Ein Jahr nachdem am 4. März 2018 starke Verluste bei der Parlamentswahl die Demokratische Partei (PD) von Matteo Renzi in eine tiefe Identitätskrise gestürzt und zur Übergabe der italienischen Regierungsverantwortung an die Fünf-Sterne-Bewegung (M5S) und die Lega geführt hatten, gibt es erste Zeichen der Wiederbelebung einer scheintoten Opposition. Am 3. März ließ die PD in einer sogenannten offenen Primärwahl einen neuen Parteisekretär wählen. 1,6 Millionen beliebige Wähler gaben ihre Stimme ab. Es war der letzte Versuch, das Auseinanderbrechen der Partei zu verhindern, denn Renzi und seine Hausmacht wollten sich selbständig machen. Gegen zwei Kandidaten aus dem Renzi-Lager gewann nun haushoch Nicola Zingaretti, der Chef der Region Latium, ein erfahrener linker Pragmatiker und last but not least Bruder von Luca Zingaretti, als Commissario Montalbano einer der beliebtesten Schauspieler Italiens.
Bei schönstem Sonnenschein hatte es am Tag zuvor in Mailand eine Demo von fast 250.000 Rassismusgegnern aus dem ganzen Lande gegeben, die weit größer war, als erwartet, denn Veranstalter waren allein diverse Bürgerbewegungen, die das Weiterbestehen eines »anderen« Italien bezeugen wollten, in dem alle zusammen leben können. Schon einen Monat zuvor hatten am 9. Februar in Rom die drei großen, nach langem wieder vereint auftretenden Gewerkschaften (CGIL, CISL, UIL) gegen die Regierungspolitik und für eine »Zukunft der Arbeit« demonstriert. Matteo Landini, der bisherige Chef der linken Metaller (FIOM), ist neuer Generalsekretär der CGIL. Auch daran knüpfen sich neue Hoffnungen auf wachsenden Widerstand gegen ein Versinken Italiens in faschistoiden Niederungen. Denn der abenteuerliche Regierungspakt zwischen zwei so heterogenen Parteien wie der nationalen Lega und der M5S hat das Land weiter nach rechts gerückt und dem einst hemdsärmeligen Volkstribunen Matteo Salvini ermöglicht, das politische Kräfteverhältnis in der Koalition zu seinen Gunsten umzukehren. Er verkehrt zunehmend in Schlips und Kragen mit den »poteri forti«, den herrschenden Mächten des Landes (Unternehmer, Banken, Kirche), die längst auf Salvinis Lega umgesattelt haben. Als Innenminister »regiert« er das Land per Twitter und mit markigen Sprüchen, hat den Flüchtlingsstrom brutal eingedämmt, räumt die Blech-Slums der Ärmsten mit Baggern und sorgt mit vielerlei Dekreten überhaupt für law and order, was sehr vielen Italienern Angst macht. Aber er findet Zuspruch von all jenen, die auf seine Sündenbock-Propaganda hereinfallen und glauben, ihrem eigenen gefürchteten sozialen Abstieg sowie der massiven Verarmung breiter Schichten durch Abschottung und Autonomiebestrebungen beikommen zu können.
Salvinis Gegenüber, der Arbeitsminister und Fünf-Sterne-Chef Luigi De Maio, gibt meist klein bei, um Macht und Koalition nicht zu riskieren und im Gegenzug seine Wahlversprechen durchsetzen zu können. Er bringt nun unter anderem sein sogenanntes Bürgergeld auf den Weg, das etwa die Hälfte der Arbeitslosen 18 Monate lang unterstützen soll – nur ein magerer Hartz-IV-Verschnitt, für den allerdings die strukturellen Voraussetzungen fehlen. Und zwar nicht nur die Jobcenter mit den Arbeitsvermittlern, die als »navigators« erst noch aus den Arbeitslosen rekrutiert werden müssen, sondern es fehlen vor allem die Arbeitsplätze, für die die Menschen umgeschult werden sollen. Die Wirtschaftsdaten zeigen nichts als anhaltendes Nullwachstum, vor allem im Süden mit den meisten Betroffenen. Dort gibt es 18 Prozent Schulabbrecher, und dort lebt auch ein Großteil der etwa 2,2 Millionen sogenannten NEET (not in education, employment, training) zwischen 15 und 29 Jahren, inzwischen 25 Prozent ihrer Altersgruppe landesweit! Unter den Leuten gibt es wenig substantielle Kritik am Bürgergeld, denn eine Unterstützung für Millionen Arme ist längst überfällig. Dass aber die auf Bancomat-Karten gewährten Gelder die Binnennachfrage wesentlich beleben werden, daran glauben wenige. Di Maio hat es eilig, die ersten Gelder sollen ab Mai fließen, rechtzeitig zur Europawahl. Die Fünf-Sterne-Basis ist inzwischen allerdings mehr als gespalten, und jüngste Regionalwahlen in den Abruzzen und in Sardinien haben Di Maio eine ernüchternde Rechnung für seine politische Gratwanderung präsentiert. Nationale Umfragen lassen M5S heute unter 20 Prozent absinken, und eine weitere Verschlechterung der Wirtschaftslage birgt große Unsicherheiten.
Das rechte Lager steht hingegen auf festeren Füßen, angeführt von Salvinis Lega mit circa 30 Prozent plus Forza Italia und den Ex-Faschisten Fratelli d'Italia. Zusammen liegen sie bei mindestens 40 bis 45 Prozent, rechte Wähler des M5S nicht eingerechnet. Berlusconi drängt Salvini, bald Kasse zu machen und nach der Europawahl im Mai zu Neuwahlen zu schreiten, aber noch bremst die jetzige Koalition. Dass sie über die meisten politischen Programmpunkte uneins ist, zeigt sich exemplarisch an dem gespenstischen Tauziehen um den Bau der seit Jahrzehnten geplanten und heiß umstrittenen neuen Schnellzugtrasse Turin–Lyon (TAV) durch die piemontesischen Alpen (Valle di Susa), zu der nun eine definitive Entscheidung auch auf europäischer Ebene ansteht.
Überhaupt wird es stark von den neuen europäischen Kräfteverhältnissen abhängen, was in Italien in Zukunft passiert. Die von der aktuellen Regierung bisher gezeigte Außenpolitik ist so widersprüchlich wie alles andere: Während Salvini sich inzwischen staatsmännisch für ein rechteres Europa profiliert, geht Di Maio auf größere Distanz zum EU-Mainstream. Die Haltung Italiens zu Russland, zu China, zum Iran, zu Venezuela, zu Huawei und anderen mehr stellt nationale Wirtschaftsinteressen in den Vordergrund, das zeigt sich zum Beispiel an der Offenheit für eine Teilnahme an Chinas Seidenstraßenprojekt und am Zwist mit den USA wegen des italienischen Rückzugs vom Rüstungsprojekt F 35, das auf ein Minimum reduziert werden soll und für das Italien ursprünglich 13,5 Milliarden aufbringen sollte.
Die Rückkehr der PD auf die politische Bühne lässt viele aufatmen und hoffen, eine erneuerte PD könne viele Wähler zurückgewinnen und die M5S beim nächsten Urnengang – also schon in Europa im Mai – überholen. Aber selbst dann bräuchte sie Verbündete für eine andere Politik, und beides ist noch nicht Sicht. Doch eine wiederaufgewärmte »Reform«-Suppe wird die Menschen nicht sattmachen. Nicola Zingaretti steht also vor einer schwierigen Aufgabe:
Zunächst wäre eine inhaltliche Absage an die Renzi-Politik erforderlich, die zum heutigen Zustand des Landes geführt hat, an Wachstumsglauben unter Austeritätsbedingungen in einer globalen Phase überwiegender Stagnation.
Neue Szenarien müssen dann erprobt werden in einer brachliegenden Gesellschaft, ein Perspektivwechsel, der auf eine diffuse und nachhaltige Entwicklung setzt, auf eine Erneuerung aller Infrastrukturen des Landes, anstatt auf unsinnige Großprojekte, sowie auf eine damit verbundene Umverteilung des Vorhandenen, von Arbeit, Einkommen und Vermögen. Finanziert werden könnte das unter anderem durch eine angemessene Besteuerung des Reichtums, wie es schon die Parteiprogramme von Sanders und Corbyn fordern. Eine solche Perspektive könnte auch die Kräfte links von der PD aus ihrer Schockstarre befreien.
Die von Peter Wahl im letzten Ossietzky (5/2019) vorgeschlagene Überwindung der binären Europa-Logik durch eine »differenzielle und flexible Kooperation« ließe sich gut mit einer solchen Entwicklung verbinden.