»Titel, Thesen, Temperamente«, das Kulturmagazin der ARD machte es kurz: »Mr. Longo, Respekt. Ihre Kunst ist gigantisch.« Ironie? Oder Lob für den 1953 in New York geborenen Künstler Robert Longo? Es ist das Fazit einer Rezension der Ausstellung »Proof« (Beweis, Probe) in den Hamburger Deichtorhallen (bis 27. Mai). Lob nicht nur für ihn. Noch vor ihm werden Francisco Goya und Sergei Eisenstein als Künstler genannt. In einem kleinen Kabinett sind ausgewählte Blätter Goyas aus den Radierzyklen »Los Caprichos«, »Los Desastres de la Guerra«, »Los Disparates« und »La Tauromaquia« ausgestellt. Ganz hinten in den Deichtorhallen große Leinwände mit Ausschnitten aus sieben Eisenstein-Filmen. Davor, in Vitrinen, 43 Zeichnungen zu den Filmen »Alexander Newski« (1938) und »Iwan der Schreckliche« (1942). Die Filme – in Zeitlupe projiziert – auf ein Prozent der normalen Geschwindigkeit verlangsamt, ohne Ton und Untertitel: Sie werden als Einzelbilder wahrgenommen – der neue Van-Gogh-Film, der aus starren Gemälden bewegte, flirrende Bilder macht (Ossietzky 1/2018), geht den umgekehrten Weg. Wer auf die Filmsequenz bei Eisenstein wartet, die sich im Kopf festgesetzt hat, die Treppenszene aus dem »Panzerkreuzer Potemkin«, der kann tagelang warten auf der Bank davor.
Im vorderen Bereich der Deichtorhallen hängen die monumentalen Bilder Longos, Kohlezeichnungen, bis 7,50 Meter breit. Fotografien oder Gemälde dienten als Vorlage. Longo nennt sich selbst einen »Bilderdieb«. Was hier täglich an Bildern an uns vorbeirauscht, er will es anhalten, sich das, was hängen bleibt, sich wie ein Stachel ins Gehirn bohrt, zu eigen machen. Er will es in monatelanger Handarbeit mit dem archaischen Material Kohle wiedergeben in reinem Schwarz-Weiß, wobei das Weiß nicht aufgetragen, sondern ausgespart wird. Wie ihm das bei dem Wappentier der USA, dem Weißkopfseeadler, gelungen ist, erstaunlich. Besteht doch der Kopf aus unendlich vielen akribisch gezeichneten Federn, alle in strahlendem Weiß. Die Augen und der Schnabel signalisieren das Raubtier USA. Eine andere Zeichnung, so präzise wie ein Foto: fast ein Tier, Qualle, »Medusa« sagt Longo, es wirke »lebendig«. Was? Das Einschussloch am Eingang der Redaktion von der Satirezeitschrift Charlie Hebdo. Das dicke Glas durchgeschlagen – »… die Waffen der Terroristen müssen schreckliche Kanonen gewesen sein«, sagt der Künstler im ARD-Beitrag.
Zwei riesige Insekten? Oder »Russian SU-27 Fighter« und »American F-22 Raptor Fighter«, Kampfflugzeuge am Himmel, von der Sonne scharf abgezeichnet. Faszinierende Tötungsmaschinen. Keine Menschen mehr? Im Bild »Air Strike on Syria, 2015« sind keine zu sehen. Von ganz oben eine einsame Landschaft – aber ein Fadenkreuz. Das Ziel, von einem Menschen oder einer Drohne angepeilt? Raketen, die sich selbst in ein Ziel leiten – es wird schon der Feind sein. Diese Punkte? Wolken wie von einer Explosion.
Auch Filme haben ihn inspiriert. Ein Kampfroboter – Longo dachte dabei an das Goya-Gemälde »Der Koloss« – durchquert eine Trümmerlandschaft. Auf drei Paneelen sehen wir Zerstörung und Chaos. Nicht Roboter, Polizisten in Kampfmontur hinter Schilden wie im Mittelalter auf dem Bild »Riot Cops«, das in die antirassistischen Proteste in Baltimore 2015 führt. Dem jungen Schwarzen Freddie Gray geschah der Bruch von Rückgrat und Genick im Polizeigewahrsam. Dazu auch ein Bild des Widerstands: die Demonstration von Football-Spielern im Stadion von St. Louis, die mit erhobenen Händen ihren Protest gegen die Gewalttaten weißer Polizisten ausdrückten.
Menschen, nur schemenhaft zu erkennen, die hintereinander gehen mit auf den Rücken gebundenen Händen, alles ist dunkel. Sie werden zu einem »Black Site« geleitet, einem der Geheimgefängnisse und Folterorte der CIA. Gefangene, heimlich mit Infrarotkamera und Teleobjektiv aufgenommen. Longo drückt es durch Unschärfe und Verschwommenheit aus. So nähert sich die Zeichnung den Radierungen Goyas wie keine andere. Das Bild, das wie alle anderen »Untitled« heißt, dann in Klammern die Ortsangabe: »Kandahar Airport« von 2016.
Ein Triptychon, das fast nur aus Wasser zu bestehen scheint. Meterhohe Wellen, darin ein Schlauchboot mit syrischen Flüchtlingen, ganz klein und verloren. Longo erwarb die Nutzungsrechte an dem Foto der Vorlage und veränderte den Blickpunkt, so dass die Wogen noch bedrohlicher wirken. Das Foto war das Cover einer Publikation von »Ärzte ohne Grenzen«.
Um Licht darzustellen, konzentriert sich Longo auf die Schatten, indem er die Zeichenkohle mit dem Pinsel aufträgt. In der Serie »Hungry Ghosts« verwendet er Röntgenaufnahmen von berühmten Gemälden, um in ihnen nach verborgenen Geschichten zu fahnden. Rembrandts Christuskopf, gemalt auf eine Eichenholzplatte – die Röntgentrahlen zeigen die Maserung, die das Gesicht nicht wie eine Glorie umgibt, eher wie Regen überströmt. Und noch etwas entdeckte Longo. Rembrandt änderte seine Bilder immer wieder, so auch beim Christuskopf. Der Künstler suchte sich Modelle in Amsterdam, junge jüdische Männer. Bekam er Skrupel, dass Jesus zu semitisch geraten war? Jedenfalls übermalte er ihn. Max Liebermann verhielt sich 1879 ähnlich. Nach heftiger Kritik an seinem Gemälde »Der zwölfjährige Jesus im Tempel« veränderte er den »hässlichsten, naseweisesten Juden-Jungen« (Augsburger Allgemeine Zeitung) fast in ein Mädchen mit blonden Haaren (im Besitz der Hamburger Kunsthalle). Rembrandts Christus-Kopf in der Röntgen-Version von Longo erscheint düster.
Zu der Werkgruppe »God machines«, die sich mit den Weltreligionen auseinandersetzt, gehört ein Bild über Mekka. Aus der Vogelperspektive: die Gläubigen als Masse, nur noch Punkte, umrunden die Kaaba. Die Bischöfe im Vatikan, zum Amtsantritt des Papstes versammelt, bilden in ihrem Ornat ein Ornament. Alle gleich, nur die Kapuze des einen gleicht der eines Ku-Klux-Klan-Anhängers. Wer von weitem das Bild betrachtet, sieht keine Köpfe. Die Klagemauer in Jerusalem besteht bei Longo aus fünf Tafeln, über acht Meter lang. Nicht die Größe ist es, die bannt, die Intensität, mit der jeder einzelne Stein in Licht und Schatten wie eine Vision herausgearbeitet wurde. Eine Skulptur aus Kohle. Ohne Menschen.
Der Schluss führt wieder zu Goya. Zwei vergrößerte Reproduktionen aus dem Zyklus »Die Schrecken des Krieges«: »Die Wahrheit ist gestorben« und »Wird sie wieder auferstehen?« sind nicht nur ein Abbild der damaligen Zeit des Umbruchs. Longo sieht darin den Prozess des Suchens und Hinterfragens – und immer noch einen Hoffnungsschimmer.