Ein starkes Foto ist das. Ein junger Mann besprüht mit schwarzer Farbe eine ACHTUNG!-Tafel an einer Ziegelmauer. Ein Teil der weißen Schrift ist schon unleserlich geworden. Der Mann ist nur von hinten zu sehen; entschlossen seine Haltung, ansteckend seine Ruhe. Es gibt keinen Zweifel: Er tut etwas Verbotenes, aber er weiß, dass er im Recht ist. Die Tafel hängt am Eingang eines Camping-Platzes. »Im Interesse einer ungestörten Urlaubsgestaltung« will sie »Landfahrern« den Zutritt verbieten. Der Mann ist Romani Rose, damals ein unbekannter 33-Jähriger, heute Präsident des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma. Das Foto entstand 1979, als es den Zentralrat noch nicht gab. Es ist Teil der Ausstellung »45 Jahre Bürgerrechtsarbeit deutscher Sinti und Roma«, die am 2. März im Gesprächsraum der Evangelischen Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau eröffnet wurde. Anlass ist der 40. Jahrestag des Hungerstreiks, der damals genau in diesem Raum stattgefunden hat und zu einem der wichtigsten Anschubimpulse der Bürgerrechtsbewegung wurde.
Der Hungerstreik
Zwölf deutsche Sinti, darunter die KZ-Überlebenden Jakob Bamberger, Hans Braun und Franz Wirbel, und die Münchner Sozialarbeiterin Uta Horstmann traten am Karfreitag, dem 4. April 1980, in einen unbefristeten Hungerstreik. Sie forderten, die Ermordung von mehr als 500.000 »Zigeunern« durch das NS-Regime offiziell als Völkermord anzuerkennen und die Akten der »Landfahrerzentrale« herauszugeben, wie die berüchtigte Münchner »Zigeunerpolizei« von 1953 bis zu ihrer Auflösung 1970 beschönigend genannt wurde. Die Aktion fand breiten Widerhall in der nationalen und internationalen Presse und wurde zu einem »Wendepunkt in der öffentlichen Wahrnehmung der Minderheit«, so Erich Schneeberger, der Vorsitzende des bayerischen Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma, der die Ausstellung eröffnete. Beendet wurde der Hungerstreik am 12. April 1980, nachdem der damalige Bundesjustizminister Hans-Jochen Vogel (SPD) die Streikenden in Dachau besucht und ihnen Unterstützung zugesagt hatte.
Die »Landfahrerzentrale« und ihre Akten
Die kurz nach dem Ende der Nazi-Herrschaft wiedergegründete Münchner »Zigeunerpolizei« setzte ab 1953 ihre Tätigkeit unter dem verschleiernden Namen »Landfahrerzentrale« fort. Sie war Teil des Landeskriminalamtes, und ihre Tätigkeit bestand in der Sondererfassung, Schikanierung und lückenlosen Bespitzelung der Sinti und Roma. Als Rechtsgrundlage dafür beschloss der bayerische Landtag die sogenannte Landfahrerordnung, die in wesentlichen Teilen eine Neuauflage des bayerischen »Zigeuner-, Landfahrer- und Arbeitsscheuengesetzes« von 1926 darstellte. »Landfahrer im Sinne dieses Gesetzes« war demnach, »wer aus eingewurzeltem Hang zum Umherziehen oder aus eingewurzelter Abneigung gegen eine Seßhaftmachung mit Fahrzeugen, insbesondere mit Wohnwagen oder Wohnkarren, oder sonst mit beweglicher Habe im Land umherzieht«. Das zynisch als »Ordnung« bezeichnete Gesetz enthielt einen Wust von rassistischen Stereotypen, pauschalen Verdächtigungen, schikanösen Melde- und sonstigen Vorschriften, Verboten und Strafandrohungen sowie Anweisungen an die örtlichen Polizeistellen bezüglich der durchzuführenden Kontrollen und der dabei aufzunehmenden persönlichen Daten inklusive Fotos und Fingerabdrücke. Alle Daten waren dann an das bayerische Landeskriminalamt zu melden. Dort wurde, ähnlich einer Verbrecherdatei, eine umfangreiche Datenbank geführt, die auf den Akten der 1936 nach Berlin verlagerten »Reichszentrale zur Bekämpfung des Zigeunerunwesens« basierte – einem Aktenbestand, der wiederum auf die Datensammelwut des 1899 in München gegründeten »Nachrichtendienstes für die Sicherheitspolizei in Bezug auf Zigeuner« und der während der Weimarer Republik in München ansässigen, aber für alle Länder des Reichs tätigen »Zigeunerpolizei« zurückging. Ergänzt wurde das Material durch rund 20.000 sogenannte Rassegutachten, die während der NS-Zeit von »Wissenschaftlern« der »Rassehygienischen Forschungsstelle« erstellt worden waren und als Grundlage für die Deportationen gedient hatten. All diese Akten wurden noch bis in die 1970er Jahre in Entschädigungsprozessen verwendet, um die Klagen von Sinti und Roma, die den Holocaust überlebt hatten, abzuweisen. Als Gutachter wirkten dabei in vielen Fällen dieselben Leute mit, die wenige Jahre zuvor die Deportationen vorbereitet und organisiert hatten.
Erich Schneeberger bei der Eröffnung der Ausstellung zu dieser verhängnisvollen Kontinuität: »Bereits im Jahre 1946 wurde im Landeskriminalamt in München wieder die ... sogenannte Zigeunerpolizei eingerichtet. In diese Abteilung wurden damalige SS-Täter berufen. So auch Josef Eichberger, der bis 1945 im Reichssicherheitshauptamt eine vergleichbare Rolle wie Adolf Eichmann innehatte und hauptverantwortlich für die gesamten Maßnahmen zur Deportation und Ermordung der Sinti und Roma war. Zusammen mit anderen dort tätigen ehemaligen SS-Angehörigen wirkte die ab 1953 in ›Landfahrerzentrale‹ umbenannte Münchner Polizeiabteilung maßgeblich darauf hin, dass die ›Landfahrerordnung‹ verabschiedet wurde.«
Aufklärung über den Verbleib der Akten dieser Polizeiabteilung forderte also mit dem Hungerstreik die nun entstehende Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma. Denn der Versicherung, die Akten seien 1970 bei der Auflösung der »Landfahrerzentrale« vernichtet worden, schenkten die Bürgerrechtler keinen Glauben, tauchten doch Zitate aus solchen Akten immer wieder in Prozessunterlagen auf. Tatsächlich wurde ein Teil der Akten 1981 bei einer Besetzung des Kellers des Tübinger Universitätsarchivs aufgespürt und ins Bundesarchiv in Koblenz gebracht. Allerdings fehlten dabei die NS-»Rassegutachten«, die bis heute verschwunden sind.
Mit dabei: Uta Horstmann
Auf den Fotos vom Hungerstreik fällt eine Person besonders ins Auge: die einzige Frau unter den Streikenden – und die einzige nicht der Minderheit angehörende Teilnehmerin. Es ist Uta Horstmann, die Münchner Sozialarbeiterin, die die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma von Anfang an begleitet und tatkräftig unterstützt hat. Bei der Veranstaltung am 2. März ist sie auch dabei. Sie spricht über den Schock, den es für sie bedeutete, als sie 1974 mit der Arbeit mit Sinti und Roma begann und feststellte, dass sie über diese Menschen überhaupt nichts wusste. Ein Völkermord hatte stattgefunden, aber der kam in der öffentlichen Wahrnehmung nicht vor. »Wenn ich in die Wohnungen kam, ging ich oft über längere Flure, wo in Rahmen Bilder von Verwandten hingen, die in den Konzentrationslagern geblieben waren.« Romani Rose verdanke sie, dass das Wissen über Geschichte und Gegenwart der Sinti und Roma, das sie im Laufe ihrer beruflichen Tätigkeit erwarb, nicht von »Beratern« mit den üblichen Klischees und Vorurteilen geprägt war. Die Teilnahme am Hungerstreik sei für sie eine Selbstverständlichkeit gewesen, sagt sie. Um nicht mit dem Sozialreferat in Konflikt zu kommen, habe sie dafür Urlaub genommen. Unvergesslich seien ihr die Gespräche mit den ehemaligen KZ-Häftlingen Jakob Bamberger oder Franz Wirbel bei nächtlichen Spaziergängen über die Lagerstraße in der Gedenkstätte.
Uta Horstmann erinnert sich sehr konkret, wie es noch in den 1970er und 1980er Jahren war. Beispielsweise daran, dass die Kinder von Sinti und Roma zu einem hohen Prozentsatz ohne Rücksicht auf ihre Fähigkeiten in die damaligen »Sonderschulen« abgeschoben wurden. Mehr noch: An den Sonderschulen habe es eigene Sonderklassen für sie gegeben. Damit sie nicht mit den Kindern aus der Mehrheitsgesellschaft in Berührung kommen konnten, gab es sogar eigene Pausenzeiten. Der Hungerstreik, so Horstmann, habe viel verändert. Als er begann, seien seine Auswirkungen, auch für die nachfolgende Bürgerrechtsarbeit, die Gründung des Zentralrates 1982 und der vielen Landesverbände, die Stärkung der gesamten politischen Arbeit, die Resonanz im Ausland gar nicht abzusehen gewesen. Vor allem auch die Wirkungen auf das Selbstbewusstsein der Minderheit: »Zum ersten Mal nach dem Krieg haben die Sinti erlebt: Wir können etwas erreichen. Wir sind Staatsbürger dieses Landes und wir haben unsere Rechte.« Im darauffolgenden Winter besetzten an einem Wohnwagenplatz, wo im Winter schreckliche Bedingungen herrschten, die Frauen den Kindergarten. Mit ihren Kindern. Aus eigener Initiative. »Das wäre vorher nicht denkbar gewesen. Dieses Selbstbewusstsein – wir haben Rechte, und wir müssen uns nicht alles gefallen lassen – das ist eigentlich auch eine Folge des Hungerstreiks gewesen.«
Noch jede Menge zu tun
An einem anderen Beispiel führt Uta Horstmann den Zuhörern vor Augen, welche Ungeheuerlichkeiten sich die Mehrheitsgesellschaft gegenüber den Sinti und Roma leistete: Entschädigungsklagen wegen Zwangssterilisierung wurden meist abgewiesen. »Damals urteilten die Gerichte so: Wenn jemand sterilisiert worden ist, dann ist das kein Körperschaden, er bleibt ja arbeitsfähig. Dass das Zwangsmaßnahmen gewesen sind, dass es die Menschen in ihrem ganzen weiteren Leben beeinflusst hat, keine Familie gründen zu können, keine Kinder zu haben, das hat man einfach so vom Tisch gewischt. Auch hier hat der Hungerstreik eine Rolle gespielt und den Betroffenen Kraft gegeben, um ›Wiedergutmachung‹ zu kämpfen.«
Nach ihrer Meinung zu dem Hungerstreik nach 40 Jahren gefragt, antwortet Uta Horstmann nachdenklich: »Er war notwendig, und er hat viel bewirkt. Aber das heißt nicht, es ist schon alles erreicht. Nein – es bleibt noch jede Menge zu tun.«
Was getan wurde, was heute getan wird und was noch getan werden muss – darüber sprachen die weiteren Referenten und zahlreiche Diskutanten aus dem Publikum noch lange an diesem Abend.
Die Ausstellung »45 Jahre Bürgerrechtsarbeit deutscher Sinti und Roma« ist bis zum 27. Mai im Gesprächsraum der Versöhnungskirche auf dem Gelände der KZ-Gedenkstätte Dachau zu sehen. Öffnungszeiten: Mo – Sa 10-16 Uhr, So 12-13 Uhr. Eintritt frei. Derzeit ist die KZ-Gedenkstätte Dachau allerdings geschlossen. Der Ausstellungskatalog ist aber auch erhältlich über www.zentralrat.sintiundroma.de.