war zwar überraschend, aber verständlich. Doch dass man an Unterhemden Freude haben kann, die Vorstellung war mir völlig neu. Sie haben tatsächlich viele Jahre gehalten, das letzte habe ich noch getragen, als es den Laden schon längst nicht mehr gab.
Geheimnisse der Sechs: Der aufmerksame Berliner kennt sie, die nicht etwa gesprühten, sondern mit Pinsel und weißer Farbe ins Stadtbild gemalten Sechsen. Oft findet man sie am Straßenrand, auf Pflasterplatten zum Beispiel, die nach getaner Arbeit liegengeblieben sind. Ob der Maler dieser Sechsen mehr im Osten oder im Westen, nur im Zentrum oder auch in den Vorstädten seine Spuren hinterlässt, weiß ich nicht. Schon gar nicht weiß ich, wer er ist; nie habe ich ihn bei seiner Arbeit gesehen. Derweil interessiert sich sogar die Presse für ihn; man würde ihn vermutlich gern fragen, ob es Kunst sei, was er da mache, oder eher schwarze Magie? 666 ist nämlich die Zahl des Teufels. Doch der Sechsenmaler bleibt im Verborgenen; bekannt geworden ist er auch so. Erwähnt ihn nicht sogar das Stadtgespräch? Na gut, aber irgendetwas muss er uns doch sagen wollen mit seinen Werken! Und wieso Maler – könnten die Zahlen nicht ebenso von einer Malerin stammen? Vielleicht sollte man von ihm nicht zu viel erwarten, vielleicht will er uns nur sagen, dass es in dieser Stadt jemanden gibt, der Sechsen malt. Und solche Seltsamkeiten sind ja meist Männersache. Wichtig sind sie für uns wohl vor allem, wenn ein Geheimnis sie umgibt.