In den letzten Wochen wurde in der Atommüll-Schachtanlage Asse II ein deutlich erhöhter Laugenzufluss festgestellt, meldete Mitte Januar die Bundesgesellschaft für Endlagerung (BGE), seit April 2017 Betreiberin der Anlage (https://t1p.de/asselauge2019). Täglich werden etwa 14 statt vorher zwölf Kubikmeter gesättigte Salzlösung aufgefangen und müssen regelmäßig abtransportiert werden.
So weit, so misslich: Mit Wasser in einem Salzbergwerk ist nicht zu spaßen, erst recht nicht, wenn 50.000 Kubikmeter Atommüll eingelagert sind. Doch die Laugenzuflüsse in Asse II haben eine längere Geschichte als bisher angenommen, und auch der Umgang der BGE mit dieser alten Geschichte ist wenig vorbildhaft.
Bislang war man davon ausgegangen, dass erst seit dem Jahr 1988 Salzlauge in die Schachtanlage Asse II hineinläuft, also erst seit zehn Jahren nach dem Ende der Einlagerung von Atommüll. »Hätte man nicht so etwas ahnen müssen?«, wurde vielfach gefragt – und diese Frage mit einem Achselzucken beantwortet: Wer konnte das schon im Voraus wissen?
Wie ein kürzlich von Bürgerinitiativen gründlich analysiertes Protokoll vom 3. März 1964 (https://t1p.de/asse2-1964) offenbart, wussten sowohl das westdeutsche Forschungsministerium als auch die Kernforschungsgesellschaft Karlsruhe nach einer Befahrung der Schachtanlage am 29. Januar 1964 durchaus von einer erheblichen Wasserproblematik! Mehr als drei Jahre bevor 1967 das erste Atommüllfass Hunderte von Metern in den Untergrund gebracht wurde, war bereits festgehalten worden: Täglich dringen drei Kubikmeter Wasser ein.
Der Vorgang im Detail: Am 29. Januar 1964 hatten Wissenschaftler (die männliche Form ist hier 100 Prozent korrekt) des Forschungsministeriums, der Gesellschaft für Kernforschung Karlsruhe (GfK) und einige Herren des damaligen Eigentümers, der Wintershall AG, die Schachtanlage Asse II besichtigt. Sie wollten feststellen, ob das ausgebeutete Kali- und Steinsalzbergwerk für die Deponierung von Atommüll geeignet sei.
Notiert wurde, dass pro Minute circa zwei Liter Wasser durch den Schacht hineinlaufen. Umgerechnet sind das etwa drei Kubikmeter pro Tag. Doch könne man den Wasserzulauf per Zementierung eindämmen, wurde festgehalten – weiter sorgte man sich nicht um den Verbleib dieses Wassers. Ob man wohl hoffte, es würde entgegen der Schwerkraft wieder nach oben fließen, wenn ihm das Eindringen in den Schacht an dieser Stelle verwehrt würde?
Auch weitere Formulierungen lassen nur den Schluss zu, dass nicht eine wissenschaftlich fundierte Beurteilung der Eignung des Salzbergwerks Asse II zum Zweck der Atommüll-Endlagerung angestrebt war, sondern dass es bei der Besichtigung allein darum ging, die kostengünstige Einlagerung von Atommüll zu rechtfertigen. »Positiv zu werten ist vor allem der Preis, der … auf 600.000,-- DM beziffert wurde.« Jedoch: »Auch da scheint noch Verhandlungsspielraum gegeben.«
Im Forschungsministerium hätten angesichts dieses Befahrungsprotokolls schon im Frühjahr 1964 alle Alarmglocken schrillen müssen. Doch es kam anders: Man ließ die Schachtanlage für die Einlagerung umrüsten und vom 4. April 1967 bis zum Silvestertag 1978 durch die Münchner Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF) insgesamt 50.000 Kubikmeter Atommüll einlagern. Vermutlich immer mit der Angst im Nacken, noch während des Einlagerungsbetriebes könnte sich die Wassermenge den Weg in das Bergwerk hinein suchen. Tausend Kubikmeter Wasser pro Jahr mussten ja irgendwo bleiben.
Die GSF, später umbenannt in Helmholtz Zentrum München für Gesundheit und Umwelt (HMGU), war im Geschäftsbereich des Forschungsministeriums für Asse II von 1965 bis 2008 verantwortlich, danach von 2009 bis April 2017 das Bundesamt für Strahlenschutz (BfS) im Geschäftsbereich des Umweltministeriums.
Das, wovor schon 1979 der Wasserbauingenieur Hans-Helge Jürgens gewarnt hatte, geschah schließlich 1988: Neue Wegsamkeiten im Berg öffneten sich, und es begann Lauge in das ehemalige Salzbergwerk einzutreten. Zunächst bei etwa 550 Metern Tiefe im Umfang von drei Kubikmetern pro Tag: die gleiche Menge wie bis 1964 bei 137 Metern Teufe. Ein Zufall?
Wenn man annehmen muss, dass bei 137 Metern über einige Jahre relativ gleichmäßig große Lösungsmengen eingetreten sind, dann scheint eine den Zufluss begrenzende Engstelle oberhalb von 137 Metern Teufe zu liegen. Die nach 1968/69 nicht mehr hier eintretenden Wässer müssen irgendwo geblieben sein. 20 Jahre später gibt es etwa 400 Meter weiter unten einen Lösungszutritt, der Anfang der 1990er Jahre in Höhe von ebenfalls etwa drei Kubikmetern pro Tag aufgefangen wird. Da liegt die Vermutung nahe, dass die gleiche Engstelle, die den Zufluss bei 137 Metern begrenzt hatte, auch für die vorläufige Begrenzung des späteren Zuflusses ab 1988 verantwortlich war.
Diese Hypothese wäre für eine seriöse Bewertung möglicher Zusammenhänge zu überprüfen. Doch als Ende Januar 2019 Bürgerinitiativen das Befahrungs-Protokoll über den 29. Januar 1964 und seine Analyse öffentlich machten (www.asse-watch.de/#190129), gestanden Behörden und Ministerien nicht etwa damalige Fehler ein.
Stattdessen veröffentlichte die BGE eine Stellungnahme, in der sie eine gewagte Behauptung über die damaligen Laugenflüsse aufstellt: »Ein Zusammenhang mit den Zutrittswässern in der Schachtanlage Asse II besteht nicht.« (https://t1p.de/bge-zu-1964) Argumente für die Behauptung führt sie dabei nicht an. Sie definiert den Zutritt von 1964 bei 137 Metern Teufe schlicht als »betriebliche Lösung«. Doch diese Definition passt nicht einmal zur Klassifizierung der wässrigen Lösung als »Deckgebirgslösung«, die der ehemalige Betreiber, die GSF, vorgenommen hatte, der die jahrelange Vertuschung betrieb. Die GSF hatte im Jahr 2003 eine »Bewertung der vor 1988 im Grubengebäude … aufgetretenen Salzlösungen und Gase« vorgelegt (https://t1p.de/gsf-vor-1988). Beim Zutritt bei 137 Metern Teufe, so die GSF, »handelt es sich bei den zutretenden Lösungen um Süßwässer, die aus relativ oberflächennahen … Horizonten (evtl. verstürzter Unterer Buntsandstein) gespeist wurden. Anhand der in Kap. 1 formulierten Definitionen handelt es sich bei diesen Zutritten um Deckgebirgslösungen.«
Zur Unterscheidung von Deckgebirgslösungen und Betriebslösungen hatte die GSF formuliert: »Deckgebirgslösungen entstammen einem offenem System und haben Verbindung mit den Grundwasserleitern des Deckgebirges. Die Zuflussraten werden zum einen durch das Grundwasserdargebot und zum anderen durch ggf. zuflussbegrenzende Engstellen im Zuflusssystem kontrolliert. Aufgrund ihres Restlösevermögens gegenüber Salzgesteinen sind Deckgebirgslösungen sowohl für die Betriebssicherheit als auch für den Nachweis der Langzeitsicherheit kritisch zu bewerten.«
Die »Betriebslösungen« definierte die GSF hingegen folgendermaßen: »Bei den Betriebslösungen handelt es sich um MgCl2-führende Lösungen, die im Rahmen der betrieblichen Maßnahmen im Bergwerk entstehen. Die Herkunft dieser Lösungen ist anthropogen und stets bekannt. ... Betriebslösungen sind unkritisch für die Betriebssicherheit.«
Es gibt keinen sachlichen Grund, ausgerechnet heute die Zuflüsse von Anfang der 1960er Jahre als vermeintlich harmlose »betriebliche Lösungen« zu bezeichnen. Weder ist ihre Herkunft bekannt, noch sind sie bei betrieblichen Maßnahmen im Bergwerk entstanden, und sie können auch nicht wie betriebliche Lösungen »aufgefangen, abgepumpt, verwertet oder entsorgt« werden.
Da es keinen sachlichen Grund für diese Umetikettierung gibt, darf man wohl politische Gründe vermuten. Offensichtlich soll das Eingeständnis vermieden werden, dass die verantwortlichen Ministerien schon weit vor der Umrüstung der Schachtanlage von einer erheblichen und langfristig nicht abzustellenden Laugenfluss-Problematik bei Asse II wussten – und dass ihnen hätte bewusst sein müssen, dass dies kritisch für Langzeit-Sicherheit werden würde. Eine Problematik, die sie verleugneten, um im östlichen Niedersachsen billig und weit weg von München und Karlsruhe den Atommüll tief unter der Erdoberfläche zu deponieren.
Und noch 55 Jahre nach der fahrlässigen Eignungserklärung der Schachtanlage Asse II zur Atommüll-Einlagerung stellt der heutige Betreiber den damaligen Verantwortlichen der Gesellschaft für Kernforschung Karlsruhe und des Bundesforschungsministeriums einen Persilschein aus? Si tacuisses, BGE!