Wann steht der nächste Crash bevor? Die Menschen wollen wissen, wie die Zukunft sein wird. Sie hoffen und bangen. Sie vertrauen Wirtschaftsgurus, die von sich sagen, sie wüssten genau, was geschehen wird. Steht die Zukunft in den Sternen – und das ist fast immer so –, haben Schicksalsdeuter Hochkonjunktur. Nostradamus, frühneuzeitlicher Produzent von Prophezeiungen, schrieb Horoskope für die Kinder der Königin. Madame Buchela, die Wahrsagerin von Bonn, weissagte Konrad Adenauer. Manfred Wörner, von 1988 bis 1994 der bisher einzige deutsche NATO-Generalsekretär und Vorsitzender des Nordatlantikrats, vertraute seiner Hellseherin Ruth Zucker.
Unternehmer und Politiker blicken gebannt auf die Orakel aus den Instituten der Konjunkturforscher. Dort werden Indikatoren unablässig beobachtet. Das sind statistische Größen, mit denen die Schwankungen der wirtschaftlichen Aktivität gemessen werden. Sie dienen der Beschreibung, Diagnose und Vorhersage der Wirtschaftsentwicklung.
In vorindustriellen Zeiten gab es noch keine systematischen Produktionsstatistiken. Hilfsgrößen mussten herhalten, um den Wandel zu erfassen. Und Wandel gab es immer. Auf- und Abschwünge der Produktion könnten zu tun haben mit Sonnenflecken, Morgenröten, kosmischen Strahlen und magnetischen Störungen, mutmaßten die ersten Krisenforscher. Vielleicht dachten sie an die Bibel, die davon spricht, dass den alten Ägyptern der Wechsel zwischen sieben fetten und sieben mageren Jahren zu schaffen gemacht habe. Man soll gar die Zahl der sonntäglichen Kirchenbesucher gezählt haben: In Krisenzeiten waren die Gotteshäuser voll. Ging es den Menschen besser, ließ die Frömmigkeit nach.
Heute gibt es für Produktion und Volkseinkommen Messungen, auch für kürzer zurückliegende Zeiträume: Monats-, Quartals-, Halbjahreszahlen. Ob sie genau sind, ist jedoch meist umstritten. Die Experten sind sich in der Bewertung der aktuellen Lage selten einig. Was für die einen eine Wachstumsdelle, eine Atempause im Aufschwung ist, ist für andere schon der Beginn einer Rezession. Konjunkturvorherseher untersuchen vor allem Frühindikatoren, von denen sie auf die wirtschaftliche Lage in den nächsten Monaten schließen. Sie ermitteln akribisch Trends und erstellen unentwegt Wirtschaftsprognosen, die sie ebenso oft korrigieren müssen. Warum ist das so? Rezessionen hinterlassen tiefe Spuren im Leben der Menschen. Aber die Wirtschaft ist ein hochgradig komplexes System, dessen Merkmale und Änderungen unmöglich im Detail vorausgesagt werden können. Und doch tun Ökonomen so, als fiele ihnen das Unmögliche leicht. Regelmäßig sagen sie das Wirtschaftswachstum in Zehntelprozenten voraus. Und regelmäßig sind sie gezwungen, ihre Voraussagen zu ändern.
Der Internationale Währungsfonds, Russland, China, Deutschland – sie alle rechnen mit weniger Wachstum für das laufende Jahr als noch im Herbst 2018. Die EU-Kommission erwartet für die Länder der Währungsunion für 2019 nur noch ein Wachstum von 1,3 Prozent statt wie zuvor prognostiziert 1,9 Prozent. Die Bundesregierung rechnet mit einem Prozent Zuwachs an Wirtschaftsleistung. Der Handels- und Zollkrieg zwischen den USA, China und Europa, »Brexit«-Irritationen und steigende Schulden verunsichern die Wirtschaftsakteure. Steht ein neuer Schock bevor? Die Konjunkturforscher sagen in tiefer Überzeugung kleinste Wachstumsänderungen voraus, die großen Abstürze sehen sie nie kommen – außer die professionellen Crash-Propheten, die den Zusammenbruch stets vor Augen haben und irgendwann einmal Recht haben. Der Harvard Index of General Business Conditions versagte kläglich bei der Voraussage des Börsencrashs 1929 und der folgenden Weltwirtschaftskrise. In der Bundesrepublik Deutschland gab es zwischen 1966 und 2009 acht Rezessionen, und kein Experte hatte auch nur eine von ihnen kommen sehen. Modernstes Prognosehandwerk erwies sich als untauglich, die große Krise 2007 bis 2009 wenigstens zu erahnen. Die Dame mit den Hüten, Königin Elisabeth II., wunderte sich, weshalb keiner das Desaster kommen gesehen hatte. Britische Ökonomen antworteten Ihrer Majestät, dies sei »ein Versagen der kollektiven Vorstellungskraft vieler kluger Menschen gewesen«. Das ganze Procedere selbstherrlicher Ankündigungen hat mit Wissenschaft nichts zu tun. Es bewegt sich zwischen Scharlatanerie und heiterem Rätselraten.
Zu den klassischen Frühindikatoren zählen Auftragseingänge in der Industrie und Baugenehmigungen im Hochbau. Nicht unlogisch: Die meisten, die eine Baugenehmigung haben, werden in absehbarer Zeit mit dem Bau beginnen. Aus den Schwankungen der Auftragspolster schließen die Konjunkturdeuter auf den Zeitpunkt, da Produktion und Beschäftigung sinken oder steigen werden.
Zu den neueren Frühindikatoren, die durch Befragungen ermittelt werden, gehört der Geschäftsklimaindex des Münchener Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo). Seit 1972 beurteilen laut Handelsblatt monatlich 7000 Unternehmer aus Handel, Bau- und verarbeitendem Gewerbe anhand von zwanzig Fragen ihre Geschäftslage (gut/befriedigend/schlecht) und sagen, was sie für die nächsten sechs Monate erwarten (günstiger/gleich/ungünstiger). Der Saldo der Geschäftslage ist die Differenz der Prozentanteile der Antworten »gut« und »schlecht«; der Saldo der Erwartungen die Differenz der Prozentanteile der Antworten »günstiger« und »ungünstiger«. Das Geschäftsklima ist ein Mittelwert beider Salden. Als Faustregel gilt: Dreht der Index dreimal hintereinander in die gleiche Richtung, ist mit einem Wendepunkt der wirtschaftlichen Entwicklung zu rechnen.
Der ISM-Index des Institute for Supply Management ist der nationale Einkaufsmanager-Index der USA. Das Barometer misst Auftragseingänge, Produktion, Beschäftigung, Lieferfristen und Lagerbestände. Dazu werden Einkaufsleiter von 400 Unternehmen aus zwanzig repräsentativen Industriebereichen der USA befragt. Sie beurteilen ihre momentane und die erwartete Wirtschaftslage (besser/gleich/schlecht).
Der Konsum-Klima-Index misst das »Vertrauen« der Verbraucher. Er wird von Marktforschern der Universität Michigan seit dem Jahr 1969 erhoben. Sie befragen 500 private Haushalte monatlich über ihre aktuelle und voraussehbare Finanzlage. Und schließen daraus auf die Stimmung und das Kaufverhalten der US-Verbraucher. In Deutschland ermittelt die Nürnberger Gesellschaft für Konsumforschung einen Konsum-Klima-Index am Ende eines jeden Monats für den Folgemonat. Sie will von rund 2000 Personen zum Beispiel wissen, ob es sich lohnt, gegenwärtig größere Anschaffungen zu tätigen. Voraussagen gründen sich auf Stimmungen: Man glaubt, wer guter Laune ist, werde konsumieren und investieren. Wer missgelaunt und skeptisch ist, nicht.
Wellen des Wirtschaftswachstums prägen den Kapitalismus seit der ersten industriellen Revolution. Überproduktionskrisen gehören seit 1825 zu ihm wie der Donner zum Blitz. Sie werden irrtümlich von vielen als Finanzkrisen bezeichnet – so auch jüngst von Autoren des neuen deutschland die Weltwirtschaftskrise 1929–1933 (nd, 9./10.2.2019, S.5) –, weil sie meist mit einem Börsenkrach beginnen und von Turbulenzen auf den Finanzmärkten begleitet werden. Die Weltwirtschaftskrise zwischen 1929 und 1933 ging los mit dem Sturz der Aktienkurse an der New Yorker Börse. Als schwarzer Freitag ist der 25. Oktober 1929 in die Börsen- und Krisengeschichte eingegangen. Milliarden Dollar Anlagewerte lösten sich über Nacht in Luft auf. Ein Tag – und der ganze Wertzuwachs eines Jahres war weg. Millionen Anleger verloren ihr Vermögen. Ähnlich die letzte große Krise, die 2008/2009 mit einem Kurssturz begann und als Weltfinanzkrise bezeichnet noch Jahre nachwirkte. Kursstürze waren der Beginn beider Krisen, doch waren sie auch ihre Ursache? Die zeitliche Folge verleitet zu falschen Kausalschlüssen. Wirkung wird gewöhnlich als das zweite von zwei Phänomen betrachtet, die sich stets gemeinsam und in der gleichen Reihenfolge ereignen. Ambrose Bierce, der amerikanische Schriftsteller, scharfsinnig: »Das erste nennt sich Ursache und bewirkt angeblich das zweite – was nicht sinnvoller, als wenn einer, der nie einen Hund anders denn bei der Verfolgung eines Kaninchens gesehen hat, das Kaninchen zur Ursache des Hundes erklärte.« (»Des Teufels Wörterbuch«, übersetzt von Gisbert Haefs, area verlag, 1986) Gegen die Annahme, Vorgänge auf den Finanzmärkten verursachten die wirtschaftliche Rezession, spricht, dass die Börsen trotz ihrer relativen Eigenständigkeit und ihres Einflusses auf die Gütermärkte letztlich von diesen abhängen. Nicht der Börsenkrach bewirkt Überproduktion. Umgekehrt: Die Überproduktion und der Rückgang der Profitabilität zünden das Desaster an den Börsen. Marx beschreibt die Wechselwirkungen zwischen Güter- und Finanzmärkten: »Die Spekulation tritt regelmäßig ein in Perioden, wo die Überproduktion schon in vollem Gange ist. Sie liefert der Überproduktion ihre momentanen Abzugskanäle, während sie eben dadurch das Hereinbrechen der Krise beschleunigt und ihre Wucht vermehrt. Die Krise bricht zuerst aus auf dem Gebiet der Spekulation und bemächtigt sich erst später der Produktion. Nicht die Überproduktion, sondern die Überspekulation, die selbst nur ein Symptom der Überproduktion ist, erscheint daher der oberflächlichen Betrachtung als Ursache der Krise.« (MEGA I/10: 448)
Das Ende der letzten großen Krise liegt zehn Jahre zurück. Man muss nicht bei Nostradamus in die Lehre gegangen sein, um zu wissen, dass der nächste Crash kommen wird. Das kann schon bald, vielleicht dieses oder nächstes Jahr, passieren. Genaueres kann selbst ein marxistischer Ökonom nicht wissen.