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Titel620

Wir Schlaraffen  (Harald Kretzschmar)

Welch schönes klangschaffendes Monstrum an Wortgebilde aus dem real existierenden weltweit herrschenden Kapitalimperium: Schlaraffen. All die schlau Raffenden damit mehr wortfest noch als dingfest zu machen, sei mein Begehr. Das einst nur heiß ersehnt schwül erträumte Schlaraffenland, ja, der Überfluss des immanenten Wachstums hat es geschaffen. Der Weg, alles und jedes zu haben, ist das Ziel. So suggerieren es die so fließend überflüssig Superreichen uns immerwährend festgelegt arm Gebliebenen.

 

Jeder Supermarkt eine Kathedrale, in der die geheiligte Konsumsucht Orgien der Anbetung feiert. Wie einst die Dombauer gottgefällig ein Kunstwerk zelebrierten, so markiert die Summe der blechern oder plastik-verpackten Speisemonstren heute kunstwürdigste Spitze. Der über Weltkunst gebietende Direktor des Städel in Frankfurt am Main sagte es: Die Regalwelt der optisch überladenen Warenpracht steche jede Wand mit klassischer Malerei in seinem Museum aus. Und er meinte ernsthaft so etwas wie eine machtvolle ästhetische Faszination. Hochgepriesen wurde Andy Warhol – er hatte es mit der bloßen Multiplizierung einer Fressdose vorgemacht. Und war damit Millionär geworden.

 

Kunst ist Religion – Religion wird Kunst. Das unendlich erscheinende Sortiment, in jeder Stückzahl lieferbar, wird zur nur noch sakral zu erfassenden Hostie. Heilig Abendmahl? Was heißt hier »Abend«? Tag und Nacht muss es lieferbar sein. In Sekundenschnelle über tausende Kilometer herbeizitierbar. Frisch zu jeder Jahreszeit geerntet, tischfertig. Dem körperlich und geistig ruhiggestellten quasi gelähmten Ver- und Gebraucher zu Gefallen. Per Lieferservice durch Billigkräfte oder Teuerdrohnen frei Haus oder Hausboot verfügbar.

 

Die Gewalten sind geteilt vermehrt. Erst addierbar, dann multiplizierbar und schließlich potenzierbar, werden die Ideen der Quantifizierung zur übermächtigen materiellen Gewalt.

 

Judikative wie Legislative begünstigen eine imaginäre Markt-Exekutive, die erst Superlative zu schaffen vermag. Wer spricht da noch von Güte, sprich menschlich naher Zuwendung oder gleichzeitig dinglich guter Ausführung? Der schöne Schein veredelt Verhaltensweisen wie Warenlieferungen. Glänzende Erfolge stellen matte Maßgaben in den Schatten.

 

Alles wächst über sich hinaus. Hunger steigert sich in Fressgier. Durst ruft nach Löschen in Sauflust. Liebeslust muss überschnappen in Sex mit maschineller Mechanik. Das Gehör schreit nach immer lauterer Vereinnahmung durch den Urknall elektronischer Gewalt. Moral wird vom Moralisieren geschleift. Computerisieren missbraucht den Computer. Islam wird vom Islamisieren radikalisiert. Legitime Aufstände ufern aus in maßlose Terroraktionen. Schlaraffen brauchen eben alles im Übermaß.

 

Der Himmel wird von Flugplätzen unendlicher Leistungsfähigkeit aus ununterbrochen beflogen. Drohnen und Helikopter lassen unermessliche Warenmengen aufs Konsumenten-Volk purzeln. Die Meere sind durchkreuzt von Kreuzfahrtschiffen gigantischer Dimension. Menschen in der Größenordnung von ganzen Stadtbevölkerungen werden solcherart auf schwimmendes Palast-Terrain gelockt. Die Gefahr lauert unerkannt in Gestalt terroristischer Gangster im Hinterhalt. Wer kann die Monster vor Torpedo-Angriffen schützen? Der Platz mitten im Weltmeer ist bereits reserviert für die Wasserbestattung der Nichtschwimmer-Opfer. Verziert mit dem Schmuck in Gestalt des bereits vorausgeschickten Plastikmülls aus den Zentren der Zivilisation.

 

Der menschliche Körper und sein davon abhängiger Geist – hält er dieses Verhalten von uns ehrgeizbesessenen Schlaraffen überhaupt aus? Frage nicht danach. Denn du versündigst dich gegen die von der Werbung lautstark und flächendeckend gepredigten Marktgesetze. Denn bedenke, was dir suggestiv eingeredet wird: Der Turmbau zu Babel kann einst nur am inzwischen längst überwundenen technischen Unvermögen gescheitert sein. Wenn es nicht gelingt, das Maximum von Gewinn aus einem Minimum von Aufwand zu schinden, zwingt Marktlogik eben zu unbequemem Durchgreifen. Vorzeigeprojekte dürfen dann Kosten über Kosten verursachen. Unfälle oder Naturkatastrophen oder Epidemien sind extra abzurechnen. Kollateralschadensummen gehen auf Sonderkonto.

 

Schlaraffige Ideale sind unantastbar. Wachstum bleibt weiterhin unumstößliches Gesetz. Alle müssen sehen, über sich selbst hinauszuwachsen – indem sie sich nach der Decke strecken. Wer nach Schlaraffenart leben will, muss sich halt in Allerweltsdimension den Global Players anvertrauen. Was soll daran falsch sein?