Argyris Sfountouris (77) trauert um Deutschland. Der gebürtige Grieche, der nach dem Zweiten Weltkrieg in einem Waisenhaus in der Schweiz aufgewachsen ist, Astrophysik in Zürich studiert hat und der ein freundliches Schwyzerdütsch spricht, ist traurig, weil die Deutschen und ihre Regierungen die von der Nazi-Wehrmacht in Griechenland in den Jahren 1941 bis 1944/45 begangenen Verbrechen verleugnen und verdrängen. Er kann nicht begreifen, dass bislang alle Bundesregierungen sich der historischen Wahrheit über die Verbrechen der Besatzungsjahre aus kleinlichem ökonomischem Kalkül verweigern – fürchtend, bei deren Anerkennung, Entschädigungen gemäß der Bestimmungen des humanitären Völkerrechts zahlen zu müssen.
Argyris Sfountouris ist ein Überlebender. Er war noch nicht vier Jahre alt, als Soldaten der 4. SS-Panzergrenadierdivision am 10. Juni 1944 seine Eltern und 216 andere Bewohner seines Heimatdorfes Distomo nahe Delphi bestialisch ermordeten – Alte, Kranke, Säuglinge, Schwangere, Kinder. Argyris und seine kleine Schwester Kondyla, die seitdem traumatisiert in einem Heim lebt, überlebten durch einen Zufall.
Die Täter wurden nie verurteilt. Die zuständige Münchner Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren 1972 wegen Verjährung ein. Eine Entschädigung für das erlittene Leid erhielten die Opfern und ihre Angehörigen nicht, obwohl die griechische Justiz 290 Klägern aus Distomo umgerechnet 28 Millionen Euro zusprach. In Deutschland, wo Argyris Sfountouris Klage auf Entschädigung eingereicht hatte, verlor er vor allen Gerichten. Bundesverfassungsrichter Udo Di Fabio, dessen Kammer sich geweigert hatte, die Klage auch nur anzunehmen, behauptete 2006 in einem Interview, die Metzeleien in Distomo hätten 1944 im »Rahmen des Völkerrechts« stattgefunden.
Doch dass die Menschen in Distomo durch kriegsbedingte Kampfhandlungen quasi legitim zu Tode gekommen seien, ist eine dreiste Lüge, die 1944 der SS-Kommandant Lauterbach erfunden hatte, um die Blutorgie zu rechtfertigen. Eine Lüge, die damals im zuständigen Wehrmachtskommando bereits einen Monat später dank eines Berichts der geheimen Feldpolizei als »wissentlich falsch« enttarnt worden war. Eine Lüge, die von der deutschen Bundesregierung aber bis heute offiziell vertreten wird, um keine Reparationen zahlen zu müssen.
»Nach Auffassung der Bundesregierung sind Vergeltungsaktionen wie gegen das Dorf Distomo nicht als NS-Tat zu definieren, deren Opfer wegen ihrer Rasse, ihrer Religion oder ausdrücklicher Antihaltung geschädigt worden sind, sondern als Maßnahme im Rahmen der Kriegsführung, denn sie stellten Reaktionen auf Partisanenangriffe dar.«
Ohne ein Wort des Bedauerns, des Mitleids oder des Verständnisses schrieb die deutsche diplomatische Vertretung in Athen Sfountouris diese Zeilen am 23. Januar 1995. Dieser hatte im November 1994 in der Botschaft angefragt, ob Entschädigungen für Opfer von Vergeltungstaten gegen das Dorf Distomo vorgesehen seien oder beantragt werden könnten. Der Grieche hatte es gewagt, an die Verantwortung der deutschen Regierung zu erinnern, er hatte damit die machtpolitisch tabuisierte Reparationsfrage berührt. Deshalb wurde er kalt abgewiesen und brüsk abgefertigt mit dem Hinweis, es habe bislang keinen »Präzedenzfall« gegeben. Deshalb müsse der Bittsteller leider leer ausgehen. Das solle er auch im Dorf bekanntmachen.
Distomo ist eines der 1700 griechischen Dörfer, die die Deutschen während der Besatzung Griechenlands zerstört haben. Die Blutorgie vom 10. Juni 1944 ist eines von mehreren Dutzend deutscher Massaker, denen damals mehr als 10.000 Griechen zum Opfer gefallen sind. Verbrechen, die in Deutschland seit Jahrzehnten offiziell verdrängt und beschwiegen werden (Ossietzky berichtete mehrfach).
Gegen diese Verdrängung kämpft Sfountouris seit Jahren. Vor allem seit der Schweizer Filmemacher Stefan Haupt Sfountouris’ Schicksal und Anliegen in dem Dokumentarfilm »Ein Lied für Argyris« bekanntmachte, findet er bei einem immer größeren Teil der deutschen Öffentlichkeit offene Ohren und engagierte Mitstreiter. Viele Deutsche sind längst nicht mehr so ahnungslos wie früher über die Besatzungsherrschaft in Griechenland. Auch hat inzwischen der damalige Bundespräsident Joachim Gauck am 7. März 2014 an einem Ort deutscher Kriegsverbrechen, im Märtyrerdorf Lingiades, wo die Nazis 80 Zivilisten ermordet hatten, für die deutschen Gräueltaten um Verzeihung gebeten.
Der Bremer Historiker Karl Heinz Roth, der zusammen mit dem Politikwissenschaftler Hartmut Rübner die Geschichte der verweigerten Reparationen im gemeinsamen Buch »Reparationsschuld. Hypotheken der deutschen Besatzungsherrschaft in Griechenland und Europa« untersucht hat (s. Ossietzky 7/2017), argwöhnt, Gaucks folgenlose Rede sei nur ein weiterer »wohlfeiler Beitrag der Erinnerungskultur«, um die deutsche Politik des jahrzehntelangen »Aussitzens« von Reparationsforderungen abzufedern. Dagegen freut sich Argyris Sfountouris über die erste »würdige Bundespräsidenten-Rede zu den Massakern in Griechenland«. Gauck sagte in Linigiades: »Das was geschehen ist, war brutales Unrecht. Mit Scham und mit Schmerz bitte ich im Namen Deutschlands die Familien der Ermordeten um Verzeihung.« Gauck brachte den Wunsch zum Ausdruck, »in Zukunft noch mehr gemeinsame Anstrengungen zu unternehmen, damit sich das Wissen in Deutschland über die deutschen Gräueltaten in Griechenland verbreitet.«
Damit das nicht Worte bleiben, ist Sfountouris weiterhin unermüdlich für die Sache der Gerechtigkeit und der Anerkennung der historischen Wahrheit aktiv. Unverdrossen hält er Vorträge (s. Ossietzky 4/2015), stellt sich wie jüngst in Nürnberg und Hannover Diskussionen über die deutsch-griechischen Beziehungen. Er publiziert aufklärende und manchmal auch anklagende Texte. Und er überzeugt durch Freundlichkeit, mit der er nachdrücklich Respekt und Empathie im Namen der Opfer einfordert.
Selbst eine böse Volte der Geschichte, durch die seine Schwester Kondyla ein zweites Mal Opfer deutscher Politik wurde, hat ihn nicht verbittern lassen: Im Zuge der Austeritätspolitik, die unter der Führung von Wolfgang Schäuble Griechenland aufgezwungen worden ist, wurde der Schwester die Rente mehrfach auf jetzt nur noch 330 Euro gekürzt, während die Heimkosten durch die erzwungene Erhebung einer Mehrwertsteuer auf Pflegeleistungen um 150 Euro teurer geworden sind und jetzt 1500 Euro betragen.
Karl Heinz Roth hat den Eindruck gewonnen, dass dank des Wirkens von Argyris Sfountouris inzwischen auch in der machtpolitisch tabuisierten Reparationsfrage einiges in Bewegung gekommen ist. Sfountouris’ Aktivitäten und die des deutschen Arbeitskreises Distomo anlässlich der Eröffnung der Documenta 2017 in Kassel hätten das Thema inzwischen auch in Künstlerkreisen zum Diskussionspunkt gemacht. Zudem gebe es »Hilfe von unerwarteter Seite«, von Polen. Das renommierte West-Institut (Instytut Zachodni) in Poznań habe die Frage der verweigerten Reparationen in einer großen Untersuchung aufgegriffen. Demnächst werde es dazu in Brüssel eine internationale Tagung geben.
Die Chancen stünden gut, machte Roth Sfountouris während der Veranstaltung in Hannover Mut, dass die Bundesregierung mit ihrer Abwehrhaltung, die Reparationsfrage habe sich über die Jahre erledigt, nicht länger durchkommen werde.
Leseempfehlung: Argyris Sfountouris: »Trauer um Deutschland, Reden und Aufsätze eines Überlebenden«, Königshausen u. Neumann, 220 Seiten, 24,80 €